Lebenshäuptling

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george

Mitglied
Lebenshäuptling

Vanillezucker, Haselnüsse, Knoblauch, Öl und Salz,
Shrimps und Schokolade, Zahnpasta, Geschirrspülmittel,
Majoran und Forstner-Bohrer, Hutmuttern und Wein,
Lesebrille, Kreissäg’blätter, Beutel für den Müll,

Die Einkaufsliste, wieder ’mal.
Mein halbbelad’ner Wagen
zwischen jungen Müttern,
genervt von Zeit und Kindern.

Unabhängig, Großstadt-Mann.
Anerkannt, weit gereist, akademisch dekoriert.
Gar geliebt, gern’ allein, Lidl-Indianer,
stolz ob meiner Freiheit.

Ob Erklärung meiner Steuer, Mauern, Firma, Kochen?
Joggen und Motorrad? Alles wasch- und bügelfest!
Konferenzen? Vortrag? Irgendwie, irgendwo, irgendwann!
Ratschlaggeber? Lebenshilfe? Mal im Bett und mal am Beet!

Selbst gebaut das Haus, die Wohnung (die wievielte?),
selbst bestimmt die Leben (das wievielte?).
Und dennoch ist sie plötzlich da,
und dennoch lebt sie noch.

Diese Sehnsucht, diese Trauer
über die verlor’nen Lieben,
dieser Kloß und diese Wehmut
über jene Zeit.

Die Erinnerung an meine Frau’n,
die Erinnerung an Augen, Hände,
dieser Traum vom Lachen
ungebor’ner Kinder.

Ich belade meinen Wagen,
mit Gurken, Stolz und Trauer,
bezahle bar Vergangenheit
für Zukunft, für die Freiheit.


22.8.2003
 

blaustrumpf

Mitglied
Auch Häuptlinge landen zuweilen am Marterpfahl

Hallo, george

Der Blues am Kühlregal ist die postmodernde Trauer-Variante einer Spaßgesellschaft, die Depressionen allenfalls postkoital zu akzeptieren bereit ist. Aber was soll ein Mensch tun, wenn die Trauer und die Sehnsucht sich einmal eingenistet haben im Herzen, dort in dem Loch, das die Umrisse eines geliebten Menschen zeigt. Man geht eben einkaufen, man funktioniert in der Norm, nimmt sogar Sonderangebote wahr.

Und was hat das nun mit deinem Gedicht zu tun? Alles. Während dein Protagonist (*zwinker*) aus den Akzidenzien seiner Einkaufsliste das Leben als Normalität sich begreifbar zu machen sucht, zersplitterst du als Dichter eben diese verzweifelnd bewahrte Existenz in lauter kleine Details. Der große Bogen im Leben schließt sich doch nur mit Mühe - wie es eben doch auch nicht alles bei obi gibt.

Sei es die Wortschöpfung des Lidl-Indianers, sei es die genaue Stimmungsbeschreibung, der Gründe, warum dein Gedicht zu mir spricht, lassen sich viele finden. Aber was mich wirklich begeistert, ist das Geschenk an deinen Protagonisten. Der muss nicht seine Einkaufsliste abarbeiten und sich dabei erschöpfen. Gewiss, er lädt Stolz und auch Trauer in seinen Wagen (Belädt er so auch sein Leben damit?). Aber er nimmt auch Gurken. Und die waren nicht auf der Liste. Es gibt immer Hoffnung. Sogar in der Lyrik.

Schöne Grüße von blaustrumpf
 
W

WindindenHaaren

Gast
Na, George, pralles, reiches Leben!! Für kein Geld zu erkaufen all dieser Erfahrungsreichtum!!

Und nu? (lach)
 
S

Stoffel

Gast
Hallo george,

wirklich klasse.
Es rührt mich ein wenig, dann sag ich wieder..selber Schuld..könntest es doch anders haben..jamma nich..der arme..
aber ich denke, es sind nur Momente, dann kommen wieder die anderen, bis wieder es diesen Moment gibt.

Mal meine Gedanken, zu meiner Interpretation.

