Lebenszweifel

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Mariana

Mitglied
08.06.2013


Ankunft und Abschied

Es war einmal ein Küken, das gerade aus einer Kaffeetasse gekommen war. Du möchtest nun einwenden, dass Küken aus Eiern kommen und nicht aus Kaffeetassen ? Es tut mir leid, falls du es noch nicht erlebt hast, ich kann dazu nur sagen, dass es bei mir weder das erste noch das letzte Küken war, das auf diesem Weg auf die Welt kam. Wie das vor sich geht ?
Man sitzt in einem schönen Kaffee, allein oder mit Freunden und trinkt einen Kaffee (kein Kännchen). Und während Du so in das Schwarzbraun des Kaffees schaust, den Duft riechst und Dich an diejenigen Deiner Freunde erinnerst, die schwarzglühende Augen hatten, tauchen plötzlich filigrane kleine Flügel aus der Tiefe der Tasse auf. Ein nasses Köpfchen erhebt sich. Ganz vorsichtig und ruhig hebst du das kleine Tier aus der Tasse. Die meisten schütteln sich dann heftig, um die Nässe loszuwerden, dann hüpfen und flattern sie davon.

Das Küken von dem hier die Rede ist, war eine junge Rauchschwalbe. Kopf und Rücken fast schwarz, seine Unterseite weiß.
Es schlug vierzehn Uhr, als es aus meinem Kaffee hüpfte. Das Kaffee, in dem es auf der Welt erschien, war das Tierparkkaffe in Hagenbecks Zoo.
Ob ich traurig war, weil die kleine Rauschwalbe nicht bei mir blieb ? Ich war nicht traurig, denn wie hätte ich sie füttern sollen ? Und schließlich kommen immer wieder mal Küken aus meinen Tassen.
Um mich soll es aber fortan nicht gehen. Es geht um das Küken.

