Leben und leben lassen

3,70 Stern(e) 3 Bewertungen

Nosie

Mitglied
Sie wusste nicht, wie sie hierher gekommen war, nur, dass sie anders war. Nicht äußerlich, jetzt noch nicht, das würde erst kommen. Aber das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, hatte sie von Anfang an. Als sie vor Tagen aus ihrem Schlaf erwacht war, verwirrt und sich kaum ihrer selbst bewusst, streckten sich ihre bis dahin eng eingerollten Glieder unwillkürlich ein wenig und im selben Moment zerriss ihre Schutzhülle. Dem Schreck folgte eine Wärme, die neu für sie war und sie nicht mehr verließ, ebensowenig wie das Wissen, das sie endlich zu wachsen begonnen hatte.

Auf taunasse Nächte folgten friedliche Tage voll Wohlsein und sie genoss das Geschenk, das regelmäßig aus der gleichen Richtung kam, über sie hinwegzog und dem man sich zuneigen und hingeben konnte. Ermattet von den stundenlangen Lichtbädern war sie dankbar für die Kühle, die ebenso regelmäßig folgte und ihr Schlaf und Erfrischung brachte.

Sie merkte, dass sie größer wurde, aber auch, dass sie nicht allein war und das machte sie zornig. Das Gewisper und Gesumme um sie her den ganzen Tag und das Rascheln in der Dunkelheit konnte sie nicht hören und selbst wenn sie Augen gehabt hätte, wäre sie blind gewesen für die Schönheit rings um sie und hätte nicht erkannt, dass sie ein Teil davon war.
Manchmal streifte sie etwas, und das machte ihr Angst. Sie fühlte, wie die wohltuenden Strahlen nur mehr ihren Kopf erreichten und nicht mehr bis zu ihren Füßen vordrangen und wie der Morgentau, der den Boden durchtränkte und den sie begierig aufsog, nicht von ihr allein begehrt wurde und es von Tag zu Tag mehr Mühe kostete, genug davon zu bekommen.

Hilfe, ich muß größer werden, schneller als die anderen wachsen, sonst bin ich verloren. Dieses Gefühl verschwand nicht mehr und trieb sie zu äußerster Kraftanstrengung. Sie blähte sich, dass die Adern in ihrem Inneren anschwollen, sie streckte ihre geflügelten Arme weit in den Himmel, bewaffnete sich mit Stacheln und drang tief in die Erde und weiter hinab in die Spalten des Felsens, dorthin, wo ihr das Wasser allein gehörte.

Es half, ihre Angst zu bezwingen. Mit jedem Tag nahm ihre Kraft zu, aber auch ihre Schönheit. Sie wuchs so rasch, dass sie bald alles um sich überragte. Nichts berührte sie mehr, weder innerlich noch äußerlich, ausser der Wind, dieser zärtliche Freund, und manchmal kleine Insekten, die ihr willkommen waren und sie sanft kitzelten. Was sie brauchte, machte ihr niemand mehr streitig, sie war unverwundbar.

Doch es gab Tage, da blieb das Geschenk aus oder verschwand plötzlich, bevor es seine Bahn beendet hatte und Wasser stürzte statt seiner herab. Dann fror sie und ihre Angst kam zurück, aber nie für lange und sie konnte sich auch kaum mehr daran erinnern, das letzte Mal war ewig her. Und einmal war der Wind so zornig geworden, dass er Steine schleuderte. Sie prasselten auf die Erde und sprangen an ihr hoch und ritzten ihre Haut, dass sie blutete. Aber wie durch ein Wunder war sie nicht ernsthaft verletzt, nur ihre Füße konnte sie lange nicht spüren, aber auch das ging vorüber und das Geschenk schloss Frieden mit dem Wind und leckte versöhnt die Steine auf.

