Lebensgesuch

Es besteht bekanntlich aus zahllosen Versuchen und Irrtümern. Mein Leben leider auch. Und da sich in den letzten Wochen die Irrtümer häuften, wollte ich schon auf weitere Versuche verzichten. Selbstkritisch und empfindsam wie ich sein kann, habe ich eine Neigung, mich von Ängsten anderer Leute anstecken zu lassen. Und manchmal weiß ich nicht, ob ich meine oder die Angst eines Anderen spüre.

Es dauerte lange, bis Gernots Sarg aus Dänemark überführt wurde. Und außer dem Bruder seiner verstorbenen Frau und dessen Frau kam niemand zur Beerdigung.
Jener Schwager rief mich vor fünf Wochen an. Man habe in Gernots Gepäck ein paar Gedichte und Geschichten von mir gefunden. Und da meine Anschrift und Telefonnummer auf den Texten ständen, wolle er mir nur sagen, sein Schwager sei während des Urlaubs in Dänemark plötzlich verstorben. Der Arzt habe Herzversagen als Todesursache festgestellt. Den Zeitpunkt der Beerdigung werde er mir selbstverständlich noch rechtzeitig mitteilen.
Ausgerechnet am ersten Dienstag in diesem Monat wurde er beerdigt.

Als Gernot Kruse sich zum ersten Mal bemühte, mich anzublicken, sah er mit dem schärfsten seiner Blicke haarscharf über mich hinweg. Und seitdem war ich mir sicher er könne nicht lieben. Wollte er jemanden wirklich lieben, musste er ihn sich doch wenigstens genau ansehen.
Im Gegensatz zu den anderen Mitgliedern der Literaturgruppe kam er immer wieder. Eben jeden ersten Dienstag im Monat. Und wenn er überhaupt etwas liebte, dann seine Sprüche, die er zumeist mit einem um Überzeugung bemühten Predigerton von sich gab.

Mit acht Hobbyautoren - wir fanden uns über eine Zeitungsanzeige, die Gernot einst aufgab - gründeten wir vor gut acht Jahren eine Literaturgruppe, trafen uns abwechselnd in unseren jeweiligen Wohnungen und lasen uns gegenseitig selbst geschriebene Gedichte und Geschichten vor. Nur Gernot lud uns nie zu sich ein und brachte nie einen Text mit. Trotzdem nahm er für sich in Anspruch, die Texte von uns Anderen heftigst zu kritisieren. Allein meine Lyrik und Kurzprosa verschonte er, ja, gelegentlich versuchte er sogar, sie zu loben, besonders dann, wenn deren Protagonisten ungeliebte Kinder, aber auch erwachsenen Männern und Frauen waren.
Schließlich kamen die übrigen Literaten immer seltener zu den Treffen und ihre Kreativität erschöpfte sich bald nur noch darin, glaubwürdige Ausreden für ihr Fernbleiben zu erfinden.

Über ein Jahr lang traf ich mich mit Gernot allein. Texte las ich ihm keine mehr vor. Vielmehr verloren wir uns in philosophischen Diskussionen und in solchen, die ich dafür hielt.
Da wir beide über sechzig waren, drehten sich unsere Gespräche deswegen bald nur noch um Krankheit und Tod.
Bei unserem letzten Treffen im April begann Gernot Kruse plötzlich von seiner Angst vor dem Sterben zu reden. „Stell dir vor, du bist allein und plötzlich merkst du, dass es soweit ist! Und dann liegst du hilflos im Bett und kannst nicht einmal mehr jemanden anrufen…“
An diesem Abend lud Gernot mich erstmals ein, zum nächsten Treffen am ersten Dienstag im Mai in seine Wohnung zu kommen. Dort lebte er mit seiner Frau Ingrid schon, bevor sie vor neunzehn Jahren im Alter von 43 starb. Leukämie. Sehr schnell, zu schnell sei es mit ihr bergab gegangen, erzählte Gernot, und sein Ton blieb noch sachlicher als ich es von ihm gewohnt war.

