Leelo

Suzie

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Leelo

„Es ist so traurig“, sagte Leelo zu mir, „so furchtbar traurig“. Sie griff nach meiner Hand und bohrte mir ihre Fingernägel in die Haut. Ihr glattes Haar fiel ihr strähnig über das erhitzte Gesicht, sie muss hohes Fieber haben, dachte ich bei mir. Sie schloss die Augen und ihre Lider flatterten. Ich fürchtete, dass sie jeden Augenblick zusammensinken würde, so wie sie sich an mich klammerte, wie ihr zerbrechlicher, kleiner Körper verzweifelt nach Halt suchte.
„Früher“, fuhr sie fort, „da glaubte ich, dass es im Himmel so etwas gibt wie einen Brunnen, du weißt schon, in den man Münzen hineinwirft, um sich etwas zu wünschen.“
Sie atmete schwer ein und presste ihre geballten Fäuste an die Brust. Mir war klar, dass es ihr elend ging, ihr Herz schien sie wieder sehr zu quälen. Es ist ihm zu eng da drin, entgegnete sie jedem, der sie darauf ansprach und deutete dabei stets auf die Stelle, hinter der es pochte.
Ihre Züge verkrampften plötzlich und sie biss sich so heftig auf die Lippen, dass Blut hervorgequollen kam. Dickflüssiges, dunkelrotes Blut. Ich suchte in meinem Mantel nach einem Taschentuch, aber sie wehrte mich ab. „Lass“, meinte sie nur, „es nutzt ja doch nichts.“
Unsicher blickte ich sie an. Sie senkte den Kopf und lächelte entrückt. „Damals habe ich mir so viel Phantastisches ausgemalt“, sprach sie weiter, „ich war überzeugt, dass die Toten jede Nacht die Sterne blank putzen, damit diese in der Dunkelheit auch ordentlich funkeln. Denn stell dir mal das Geschrei vor, dass es auf Erden gäbe, wenn die Gestirne irgendwann einmal mit einer so dicken Staubschicht überzogen wären, dass sie nur noch ganz schwach leuchteten. Es würde ganz finster. Und das darf doch nicht sein.“ Erschöpft schlug sie die Augen auf und sah mich an. „Meine Mutter“, keuchte sie, „meine Mutter, wo soll die denn hin? Ich habe mal gehört, dass wenn man Asche ist und auch kein Grab hat und keinen Stein aus kühlem Marmor, auf dem man seinen Namen eingemeißelt findet, dann wird man da oben wieder weggeschickt.“ Ich seufzte. „Es ist doch egal, ob man verbrannt oder beerdigt wurde, die Guten gelangen immer in den Himmel“, stieß ich hervor, denn wenn Leelo mir solche Gedanken mitteilte, wurde ich oft ungehalten. Ich mochte es nicht, über derartige Sachen zu reden und sie tat es ständig. Leelo war krank, sagte ich mir dann jedes Mal, und da erzählt man manchmal wirres Zeug.
Beruhigend strich ich ihr über die Stirn, aber sie schlug meine Hand fort und zischte: „Woher willst du denn das wissen? Und warum nur die Guten? Wenn meine Mutter nun aber gar nicht zu denen gehört hatte, sondern als schlecht eingestuft wird? Was passiert dann mit ihr? Wird sie dann entsorgt? Sagen die dann: Nein, Ihre Seele ist so fleckig, in der kann man sich ja überhaupt nicht widerspiegeln, so jemand passt nicht hier her.“ Die Worte stürzten ihr in der Erregung nur so aus dem Mund und obwohl sie enorm ermattet war, bäumte sich in ihrem dünnen Leib die letzte Kraft auf.
„Das stimmt doch nicht. Deine Mutter war doch immer so sanft und tat niemandem etwas böses. Ich bin mir ganz sicher, dass sie da oben auf dich wartet. Und dann werdet ihr jeden Tag tanzen und des Nachts die Sterne polieren.“ Meine Stimme war brüchig, denn ich ahnte, dass sie weinte. Innerlich. Das klingt bestimmt seltsam, aber ich habe wirklich noch nie erlebt, wie Leelo richtige Tränen hervorbringt. Ihr Blick verschleiert dann zwar, wird dennoch nicht wässrig, sondern bleibt apathisch. Sie wimmert auch nicht, oder schluchzt, wie das Menschen normalerweise tun, wenn sie weinen.
Leelo starrt nur vor sich hin und bewegt unablässig ihre Lippen, wie ein Fisch, der unglücklich nach Luft schnappt.
Sie murmelt etwas, aber so leise, dass man sich anstrengen muss, damit man es versteht, und meistens sind die Sätze zusammenhanglos und sinnentleert.
„Du kanntest sie nicht. Natürlich konnte sie gut und warmherzig sein, aber es gab auch eine verborgene Seite an ihr, die nur wenige an ihr entdeckten. Ich erinnere mich noch, vorigen Sommer...“ Abrupt brach sie ab und blickte mir fest in die Augen. „Eigentlich verdient sie es auch gar nicht, in den Himmel zu kommen. Eigentlich haben die da oben recht, wenn sie sie nicht hineinlassen.“ Sie krallte sich in meinen Arm und schüttelte mich. „Verstehst du nicht...“, schrie sie. Ich wollte sie umarmen und wiegen, wie ein kleines Kind, aber sie riss sich los. Der Nachthimmel war verhangen und selbst der Mond schimmerte nur bleich durch die mächtigen Wolken hindurch. „Komm, wir gehen“, sagte sie und drehte sich um. „Wohin?“, fragte ich, während ich mich in Bewegung setzte, um ihr zu folgen.
Sie wandte sich zu mir und ich sah, dass ihr Mund zitterte. Für einen Augenblick dachte ich, jetzt hat sie erkannt, warum ich niemals von ihr wich, ich dachte, jetzt bricht sie gleich zusammen und steht nicht mehr auf. Ich hatte mich sowieso die ganze Zeit gewundert, wie sie das alles aushalten konnte, so zerschunden wie sie war.
Doch sie strich sich lediglich das Haar, an dem der Wind zerrte, zur Seite und lächelte wieder ganz merkwürdig.
„Zu ihr“, antwortete sie bestimmt.
 



 
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