Lebensnebel

Valentine

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Lebensnebel

Sie atmete tief durch, lockerte ihre Arme und setzte sich noch einmal aufrecht hin. Dann fing sie an zu schreiben. Sie schrieb und schrieb und schrieb, strich durch, zählte Versmaße ab, reimte, was das Zeug hielt und schrieb, schrieb, schrieb. Diesmal war sie sich ganz sicher, dass ihr der große Wurf gelingen und ihr Werk abgedruckt würde. Und dann, endlich, endlich, war ihr Oeuvre fertig. Die Schultern waren verspannt, die Finger der rechten Hand steif, das linke Bein eingeschlafen, aber vor ihr auf dem Schreibtisch lag ihr neuester lyrischer Erguss. Sie strahlte übers ganze Gesicht wie die Sonne an einem heißen Augustnachmittag.

Beate Wohlgemuth war Mitte 40 und Gedichteschreiberin durch und durch, mit Leib und Seele, eine, wie sie sich selbst gern bezeichnete, Vollblutpoetin, der Metaphern, Kreuzreime und auch Haikus sprichwörtlich nur so aus den Fingern flossen. Das Dichten war ihr Leben, ihre Passion, quasi ihr Sein. Ständig war sie versucht, in Reimen zu sprechen oder auf Fragen in Reimform zu antworten. Was manchen Zeitgenossen merkwürdig erschien, war für Beate ganz normal. Sie schüttelte den Kopf, sodass ihre asymmetrisch geschnittenen hennafarbenen Haare lustig hin und her wackelten. Der beigebraune Federohrring an ihrem rechten Ohr schaukelte dazu im Takt.
Dann las sie sich ihr Werk, das sie soeben verfasst hatte, noch einmal durch:


Lebensnebel

Lebensnebel, Spiel des Lebens,
Lebensläufe, alles vergebens.
Lebensraum, Lebenstraum,
Lebenswahn, Lebenstran.
Lebensnebel, Brot des Lebens,
Lebenswandel, alles vergebens.
Lebensfern, Lebensstern,
Lebensmut, Lebenswut.
Lebensnebel, Baum des Lebens,
Lebensziele, alles vergebens.
Lebensrat, Lebensnaht,
Lebensnah, lebenswahr.
Lebensnebel, Sinn des Lebens,
alles vergebens, alles vergebens.
Alles.
Vergebens.
Alles vergeben(s).


Genau dieses Gedicht und kein anderes wollte sie an "Ganz bei dir" schicken. In der Rubrik "Die geschriebenen Gefühle" veröffentlichte die Esoterikzeitschrift einmal im Monat von Lesern, meistens von Leserinnen, eingesandte und selbst verfasste Poems. Seit Beate dieses Magazin über den Sinn des Lebens vor fünf Jahren abonniert hatte, schickte sie immer wieder, genau genommen Monat für Monat für Monat, eines ihrer Reimnisse ein. Entweder ein eigens für "Die geschriebenen Gefühle" komponiertes oder eines aus ihrem stattlichen Fundus an, wie sie sie nannte, Lebensgedichten. Bisher leider ohne nennenswerten Erfolg. Zwar hatte Beate im vierten Jahr ihres kreativen Schaffens für "Ganz bei dir" von Valentin Wagenschütz, dem Herausgeber, ein mit Computer verfasstes Schreiben bekommen, das sie hütete wie der Louvre die Mona Lisa. In diesem Brief dankte er ihr für ihre (bis dahin) 43 Einsendungen, aber veröffentlicht wurde trotzdem keines, bis heute nicht.