Mir gefällt es wirklich.

lG
Susanne
 

george

Mitglied
Hallo blaustrumpf,

gut beobachtet. Die Gurken waren/sind nicht auf der Liste des Einkäufers. Genau deshalb machen sie Sinn.
Soweit ich mich erinnere, gibt es sogar die Marke "Gurkenstolz"?

Der Aldi-Blues als postmoderne, postkoitale Trauervariante? Frau o Frau, solche Formulierungen lassen mich stauned und mich vor Scham und Bewunderung vor Dir verneigend in die Lidl-Truhe sinken mit einer geköpften Flasche Gran Reserva zum Spottpreis von 3.59 €, was das Maximale auf der nach oben geschlossenen Lidl-Skala darstellt. Halb aufgetaute Riesenshrimps aus dem Pazifik und Rahmspinat versüssen mir den Blick auf derzeit noch leichtbekleidete, mehr oder weniger wohlgeformte Frauen auf der Jagd nach Zeit und Sonderangeboten. So wird der Lidl-Indianer in der Truhe langsam zum Eskimo und freut sich, dass in den Sonderangeboten schon erste wärmende Fahrradkleidung vertreten ist. Nur mit dem "postkoital" wird es bei der Kälte nix. Eher "anteportal". Zu kalt ...

Das wirkliche Leben spielt sich eben nicht in der Oper, im Theater, im Feuilleton, sondern bei Aldi, Norma, Lidl, bei obi, Toom und Bauhaus (am besten aber bei Hornbach), in Strassenbahnen, Krankenhäuser, Friedhöfen und in Staus auf Autobahnen ab. Nein, den grossen Bogen gibt's dort nicht. Der schliesst sich - wenn überhaupt - erst hinterher und immer mit Distanz. Am besten auf dem Friedhof. Bis dahin bleibt er offen.

Und dennoch: Die Hoffnung liegt in der Gurke - oder im Rasierschaum.

Herzliche Grüsse und vielen Dank für die Diskussion.
 

george

Mitglied
Hallo WindindenHaaren, Indianer-Squaw,

und nu? Ja was? Nix wie hin! Diese Woche gab's Staubsauger und nächste Woche wird's Bettdecken geben. Da musst Du hin! Schon wegen der Lebenshilfe. Aber nicht über die Mittagspause: Da kommen die Rentner. Die haben sonst keine Zeit.

Die meisten Mütter findest Du vormittags. Und die Männer? Fast gar nicht. Meist sind's nur Rentner oder Arbeitslose, wenn sie alleine sind.

Wenn Du wirklich selbstbewusste Männer kennen lernen willst, geh' in die Abteilung für Unterwäsche im Kaufhaus! Meist sind auch dort nur Frauen. Aber diejenigen Männer, die da sind, sich ihre eig'ne Wäsche kaufen ... Also: Nix wie hin!

Das haste von Deinem: und nu?

Hough!
 

george

Mitglied
Hallo Stoffel,

Freiheit hat einen Preis, Eigenverantwortung genauso. Der Protagonist jammert nicht, sondern beschreibt. Schade, dass man nicht mehrere Leben parallel, sondern nur hintereinander leben kann. Ganz zwangsläufig wird dadurch jedes einzelne Leben kürzer. Das ist der Preis.

Arm? Wieso ist er arm? Nein, er hat bestimmt mehr erlebt (ob freiwillig oder nicht) als die meisten anderen Männer. Diesen Reichtum an Erfahrungen (siehe Winne-Indianer-Frau) kann man nicht kaufen.

Herzliche Grüsse
 

Vera-Lena

Mitglied
abstrakt

Lieber george,

wie Du vom Komkreten zum Abstrakten kommst in Deinem Text, das gefällt mir sehr gut.
Wir müssen alle mit der Vergangenheit für unsere Gegenwart bezahlt haben, aber meistens ist man sich dessen nicht bewußt. Auch was dann im Einkaufswagen liegt, macht man sich nicht immer klar. Im Falle Deines Protagonisten ist es die Freiheit, die Du wohl hauptsächlich als Unabhängigkeit auslegst.

Liebe Grüsse Vera-Lena
 

silverbird

Mitglied
so richtig über die Bücher gehst du in deinem ausgezeichneten Werk. Gefällt mir sehr, vor allem die Nachdenklichkeit darin. Ein grosses Kompliment von
silverbird
 



 
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