Dieses begab sich auf seine ersten Wege. Am Anfang hüpfte und flatterte es recht mühsam dahin, konnte aber schon bald kleinere Entfernungen mit Flattern überbrücken. So kam es ins Tropenhaus und bewegte sich dort zunächst auf dem Rundweg fort.
Hinter einer der vielen Glaswände fiel ihm ein hellgrün leuchtendes längliches Tier auf, das sich auf einen Ast schmiegte. Darum einige Blattpflanzen. Das wollte es sich genauer ansehen. Es nahm Schwung, flatterte nach oben und schlüpfte in einen Schlitz zwischen der Glaswand und der Decke. Dort oben blieb es sitzen und sah nach unten.
Das hellgrüne Tier erhob seinen schmalen etwas dreieckigen Kopf. Es streckte ihn in Richtung auf das Küken indem es sich erhob und sich weit durch den Raum streckte. Nur sein Schwanz blieb unten auf dem Ast liegen. Was es alles gibt, dachte das Küken.
Es freute sich über das Interesse und hatte keine Angst,denn es hatte noch nie etwas Schlechtes erlebt. Eine gespaltene Zunge fuhr ihm entgegen, konnte es aber nicht berühren, denn es saß etwas zu weit oben.
Das Küken hatte gerade noch etwas entdeckt, das ihm gefiel:
Manche der Blattpflanzen da drinnen sahen so aus, als hätten sie Blattläuse. Es bekam Hunger.
Und es guckte in die runden großen Pupillen dieses erstaunlichen Tieres, das so lang und schmal war und so stark, dass es sich aus reiner Muskelkraft heraus quer durch den Raum erheben konnte.
Der Kopf hatte inzwischen aufgehört sich durch die Luft Richtung Küken zu verschieben.
„Guten Tag“ sagte das Küken, „verstehen Sie mich“ ? Die Schlange, es war eine grüne Mamba guckte interessiert.„Würde es Sie stören, ein paar ihrer Blattläuse mit mir zu teilen, ich habe Hunger“ ?
Die grüne Mamba sagte noch immer nichts, versuchte aber ihren Kopf noch etwas näher zum Küken hin zuschieben.
Das Küken hörte im Nachbarkäfig ein leises Zischeln und drehte sich ein um. Dort gab es kleine Fluginsekten, die über gelbgrünen Pflanzen dahinschwirrten. Auch dort lag ein breiter Ast in der Mitte des Terrariums.
„Geh bloß nicht da rüber“, sagte die Mamba, mir kannst vertrauen, aber der nicht ! Da wohnt eine Python und die wird dich verschlingen. Sie ist gierig und böse.“
„Ich sehe keine Python“, sagte das Küken. Ich sehe nur einen breiten Ast mit einer braunen länglich gewundenen Auswölbung auf der oberen Seite.
Die Python hatte das Küken bemerkt und versuchte nun ihrerseits ihren Kopf in dessen Nähe zu bringen. Sie war unglaublich groß. „Die ist ja noch größer als du,“ sagte das Küken. Und diese kleinen Insekten da bei ihr schmecken noch besser als deine Blattläuse.“ „Ich bin nicht böse, ich bin lieb“, zischte da die Python. „Ich fresse nur die kleinen Insekten hier und die würde ich gerne mit dir teilen, mein schönes Rauchschwalbenküchlein.“
„Komm sofort runter da oben,“ sprach da einer der kleinen Katta-Lemuren, die frei durch den Park sprangen. „Wenn dich hier jemand frisst, dann bin ich das, ja. Das Küken erchrak.
Nicht ernst gemeint,“ sagte der Affe dann und lächelte sanft, „du siehst ja, dass ich viel kleiner bin als die Schlangen da drin und außerdem so ungefährlich, dass ich hier frei herum springen darf.“
Das Küken fühlte sich sonderbar. Und zum ersten Mal sehnte es sich nach einem erneuten Untertauchen in der Schwärze einer großen Tasse Kaffee. Es hatte das Schild bei den Lemuren wohl gelesen. „Fressen manchmal auch kleine Vögel“ stand da. Inzwischen war es drei Uhr nachmittags.
„Habt ihr denn keine anderen Interessen“, fragte es die Tiere ? „Jeder redet hier vom Essen. Gut, ich brauche auch ein paar Blattläuse, aber ich interessiere mich auch für andere Themen. Und warum wollt ihr ausgerechnet mich fressen? Werdet ihr nicht gefüttert?“
Die drei Zootiere hörten aber nicht zu, denn sie waren inzwischen ganz mit sich beschäftigt.