Als ich an seiner Wohnungstür in einem vielstöckigen Hochhaus klingelte, blickte er zunächst vorsichtig um die nur spaltweit geöffnete Tür, taxierte mich misstrauisch, lächelte verlegen und ließ mich hinein. Richtig willkommen fühlte ich mich nicht. Schweigend führte mich ins Wohnzimmer. Die Fenstervorhänge aus dichtem braunem Tuch ließen kaum Licht herein. Und die Holzteile aller Möbel und der Fußboden, dunkelbraun und matt gelackt, schienen das wenige Licht auch noch zu schlucken.
Gernot schaltete eine trübe Deckenleuchte ein, wies mir mit der Hand einen Platz auf dem Sofa zu und begann ohne Gruß. „Willst du Wahrheiten aussprechen, musst du tief Luft holen“. Er holte Luft. „Wären wir nicht sterblich, hätten wir kein Interesse an Wahrheiten. Wir wollen dem Leben das Geheimnis entlocken, das dem Leben Leben gibt.“ Mehr oder weniger ähnliche Sätze hörte ich von ihm seit Monaten. Und ich erwiderte: „Ich meine, das Leben besteht aus Versuchen und Irrtümern.“
Gernot holte schon wieder Luft. „Mit dem Tod kannste nicht experimentieren. Tod ist tot. Dem können wir uns nur im Jenseits mit ewigem Leben widersetzen, sollten wir jemals dort ankommen.“
Manchmal, wenn mich die Angst anderer Leute packte, glaubte ich, es sei leichter, nicht mehr leben zu müssen. Auch jetzt dachte ich so.
„Eigentlich sind wir doch gute alte Freunde“, begann Gernot plötzlich und bekam feuchte Augen. Unwillkürlich nickte ich, verschränkte zugleich abwehrend beide Arme vor der Brust und lehnte mich auf Gernots Sofa weit zurück, während er aus seinem Sessel aufstand und sich neben mich setzte.
„Meine Frau ist damals nicht an der Krankheit gestorben“, murmelte er vor sich hin. „Dabei tat ich alles, um ihr meine Liebe zu zeigen. Verwöhnt habe ich sie, ihr an jedem Wochenende Blumen mitgebracht. Sie hat sich nie wirklich darüber gefreut.“ Mit einem Ruck stand er auf, winkte mir, ihm zu folgen, blieb im schmalen Flur vor der angelehnten Schlafzimmertür stehen und stieß sie plötzlich auf, als wollte er jemanden im Zimmer überraschen.
Eine Seite des breiten Doppelbettes wirkte besonders sorgfältig gemacht. Auf der anderen Seite war das Deckbett hoch geschlagen und ein beiges, hellbraun längsgestreiftes Nachthemd lag hingeworfen auf dem zerwühlten Laken.
„Als Ingrid ins Krankenhaus musste, hatte sie keine Zeit mehr, das Bett zu machen. Ich staub das hier mindestens einmal die Woche ab und lege alles wieder so hin“. Gernot lächelte verlegen. „Ingrid war eine sehr Ordentliche, machte nach dem Aufstehen und nachdem sie im Bad war, immer sofort das Bett.“
Auf dem Stuhl neben Ingrids Bett hing ein verblasster hellblauer Rock und ein ausgeblichener fliederfarbener BH.
„Setz dich bitte!“ bat Gernot und zeigte auf Ingrids Bett. „Bitte!“
„Aber ich kann doch nicht…!“
„Doch, du kannst ruhig…!“
Ich wollte das Nachthemd wegnehmen.
„Lass es liegen!“ fuhr Gernot mich an.
Vorsichtig setzte ich mich neben das beige Nachthemd.
Gernot räusperte sich. „Wäre wir unsterblich, hätten wir kein Interesse an Wahrheiten.“ Ich schüttelte vorsichtig den Kopf und holte Luft. „Ich weiß nicht. Ich denke, das Leben besteht immer aus Versuchen und Irrtümern.“
„Warum sollen Tote Interesse an Wahrheiten über das Leben haben? Ich glaube eher, dass manche Erkenntnisse töten können.“
Wie er das meine, wollte ich wissen.
Er lächelte. „Du sitzt doch auf dem Bett einer Toten.“
Ich nickte bedächtig, sah ihn an und fror plötzlich.
Gernot schlug auf seiner Seite des Bettes das Plumeau zurück, setzte sich, rutsche zu mir herüber und legte seinen rechten Arm um meine Schulter. Behutsam schob ich den Arm zurück, stand auf, verließ das Schlafzimmer und nahm im Wohnzimmer wieder auf dem Sofa Platz.
Es dauerte, bis Gernot nachkam. Er setzte sich in seinen Sessel, schüttelte bedächtig den Kopf, sah dabei vor sich auf seine Knie und schwieg.
Sein Schweigen war unerträglich. Hastig erhob ich mich und wollte gehen. Gernot hielt mich fest. Am übernächsten Tag wolle er für drei Wochen in Urlaub an die dänische Nordsee fahren. Dort sei er mit Ingrid immer hingefahren. Ob ich in der Zeit seine Blumen gießen und den Briefkasten leeren könne. Ohne mich anzusehen, drückte er mir die Wohnungsschlüssel in die Hand.
Ich brauchte über eine Woche, bis ich in seine Wohnung gehen konnte. Zuvor leerte ich seinen Briefkasten. Ein paar Werbeprospekte. Ich klingelte an der Wohnungstür, wartete, klingelte noch einmal, öffnete sie vorsichtig, fürchtete, er könnte nicht abgereist sein, betrat geräuschvoll den Flur und danach das Wohnzimmer. Die braunen Vorhänge waren zugezogen. Da auch im Schlafzimmer ein paar Grünpflanzen auf dem Fensterbrett standen, ging ich in die Küche, holte die Gießkanne und schlich, aus ungewollter Angst, jemanden wecken zu können, auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer.
Ingrids Bett war gemacht.
Gernots Bett nicht. Auf seinem zerknitterten Kopfkissen lag ein weißer Zettel. Es stand in großen steilen Buchstaben darauf. „Bald werde ich es wissen.“
Zögernd drehte ich den Zettel um und las die drei in krakeliger kleiner Schrift geschriebene Worte: „Ich liebe dich!“ Den Kugelschreiber, mit dem es schrieb, fand ich unter dem Kopfkissen.
Ohne zu überlegen schrieb ich unter seine Liebeserklärung: „Ich dich auch!“, zerriss den Zettel und legte ihn unter Ingrids Plumeau.
 
