Leben

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Christenino

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Der Anruf kam frühmorgens. Acht Uhr mochte es gewesen sein und er war soeben vom Nachtdienst nach Hause gekommen. Als das Telefon fordernd klingelte, wollte er eigentlich nicht abheben, tat es aber letztendlich doch. Am anderen Ende der Leitung war eine Ärztin, die ihm mitteilte, dass sein Vater mit einem Schlaganfall und multiplem Organversagen ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Die Chancen stünden sehr schlecht. Sie sagte ihm noch, wohin er sich wenden müsse, um seinen Vater zu besuchen, aber er meinte nur, er würde nicht kommen. „Nein, nein“, meinte sie beschwichtigend,“ das müssen Sie auch nicht. Ich komme nur meiner Informationspflicht nach.“ Das war’s auch schon gewesen. Er wollte ihn nicht besuchen, da er ein schlechtes Gewissen hatte, denn er hatte ihn in den letzten Jahren nie besucht. Nein, er würde nicht ins Spital fahren.

Er ging zu Bett, schlief traumlos. Nach dem Aufstehen, irgendwann am Nachmittag, eine Tageszeit, die er früher Mal als Lachmittag bezeichnet hatte, machte er sich einen großen Pot Kaffee und entsicherte eine Packung Zigaretten. Das erste Wort, das ihm einfiel, das Erste, das ihm einfiel, ohne nachzudenken, noch vor dem ersten Schluck Kaffee, das Gehirn noch im Dämmerzustand, quasi ohne Zensur, ohne zu bewerten, einzuschätzen, in Erinnerungen zu kramen, weil eben sein Gehirn noch keine Präsenz zeigte, war: Existenzfehler.

Wie etwa Checksum_error bei einem PC. Nach dem Kaffee fiel ihm ein Sommertag von vor 30 Jahren ein.

„Kommst in Hof?“, fragte Paul, damals vor 30 Jahren. Klar, er war dabei. Es war ein sehr heißer Sommertag, die anderen waren schon im Freibad. Sie waren aber zu spät dran. Er, weil er verschlafen hatte und Paul - war Paul, der kam ja immer zu spät. Das war jetzt gut, denn daher musste er nicht alleine die Zeit totschlagen. Sie beschlossen, in den gegenüberliegenden Park zu gehen. Beserlpark. Mit einer schönen Kirche, die sich in der Parkmitte aufbäumte. Der hintere Teil war von einer Einzäunung umgeben, denn es wurde gebaut. Man konnte Kräne, Bagger, Hütten, jede Menge Taubenscheiße und Taubenfedern sehen. In diesen Hütten zogen sich wochentags die Arbeiter um, verstauten ihre Habseligkeiten in Spinden. Das war ihnen bekannt, denn sie waren schon einmal in eine solche Hütte eingebrochen. Ging kinderleicht. Das am Hütteneingang angebrachte Schloss war ein Witz, aber kein Hindernis. Ein Schraubenzieher tat es. Im Inneren war nichts von Bedeutung. Kleidungsstücke und Spinde, von denen sie einen aufbrachen. Der war aber leer gewesen. Die Beleuchtung bestand aus mehreren russischen Beleuchtungen, Glühbirnen, die ohne Einfassung an der Decke baumelten. Aus purer Langeweile kamen sie auf die Idee, eine dieser Birnen abzuschrauben, die Fassung abzunehmen und den Inhalt zu trinken. Ölig. Kollektives Erbrechen. Das versuchten sie nicht mehr wieder.Im Freien waren nur Aufschüttungen zu sehen, ein paar Schaufeln steckten darin, sonst nichts. Fahlland.

Die Sonne beackerte heftig die ganze Stadt und es war, abgesehen davon, wenn man nicht gerade im Bad war, kein Vergnügen im Freien zu sein. Sie verabredeten sich gegen 17 Uhr wieder im Park.

Er war pünktlich, nur Paul fehlte. Also wartete er, fünf Minuten, zehn Minuten. Vom Freund keine Spur. Unschlüssig stand er da. Und was jetzt? Scheiß drauf, ich werde eben alleine in den Park gehen. Er überquerte eine stark befahrene Straße und betrat den Park.