Doch "Lebensnebel" würde die Wende einleiten, da war sich Beate ganz sicher. Diesmal würde sie ihr Bauchgefühl nicht trügen. Diesmal würde sie von Valentin handgeschriebene Zeilen erhalten, die mit den Worten "Herzlichen Glückwunsch, verehrte Frau Wohlgemuth, Ihr lyrisches Werk 'Lebensnebel' wird in 'Die geschriebenen Gefühle' veröffentlicht!" beginnen würden. Diesmal würde sie in der nächsten Ausgabe von "Ganz bei dir" ihre eigenen Worte lila auf weiß abgedruckt sehen. Diesmal bestimmt!
Beate strich noch einmal über ihr Gedicht wie eine Mutter, die ihrem Neugeborenen den kahlen Kopf tätschelt. Dann zog sie zwei weiße Blätter und einen blasslila Umschlag aus der Schreibtischschublade, nahm ihren nachtblauen Füllfederhalter und schrieb "Lebensnebel" ins Reine. Einen Computer besaß sie nicht. Diese Monster der Technik waren ihr mehr als suspekt, und außerdem war ein von Hand verfasster Text doch viel persönlicher, fand Beate. Valentin sah das sicher genauso. Ein derart belesener Mann, dem die Esoterik über alles ging, fand elektronische Gehirne gewiss gleichermaßen befremdlich wie sie, das spürte sie einfach.

Sie faltete die jetzt beschrifteten Seiten Kante auf Kante und noch einmal Kante auf Kante, steckte sie in das Kuvert und verschloss dieses mit einem ihrer Adressaufkleber. Diese, 500 an der Zahl, hatte sie letztes Jahr zum Geburtstag von ihrer Freundin Elisabeth bekommen. Sie schrieb ebenfalls Gedichte, allerdings nicht mit den Ambitionen, die Beate verspürte. Aber da Elisabeth wusste, wie oft Beate eines ihrer Werke einschickte, wollte sie ihr wenigstens das Absenderschreiben ersparen und hatte ihr deshalb die kleinen rechteckigen Aufkleber geschenkt. Darauf waren neben Beates Adresse eine Schreibfeder und ein Tintenfass abgebildet. Alles war in zarten Fliedertönen gehalten, Beates Lieblingsfarbe.
So, jetzt noch vorne auf den Umschlag die Anschrift von "Ganz bei dir" geschrieben (dafür hatte sie leider keine Etiketten) und dann nichts wie ab mit dem Werk an Valentin. Sie ergriff das Kuvert, zog sich Schuhe an und lief schnell zum Postkasten, der sich genau vor dem Haus befand, in dem sie im Hochparterre, Altbau, drei Zimmer, Küche, Bad alleine lebte.

Kurz darauf saß sie wieder an ihrem Schreibtisch, der direkt am Fenster stand, hatte den Briefkasten gut im Blick und wollte nun ein wenig Ordnung schaffen. Sie verstaute ihren Füller sorgfältig in dem dafür vorgesehenen Metalletui, stapelte herumliegende Bücher aufeinander, nahm die erste Version von "Lebensnebel" und heftete sie in einen eigens für "Ganz bei dir" angelegten Ordner (genau genommen hatte sie vor zwei Monaten einen neuen angefangen, nachdem der erste beinahe aus allen Nähten geplatzt war) und suchte dann den Tisch nach einem Brief ab, den sie heute Morgen geschrieben hatte. Beate schrieb häufig Briefe, die sie jedoch nie abschickte, gewissermaßen eine Art Tagebuchersatz, um dieses oder jenes zu verarbeiten oder loszuwerden. Nicht immer hatten diese Botschaften einen expliziten Adressaten, doch die Zeilen, die an diesem Vormittag aus ihr herausgedrungen waren, gingen an Valentin, "Wally", wie sie ihn insgeheim nannte.

Lange hatte Beate es selber nicht wahrhaben wollen, aber seit seinem Dankesbrief im vorletzten Jahr konnte sie es vor sich selbst nicht mehr verleugnen: Sie fühlte sich sehr zum Herausgeber von "Ganz bei dir" hingezogen. Seitdem schrieb sie ihre Gedichte nur für ihn, reimte nur für ihn, dachte beim Fabulieren nur an ihn.
Als sie sich in einem Anflug von Liebeskummer Elisabeth anvertraut hatte, hatte diese sie nur mit großen Augen angesehen und etwas von "aus dem Kopf schlagen" gemurmelt. Beate seufzte. Wieso hatte sie auch erwartet, dass Elisabeth sie verstand? Schließlich war sie allen weltlichen Genüssen noch abgeneigter als der Papst persönlich. Beate hob den Stapel Bücher hoch, schaute unter ihre Schreibtischauflage, guckte unter ihren Schreibtisch, aber der Brief tauchte nicht auf. Weg war er, wie vom Erdboden verschwunden.