Es besteht bekanntlich aus zahllosen Versuchen und Irrtümern. Mein Leben leider auch. Und da sich in den letzten Wochen die Irrtümer häuften, wollte ich schon auf weitere Versuche verzichten. Selbstkritisch und empfindsam wie ich sein kann, habe ich eine Neigung, mich von Ängsten anderer Leute anstecken zu lassen. Und manchmal weiß ich nicht, ob ich meine oder die Angst eines Anderen spüre.

Es dauerte lange, bis Gernots Sarg aus Dänemark überführt wurde. Und außer dem Bruder seiner verstorbenen Frau und dessen Frau kam niemand zur Beerdigung.
Jener Schwager rief mich vor fünf Wochen an. Man habe in Gernots Gepäck ein paar Gedichte und Geschichten von mir gefunden. Und da meine Anschrift und Telefonnummer auf den Texten ständen, wolle er mir nur sagen, sein Schwager sei während des Urlaubs in Dänemark plötzlich verstorben. Der Arzt habe Herzversagen als Todesursache festgestellt. Den Zeitpunkt der Beerdigung werde er mir selbstverständlich noch rechtzeitig mitteilen.
Ausgerechnet am ersten Dienstag in diesem Monat wurde er beerdigt.

Als Gernot Kruse sich zum ersten Mal bemühte, mich anzublicken, sah er mit dem schärfsten seiner Blicke haarscharf über mich hinweg. Und seitdem war ich mir sicher er könne nicht lieben. Wollte er jemanden wirklich lieben, musste er ihn sich doch wenigstens genau ansehen.
Im Gegensatz zu den anderen Mitgliedern der Literaturgruppe kam er immer wieder. Eben jeden ersten Dienstag im Monat. Und wenn er überhaupt etwas liebte, dann seine Sprüche, die er zumeist mit einem um Überzeugung bemühten Predigerton von sich gab.