„Geh doch zurück nach Afrika wo du herkommst“ zischte die grüne Mamba durch ihr Glas die Python an. Sie hatte ein unangenehm hohes Zischen. „Das ist mein Küken, es hat zuerst mit mir gesprochen.“ „Wenn ich dich endlich erwischte“, antwortete die Python. Ihr Zischen klang tiefer. „Du willst schließlich nicht nur mein Küken, du hältst dich hier auch sonst für die große Königin. Und bildest dir etwas darauf ein, dass unserer Tierpfleger beim Füttern immer etwas länger für dich braucht als für mich. „Recht hast du“, sagte die Mamba und lachte „und bald wird er kommen und das frische Rauchschwalbenküken in meinen Käfig werfen, nicht in Deinen.“ „Mir bringt er demnächst ein schwangeres Schaf, das muss er schleppen, das würde er für Dich nie tun,“ sagte die Python und legte sich vorfreudig auf ihrem Ast zurecht. Hast du außerdem mein Schild gesehen – da steht „Königspython“ das hat er für mich geschrieben. Selbstzweifel bemächtigten sich der grünen Mamba und sie wurde traurig. Von trüben Gedanken erfüllt, ließ sie sich wieder auf ihren Ast sinken. Das Küken hatten beide inzwischen vergessen, worüber dieses etwas betrübt war, denn es hatte die allgemeine Aufmerksamkeit trotz allem genossen. Es fühlte sich einsam und vernachlässigt und die Frage wer von den dreien es am Ende wohl verschlingen würde, stimmte es auch nicht heiterer.
„Ihr nervt mich“ sagte der Affe zu den Schlangen. „Seit Jahren dieses Gestreite, warum lasst ihr euch nicht einmal in andere Terrarien verlegen, so dass ihr getrennt seid ? Ich geh jetzt erst mal weg.“
Das Küken war ihm dankbar dafür, denn es erkannte seine Chance. Wenn es schon gefressen werden würde, wollte es zumindest selbst entscheiden von wem. Es flatterte von der Trennwand auf den Boden und hüpfte weiter den Rundweg entlang, denn es wollte sich in dieser Frage von einem älteren Tier beraten lassen. Weiße Quallen stiegen und sanken glitzernd hinter dunklen Aquariumsscheiben, und es sah einen Hai seiner Wege schwimmen. Dann verließ es das Tropenhaus und fand sich bei den Menschenaffen wieder. Als erstes kam es zum Gorilla. Dieser saß mit hängenden Schultern in seinem Gitterkäfig und starrte traurig vor sich hin. Sein Fell war struppig, er sah abgemagert aus. Seine braunen Augen waren so traurig, dass das Küken ihn kaum ansehen konnte. Er sah aus, als sei er das einsamste Tier der Welt. Der schien das Leben zu kennen und konnte ihm sicher weiterhelfen. Schnell hüpfte es in seine Nähe. „Hallo, willst du mich auch fressen,“ sprach es ihn an. „Ich fresse gar nichts mehr, sagte der Gorilla. Ich bin im Hungerstreik.“ Und er zeigte dem Küken das verfaulte Obst um ihn herum. „Das ist Iso-Haft, wie die mich hier halten, da hilft nur Hungerstreik. Mein Vorbild ist Bobby Sands, falls dir das etwas sagt. Ich fordere weitere 39 Gorillas zu meiner Gesellschaft.“ Das Küken verstand nicht genau, was er meinte „Erzähl mir etwas von dir, sagte es. Dich will niemand fressen, oder ? Nein, sagte der Gorilla aber das ist kein Vorteil. Im Gegenteil.
„Wenn ich dir einen Rat geben darf, lass dich so bald wie möglich fressen,“ sagte der Gorilla.. Es ist nicht gut zu leben,
selbst mit 39 anderen Gorillas als Gesellschaft wird es schwer sein. Außerdem hat das Leben keinerlei Sinn. Im Zoo werden wir über 50 Jahre , das ist eine Zumutung !“ Wer will denn in einem Zoo so alt werden?“ „Du hast vollkommen recht, sagte das Küken, ich habe auch keinen guten Eindruck vom Leben. Aber ich weiß nicht, von wem ich mich fressen lassen soll. Ich kann mich nicht entscheide
„Ja, Entscheidungen....“, seufzte der Gorilla, „gibt es auch nur im Zoo. In freier Wildbahn braucht man sich nicht zu entscheiden, das Leben dort ist einfach und klar. Dich zum Beispiel hätten sie draußen schon lange gefressen.“
„Aber tut das nicht weh, wenn man sich fressen lässt,“ fragte das Küken. „Wahrscheinlich schon, keine Ahnung, sagte da der Gorilla und versank daraufhin in ein düsteres Schweigen. „
Dem Küken erschien das Leben gar nicht mehr verlockend.
Es war 17 Uhr geworden, noch eine Stunde hatte das Tierparkkaffee geöffnet. Ich will wieder zurück in meine Kaffeetasse sagte sich das Küken und hüpfte und flatterte den Weg zurück. Es durchquerte die Eingangstüre.
Vier Männer saßen dort und tranken. Der eine trank Bier, das enttäuschte das Küken. Der zweite einen Birnen-Schnaps, das war ihm zu fremd. Der Dritte trank Tee, auch nichts zu machen. Der Viertet aber saß vor einer schönen vollen Tasse Kaffee und zog dabei an einem Joint. Dann guckte er abwesend vor sich hin und lächelte. Diesen Moment nutzte das Küken. Es tauchte mit einem eleganten Sprung in die dunkle duftende Flüssigkeit und ward nicht mehr gesehn.
 



 
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