Mit dieser Straße hatte es so seine Bewandtnis. Sie war sehr stark befahren und daher einerseits ein Hindernis, aber viel mehr noch eine Herausforderung. Die darin bestand ohne zu nach links oder rechts zu sehen in einem Zug auf die andere Straßenseite zu laufen. Es war nicht so schwer, wie es den Anschein hatte, denn die Kreuzung, wodurch der Verkehr zum Stillstand genötigt wurde, lag etwa fünfzig Meter vom Startpunkt entfernt. Man konnte also einen schnellen Blick nach links werfen und erkannte, ob die Ampel auf Rot, Orange oder Grün stand. Die Gefahr lauerte nicht links, sondern rechts, da diese Straße zweispurig befahren wurde. Er hatte es als Erster versucht - unter lautem Gejohle der Freunde. Es kam nur darauf an, schnell zu sein. Als er aber die Hälfte problemlos erreicht hatte, sah er aus den Augenwinkeln, das von rechts kommende Auto. Er hielt sofort mitten auf der Fahrbahn an, machte sich so dünn als möglich. Verdünnisieren. Der Wagen brauste haarscharf an ihm vorbei und er spürte, wie dieser seine Hose streifte. Das Auto hielt mit kreischenden Bremsen und der Fahrer riss mit käsebleichem Gesicht die Türe auf, sprang aus seinem Sitz, brüllte ihn an. Und er hatte Angst vor diesem heftig gestikulierendem Hanswurst, der sich dabei so lustig bewegte, als sei er eine Marionette, an der jemand Unsichtbarer die Fäden zog. Hanswurst aber, und das musste sehr ernüchternd gewesen sein, konnte seine zähnefletschende und fäusteballende Wut nicht verwirklichen, musste wieder in sein Gefährt springen und seinen Weg fortsetzen, denn der Verkehr hinter ihm duldete keinen Aufschub. Adrenalin schoss´durch seinen ganzen Körper, ein fantastisches Hochgefühl, das Leben hatte ihn gepackt. Das Leben, es war zwar nicht sehr viel wert und sehr zerbrechlich, aber: Er spürte die alles auslöschende Dringlichkeit, es zu leben.

Den Rest des Weges schaffte er mühelos. Seine Freunde beschieden ihm, ein Wahnsinniger zu sein, aber er, er sonnte sich im Ruhm, denn außer ihm wagte es niemand. Außer Paul. Und der scheiterte, da er geradewegs in ein von Links fahrendes Auto lief. Es hatte für Paul aber keine weitreichenden Folgen. Ein paar Tage im Spital, dann war er wieder im Hof zu finden.
Sein Erlebnis hatte aber ein Nachspiel, denn eine Nachbarin hatte das Ganze miterlebt und sie hatte natürlich nichts Besseres zu tun, als diesen Vorfall brühwarm seinen Eltern mitzuteilen. Grobe Schelte, verlegenes Grinsen, ein paar Tage Hausarrest, den er aber nicht einhielt.

Die Sonne knallte zwar nicht mehr so erbarmungslos auf den Asphalt und die Häuserzeilen, von denen die Hitze ungebremst auf die Menschen geworfen wurde, aber es war nach wie vor noch ziemlich heiß, als er im Park ankam.

Nicht viel los. Die Kirche stand wie üblich und unverrückbar da. Die Einzäunung ebenfalls. Ein paar Parkbänke, auf denen niemand saß. Aber Halt! Was musste er da sehen. Es saß zwar niemand auf einer Bank, aber jemand lag auf einer Bank. Tja, was war zu tun? Dabei schweifte sein Blick über den unebenen Steinboden und da lag sie: eine lange, leicht gebogene, graue Taubenfeder. Eines fügte sich ins andere. Diese Feder aufzuheben und anschließend sich dem Schlafenden behutsam zu nähern, um sie ihm in die Nase zu schieben, oder, wenn schon das nicht gelang, dann zumindest in diesem fremden Gesicht herumzustochern.