Mit acht Hobbyautoren - wir fanden uns über eine Zeitungsanzeige, die Gernot einst aufgab - gründeten wir vor gut acht Jahren eine Literaturgruppe, trafen uns abwechselnd in unseren jeweiligen Wohnungen und lasen uns gegenseitig selbst geschriebene Gedichte und Geschichten vor. Nur Gernot lud uns nie zu sich ein und brachte nie einen Text mit. Trotzdem nahm er für sich in Anspruch, die Texte von uns Anderen heftigst zu kritisieren. Allein meine Lyrik und Kurzprosa verschonte er, ja, gelegentlich versuchte er sogar, sie zu loben, besonders dann, wenn deren Protagonisten ungeliebte Kinder, aber auch erwachsene Männer und Frauen waren.
Schließlich kamen die übrigen Literaten immer seltener zu den Treffen und ihre Kreativität erschöpfte sich bald nur noch darin, glaubwürdige Ausreden für ihr Fernbleiben zu erfinden.

Über ein Jahr lang traf ich mich mit Gernot allein. Texte las ich ihm keine mehr vor. Vielmehr verloren wir uns in philosophischen Diskussionen und in solchen, die ich dafür hielt.
Da wir beide über sechzig waren, drehten sich unsere Gespräche deswegen bald nur noch um Krankheit und Tod.
Bei unserem letzten Treffen im April begann Gernot Kruse plötzlich von seiner Angst vor dem Sterben zu reden. „Stell dir vor, du bist allein und plötzlich merkst du, dass es soweit ist! Und dann liegst du hilflos im Bett und kannst nicht einmal mehr jemanden anrufen…“
An diesem Abend lud Gernot mich erstmals ein, zum nächsten Treffen am ersten Dienstag im Mai in seine Wohnung zu kommen. Dort lebte er mit seiner Frau Ingrid schon, bevor sie vor neunzehn Jahren im Alter von 43 starb. Leukämie. Sehr schnell, zu schnell sei es mit ihr bergab gegangen, erzählte Gernot, und sein Ton blieb noch sachlicher als ich es von ihm gewohnt war.