Sie hörte ein Rumpeln und sah aus dem Fenster auf den Fußweg, wo sich der Postbote gerade am Briefkasten zu schaffen machte. Er öffnete den gelben Behälter, entnahm ihm den hellen Stoffsack und kippte die ganze Post in eine schwarze Plastikkiste. Die trug er zu seinem Postauto, stellte sie in den Kofferraum und zog die Klappe herunter. Da entdeckte er Beate, hob die linke Hand zum Gruß, stieg pfeifend ein und fuhr los. Diese Szene trug sich fast jeden Tag zu, zumindest von Montag bis Freitag. Beate winkte jedes Mal zurück und wandte sich dann wieder ihrem Schaffen zu.
Doch dieses Mal wurde ihr plötzlich heiß und kalt, und sie wurde abwechselnd rot und blass. Sie sah noch die Rücklichter des Postautos und merkte, wie ihr schwindelig wurde. Nicht nur, dass man in der kommen-den Ausgabe von „Ganz bei dir“ wieder kein Gedicht von ihr lesen können würde, nein, keines ihrer Werke würde je darin veröffentlicht werden ...
Beate ging in ihr Schlafzimmer, legte sich aufs Bett, schloss die Augen und dachte noch, dass sie besser doch auf Elisabeth gehört hätte.
 

Valentine

Mitglied
Kommentare erwünscht!

Hallo zusammen,

ich würde gerne etwas zu dem Text hören bzw. lesen, bin mit dem Schluss zum Beispiel gar nicht glücklich ...

Lieben Gruß,
Valentine.
 
O

Orangekagebo

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Hallo Valentine,

schöne Gedanken schreibst Du da, aber m.E.n. einfach viel zu lang.
Mit dem Gedicht und der erwartungsvollen Autorin kann man einen schönen Plot ertüfteln, aber der fehlt mir leider bei Deinem Werk noch.
Das Ende ist, wie Du selbst schon festgestellt hast, einfach offen.
Auch überzeugt stellenweise der Ausdruck nicht, macht vielmehr umständliche Grätschen, auch mit endlosen Wiederholungen (schrieb)

Eine knackige Pointe am Ende wäre da schöner. Zum Beispiel, dass an der Stelle, wo eigentlich ihr Gedicht stehen sollte, das ihrer Freundin Elisabeth steht.

LG, Karsten
 
H

Haki

Gast
Hallo Valentine,

Orangekagebo hat recht. Es hapert an der Sprache, die zu viele Doppelungen und umständliche Beschreibungen hat, und es passt nicht ganz vom Plot, er scheint noch nicht ausgereift. Aber das Ende sollte nicht mit dem Gedicht der Freundin enden, schließlich hat sie doch(oder verstehe ich das falsc) den persönlichen Brief an "Wally" abgeschickt...
Es muss aber dennoch etwas geschehen, das die Geschichte abrundet. Vielleicht straffst du im Allgemeinen ersteinmal den beginn, auch das Gedicht solltest du ganz weglassen, weil es nicht so toll und auch gar nicht vonnöten ist. Einige Umschreibungen noch weg und dann das Ende ausweiten. Da muss noch irgendwas geschehen. Ein Treffen mit Valentin? Ein Gedicht aus seiner Zeitschrift von ihm, das noch mal pointiert? Irgendwas in der Art...
Die Grundidee bietet auf jeden Fall genügend Platz, um hieraus noch ein gutes Werk zu machen!

Liebe Grüße,
Haki
 

Valentine

Mitglied
Hallo Orangekagebo, Hallo Haki,

vielen Dank für eure Anmerkungen! Ich werde mal eine Nacht drüber schlafen und dann an dem Text feilen ... ;o)

Lieben Gruß,
Valentine.
 



 
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