Langsam näherte er sich seinem Objekt der Begierde und schon von Weitem nahm seine Nase den aufdringlichen, penetranten Geruch von Alkohol war. Ein Geruch, der ihm auch schon zu Hause widerlich war. Und dieser hier musste ordentlich geladen haben, denn um seinen Geruchssinn war es nicht gerade gut bestellt, war er doch Allergiker. Das bedeutet, dass er Dinge erst dann wahrnehmen konnte, wenn sensiblere Gemüter schon längst das Weite gesucht hatten.

Der sich hier auf der Bank ausgestreckt hatte, hörte überhaupt nichts, nicht seine behutsamen Schritte, kein Knirschen des Kieses, der war regelrecht abgetreten. Also leichtes Spiel für sein Vorhaben. Er war gerade Mal zehn Zentimeter vom Kopf entfernt, brachte die Taubenfeder in Position und begann diese vorsichtig in Richtung Nase zu schieben.

Es kam alles überraschend und geschah blitzschnell. Zu schnell für ihn. Die massige Hand des scheinbar Bewegungslosen schoss nach vor, packte seine schmale Kinderhand, umschloss sie mit festem Griff. Er war unfähig zu schreien, Sprachlosigkeit, völliges Entsetzen. Klar, er versuchte sich loszureißen, aber lächerliches Unterfangen. Er hing fest, wie in einem Schraubstock, keinen Millimeter konnte er sich bewegen. Das Einzige, was ihm einfiel, war, auszurufen.“ Nein, nein, ich tu’s ja nicht. Bitte.“ Dazu kam, dass der Park menschenleer war, keine Hilfe in Sicht. Er konnte das Folgende nur über sich ergehen lassen, sich fügen. Der andere schlug die Augen auf, wandte ihm seinen Kopf zu. Dieser war merkwürdig rot und, als er genauer hinsah, stellte er fest, dass die Adern ziemlich feist vom Kopf wegführten, sie waren derart angeschwollen, dass er meinte, sie würden im nächsten Moment platzen und sich durch den Park in Richtung Straße schlängeln.

Der Mann, der so unerbittlich seine Hand umklammerte, mochte zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt sein, und er atmete seltsam stoßweise. Er schlug die Augen auf, große weiße Augen, ein paar stark leuchtende Adern. Mühsam brachte er die folgenden Worte heraus, und dabei hielt er die Hand des Jungen weiterhin eisern fest:“ Bub, Du musst mir helfen...“ Speichel ergoss sich aus seinem Mund,“ geht mir schlecht...,“ er verdreht die Augen, sodass fast nur noch das Weiße zu sehen war,“ lauf zur Telefonzelle und ruf die Rettung.“ Vor Erschöpfung schloss er wieder die Augen. Panik. Was sollte er tun, denn er konnte sich nach wie vor nicht bewegen, losreißen. „Ich,“ sagte er,“ ich kann nicht, weil ich hab kein Geld zum Telefonieren.“ Der Mann zeigte ein müdes, halbfertiges Lächeln.

„He, was ist denn hier los?“ Er streckte seinen Kopf so gut es ging nach hinten, denn seine Hand war immer noch gefangen, und sah hinter ihm eine Frau stehen. „Nichts,“ antwortete er,“ dem Herrn geht’s schlecht. Bitte rufen Sie die Rettung.“ Sie nahm eine Nase voll und meinte nur:“ Gut, aber widerlich. Wie kann man nur so besoffen sein.“ Dann ging sie schnellen Schritts zur Telefonzelle. Er sah ihr noch nach, sah, wie sie den Hörer in die Hand nahm und die Wählscheibe betätigte.

Plötzlich begann sich der Druck auf seiner Hand zu verstärken, und er sah wieder in Richtung des Fremden. Sein Gesichtsfarbe hatte sich von Rot auf Weiß verändert. „Sag Bub,“ stammelte er,“ was ist hinter dem Zaun?“ Ratlosigkeit, Entsetzen, denn was sollte er bloß sagen?