Als ich an seiner Wohnungstür in einem vielstöckigen Hochhaus klingelte, blickte er zunächst vorsichtig um die nur spaltweit geöffnete Tür, taxierte mich misstrauisch, lächelte verlegen und ließ mich hinein. Richtig willkommen fühlte ich mich nicht. Schweigend führte er mich ins Wohnzimmer. Die Fenstervorhänge aus dichtem braunem Tuch ließen kaum Licht herein. Und die Holzteile aller Möbel und der Fußboden, dunkelbraun und matt gelackt, schienen das wenige Licht auch noch zu schlucken.
Gernot schaltete eine trübe Deckenleuchte ein, wies mir mit der Hand einen Platz auf dem Sofa zu und begann ohne Gruß. „Willst du Wahrheiten aussprechen, musst du tief Luft holen“. Er holte Luft. „Wären wir nicht sterblich, hätten wir kein Interesse an Wahrheiten. Wir wollen dem Leben das Geheimnis entlocken, das dem Leben Leben gibt.“ Mehr oder weniger ähnliche Sätze hörte ich von ihm seit Monaten. Und ich erwiderte: „Ich meine, das Leben besteht aus Versuchen und Irrtümern.“
Gernot holte schon wieder Luft. „Mit dem Tod kannste nicht experimentieren. Tod ist tot. Dem können wir uns nur im Jenseits mit ewigem Leben widersetzen, sollten wir jemals dort ankommen.“
Manchmal, wenn mich die Angst anderer Leute packte, glaubte ich, es sei leichter, nicht mehr leben zu müssen. Auch jetzt dachte ich so.
„Eigentlich sind wir doch gute alte Freunde“, begann Gernot plötzlich und bekam feuchte Augen. Unwillkürlich nickte ich, verschränkte zugleich abwehrend beide Arme vor der Brust und lehnte mich auf Gernots Sofa weit zurück, während er aus seinem Sessel aufstand und sich neben mich setzte.
„Meine Frau ist damals nicht an der Krankheit gestorben“, murmelte er vor sich hin. „Dabei tat ich alles, um ihr meine Liebe zu zeigen. Verwöhnt habe ich sie, ihr an jedem Wochenende Blumen mitgebracht. Sie hat sich nie wirklich darüber gefreut.“ Mit einem Ruck stand er auf, winkte mir, ihm zu folgen, blieb im schmalen Flur vor der angelehnten Schlafzimmertür stehen und stieß sie plötzlich auf, als wollte er jemanden im Zimmer überraschen.
Eine Seite des breiten Doppelbettes wirkte besonders sorgfältig gemacht. Auf der anderen Seite war das Deckbett hoch geschlagen und ein beiges, hellbraun längsgestreiftes Nachthemd lag hingeworfen auf dem zerwühlten Laken.
„Als Ingrid ins Krankenhaus musste, hatte sie keine Zeit mehr, das Bett zu machen. Ich staub das hier mindestens einmal die Woche ab und lege alles wieder so hin“. Gernot lächelte verlegen. „Ingrid war eine sehr Ordentliche, machte nach dem Aufstehen und nachdem sie im Bad war, immer sofort das Bett.“
Auf dem Stuhl neben Ingrids Bett hing ein verblasster hellblauer Rock und ein ausgeblichener fliederfarbener BH.
„Setz dich bitte!“ bat Gernot und zeigte auf Ingrids Bett. „Bitte!“
„Aber ich kann doch nicht…!“
„Doch, du kannst ruhig…!“
Ich wollte das Nachthemd wegnehmen.
„Lass es liegen!“ fuhr Gernot mich an.
Vorsichtig setzte ich mich neben das beige Nachthemd.
Gernot räusperte sich. „Wären wir unsterblich, hätten wir kein Interesse an Wahrheiten.“ Ich schüttelte vorsichtig den Kopf und holte Luft. „Ich weiß nicht. Ich denke, das Leben besteht immer aus Versuchen und Irrtümern.“
„Warum sollen Tote Interesse an Wahrheiten über das Leben haben? Ich glaube eher, dass manche Erkenntnisse töten können.“
Wie er das meine, wollte ich wissen.
Er lächelte. „Du sitzt doch auf dem Bett einer Toten.“
Ich nickte bedächtig, sah ihn an und fror plötzlich.
Gernot schlug auf seiner Seite des Bettes das Plumeau zurück, setzte sich, rutsche zu mir herüber und legte seinen rechten Arm um meine Schulter. Behutsam schob ich den Arm zurück, stand auf, verließ das Schlafzimmer und nahm im Wohnzimmer wieder auf dem Sofa Platz.
Es dauerte, bis Gernot nachkam. Er setzte sich in seinen Sessel, schüttelte bedächtig den Kopf, sah dabei vor sich auf seine Knie und schwieg.
Sein Schweigen war unerträglich. Hastig erhob ich mich und wollte gehen. Gernot hielt mich fest. Am übernächsten Tag wolle er für drei Wochen in Urlaub an die dänische Nordsee fahren. Dort sei er mit Ingrid immer hingefahren. Ob ich in der Zeit seine Blumen gießen und den Briefkasten leeren könne. Ohne mich anzusehen, drückte er mir die Wohnungsschlüssel in die Hand.
Ich brauchte über eine Woche, bis ich in seine Wohnung gehen konnte. Zuvor leerte ich seinen Briefkasten. Ein paar Werbeprospekte. Ich klingelte an der Wohnungstür, wartete, klingelte noch einmal, öffnete sie vorsichtig, fürchtete, er könnte nicht abgereist sein, betrat geräuschvoll den Flur und danach das Wohnzimmer. Die braunen Vorhänge waren zugezogen. Da auch im Schlafzimmer ein paar Grünpflanzen auf dem Fensterbrett standen, ging ich in die Küche, holte die Gießkanne und schlich, aus ungewollter Angst, jemanden wecken zu können, auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer.
Ingrids Bett war gemacht.
Gernots Bett nicht. Auf seinem zerknitterten Kopfkissen lag ein weißer Zettel. Es stand in großen steilen Buchstaben darauf. „Bald werde ich es wissen.“
Zögernd drehte ich den Zettel um und las die drei in krakeliger kleiner Schrift geschriebenen Worte: „Ich liebe dich!“ Den Kugelschreiber, mit dem er es schrieb, fand ich unter dem Kopfkissen.
Ohne zu überlegen schrieb ich unter seine Liebeserklärung: „Ich dich auch!“, zerriss den Zettel und legte ihn unter Ingrids Plumeau.
 



 
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