Nur selten kam ein Mensch in diese verlassene Gegend hoch über dem Rest der Welt, doch an diesem Tag ging ein einsamer Wanderer mit seinem Esel den steinigen Pfad entlang, beide erschöpft und durstig von der Anstrengung des Aufstiegs. Als sie näher kamen, bot sich ihnen ein erstaunliches Bild. Inmitten der in der Hitze dieses Sommers dürr gewordenen Landschaft, ein Stück weit von der Hütte entfernt, die halb verfallen und vergessen am Felsen lehnte und den Herannahenden verkündete, dass sie angekommen waren, wuchs bizarr in den Himmel ragend und so grün, saftig und blütenübersäht, wie man es hier oben noch nie gesehen hatte, eine Distel.

Scheint doch ein guter Platz zu sein, dachte der Wanderer bei deren Anblick, schlug dem Esel mit der flachen Hand auf das Hinterteil und ließ sich auf dem Stein vor der Hütte nieder, um sein Abendmahl zu verzehren. Auf den Speck, den ihm seine gute Frau zur Wegzehrung mitgegeben hatte und den er nun zusammen mit einer dicken Scheibe Brot aus den Tiefen seines Rucksacks hervorholte, hatte er sich schon den ganzen Tag gefreut und mit Genuss begann er zu essen. Hin und wider griff er, ohne mit dem Kauen aufzuhören, in die Brusttasche seiner Jacke, nahm einen kräftigen Schluck aus der Feldflasche und sein genüssliches „Aaah“ verriet, dass es sich bei dem Inhalt nicht um Wasser handeln konnte.

Als er satt war und sich den Mund am Ärmel seiner Jacke abwischte, kam auch der Esel zurückgetrabt und sein Besitzer schmunzelte zufrieden. Das Tier begann, die vor Fett glänzenden, salzigen Finger des Mannes zu lecken, der erwiderte die Zuneigung und kraulte ihm den Schädel. „Na, mein Alter, auch satt geworden?““ fragte er, zupfte an dem violetten Blütenkopf, der in der kurzen, borstigen Mähne zwischen den Ohren hängen geblieben war und steckte ihn seinem Gefährten zum Nachtisch ins Maul.
 

Amarinya

Mitglied
Interessanter Plot! Es wird relativ klar, dass es sich um eine Pflanze oder oder ein Insekt handeln muss, dass da in der Ich-Form schreibt. Aber das schadet der Geschichte nicht, denn ich habe den Eindruck, dass Du es nicht auf eine solche Überraschung angelegt hast.

Die Beschreibung des "Seelenlebens" der Distel ist Dir jedenfalls gut gelungen, finde ich! Du kannst Dich gut in die Distel reinfühlen (soweit man das überhaupt beurteilen kann ;-) ). Gefällt mir! Ich habe sowas bisher selten (oder nie) irgendwo gelesen.

Insgesamt eine kurzweilige und gut formulierte Geschichte!

Nur am Rande:
Vielleicht ist dieser Satz ein bisschen lang geworden?
Sie fühlte, wie die wohltuenden Strahlen nur mehr ihren Kopf erreichten und nicht mehr bis zu ihren Füßen vordrangen und wie der Morgentau, der den Boden durchtränkte und den sie begierig aufsog, nicht von ihr allein begehrt wurde und es von Tag zu Tag mehr Mühe kostete, genug davon zu bekommen.
:
 

Nosie

Mitglied
Danke Amarinya, für deinen Beitrag. Bei der Distel hatte ich eine Eselsdistel vor Augen, die tatsächlich sehr bizarr und kaktus-ähnlich aussieht und geflügelte Triebe hat. Die Assoziation zu Insekt war nicht beabsichtigt, finde ich aber im Nachhinein - so wie du sagst - auch nicht störend. Vielleicht werde ich da noch Klarheit schaffen, indem ich sie das Wasser aus den Felsspalten mit "Wurzeln" holen lasse.
Meine Neigung zu sehr langen verschachtelten Sätzen ist mir bewusst, aber sie kommen einfach so daher. Ich setze oft beim Korrekturlesen noch Punkte, wo sie selbst mir zu lang wurden. Ansonsten mag ich auch bei fremden Texten gern solche Satz-Pirouetten.
 



 
Oben Unten