Damals als Großvater gestorben war. Und es war schön gewesen. Die Feierlichkeiten. Alle so schön angezogen, zwar mit ernstem Blick, aber fast jeder, außer ihm, trug eine Krawatte. Nach dem der Sarg nach unten gehievt wurde, der Geistliche den Verschiedenen mit salbungsvollen Worten verabschiedete, was übrigens gelogen war, denn Großvaters Beruf war Trinker, kehrten sie in einem Gasthaus ein. Es wurde gegessen, getrunken und später, sein Vater hatte einiges intus, war er überrascht gewesen, als er seinen Vater weinen sah. Es überraschte ihn deswegen, denn zu Lebzeiten seines Großvaters, ließ Vater kein gutes Haar an ihm.

Was sollte er nur sagen? Er wollte es mit der Wirklichkeit probieren. „Da,“ flüsterte er und beugte sich zum Fremden, nahm dabei den Gestank und Schweiß in Kauf ,“ da ist nichts.“ Ungläubiges Staunen im Gesicht des Anderen.“ Nichts?“ Das „i“ zog er dabei endlos in die Länge, wie „Niiiichts.“ „Nein, absolut nichts,“ sagte der Junge,“ ein paar Erdhaufen, Taubenscheiße und Taubenfedern, Hütten, Erdhügeln und ein paar Schaufeln.“ Das Gesicht des Fremden verzerrte sich, in seinen Augen war nur noch das Weiße zu sehen, der Druck seiner massigen Hand ließ nach, was er dazu benutzte, um sich endlich loszureißen.

„Weg, weg, aber schnell,“ rief eine Stimme, und noch ehe er reagieren konnte wurde er auch schon zur Seite gestoßen. Ein Mann mit rotem Gewand kniete vor der Bank, griff die Hand des Leblosen, legte seine Ohren auf seine Brust und rief dabei:“ Schnell, schnell!“

Als er sich umwandte, sah er Blaulicht, einen Rettungswagen, die Frau, die vorhin da war, und die Rettung alarmierte. Sie stand mit weit geöffnetem Mund da. Der Mann im roten Gewand stand langsam auf, resignierend, meinte zu seinen Kollegen:“ Zu spät.“ Dann zum Jungen:“ Hast nicht viel mehr tun können. Der ist hinüber. Na, wenigstens hat er Dich als Letzten gesehn. Kennst ihn?“ Er verneinte. Zu seinen Kollegen meinte er nur:“ Weißt eh, alter Bekannter, das Letzte Mal hab ich ihm eh gesagt, dass, wenn er so weiter sauft, er nicht alt werden wird.“

Der Junge wurde an der Schulter angetippt. Er dreht sich um, hinter ihm sah er die blonde Mähne von Paul. „Was los?“
„Tot“.

Paul sah interessiert auf die Szenerie, sagte aber nichts, außer:“ Gemma.“

Und sie gingen.

Paul:“ Morgen?“
Klar, morgen.
 

Val Sidal

Mitglied
Christenino,

ich bin mir sicher, dass Du mindestens eine der hintereinander geschalteten Dramen aus der Nähe beobachtet hast. Daher das Bedürfnis, darüber zu sprechen. Das ist in Ordnung.

Aber dein Text will viel -- zu viel; dadurch kommt beim Leser zu wenig an.

Auch sprachlich und stilistisch müsste der Text sehr stark überarbeitet werden -- wegen solcher Passagen:

Nicht viel los. Die Kirche stand wie üblich und unverrückbar da. Die Einzäunung ebenfalls. Ein paar Parkbänke, auf denen niemand saß. Aber Halt! Was musste er da sehen. Es saß zwar niemand auf einer Bank, aber jemand lag auf einer Bank. Tja, was war zu tun?
Würde Dir empfehlen, die Perspektive des Erzählers zu fokussieren und Dir sehr klar und scharf die Fragen beantworten: "Was will ich zeigen?", "Was soll der Leser mitnehmen?"

Der Leser kennt alle Dramen, die du aufführst -- sie nochmal so zu zeigen, ist nur etwas für Voyeure.
 



 
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