Leere Blätter

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Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Leere Blätter

Du bist der Neue. Lass uns einen Rundgang machen. Ich erzähle dir das Wichtigste über die Bewohner.
Der hier ist pflegeleicht. Wenn er gewaschen und angezogen ist, kannst du Stift und Block vom Tisch nehmen und ihn ans Fenster setzen. Er sitzt den ganzen Tag dort. Sprechen ist nicht sein Ding. Der Alte sagt nur, dass er ans Fenster will und Gedichte schreiben. Essen und trinken kann er allein. Wenn du ihn abends ins Bett bringst, wird er dir erzählen, dass er wunderbare Gedichte geschrieben hat. Sein Block ist immer leer. Er hat halt was an der Erbse. Aber einfach und pflegeleicht, wie gesagt.

Mein Kopf gehört mir…….Meine Gedanken gehören mir….Meine Gedichte gehören mir…

Wo bin ich nun
Da meine Welt nur noch ein Fenster hat
In mir bin ich
In alten Fenstern lehne ich
und blicke in der Zeit zurück
Sehe dich – du winkst mir zu
Warte eine Weile
Ein einziger Gedanke trennt uns noch

Ja, bring mich ins Bett. Ich bin müde. Bemühe dich nicht mich zu verstehen. Wer kann schon aus leeren Blättern lesen.
 
M

Minds Eye

Gast
Hi Otto.
Das sieht für mich aus, wie die Einleitung zu einer großartigen Kurzgeschichte.
Machst Du´s noch länger, ja?
Oder ´nen zweiten Teil?
Gruß,
ME.
 

pipi-barfuss

Mitglied
Blätter

Hallo Otto,

Puh, da musst ich erst einmal durchatmen. Eine sehr gelungene, anschauliche Geschichte. Ich konnte den Mann richtig vor mir sehen.
Ich arbeite im Altenheim.

L.G. P.B
 

coco

Mitglied
lieber Otto,

...ehrfürchtiges schweigen von mir zu diesem nachdenkenswerten und bemerkenswerten text...

liebe grüsse von coco
 

Jongleur

Mitglied
die eigene Welt

Hallo Otto,
sehr nahegehend, der Stoff. Besonders, da die letzten Sätze vermuten lassen, dass der Kranke um seine "Unverständlichkeit" bei der Umwelt weiß und sich darin einrichtet: bemühe dich nicht, mich zu verstehen ... - Das erscheint mir sehr bitter. Eine, mit der er gelebt hat, ist tot, und er wartet nur noch die kleine Weile ab, mit ihr wieder vereint zu sein. Die Welt nur noch ein Fenster, ein kleinster Ausschnitt, für den sich kein Aufschreiben mehr lohnt.

Kleine Anmerkungen:
im Prosateil:
kannst du Stift und Block vom Tisch nehmen - hier hatte ich zweierlei (falsche) Gedankenansätze: Ich vermutete erst, es ginge um eine Krankenakte des Aufsehers, Pflegers, so nach dem Motto: hier kommt nichts mehr vor, kannst das diagnostische Schreibzeug ruhig wegpacken. - Dann, nachdem ich bereits weiter gelesen hatte, dachte ich, dass dem Kranken Block und Stift weggenommen werden sollten, das wiederum nach dem Motto: der schreibt sowieso nichts und starrt Löcher in die Luft.
Zuletzt nun deute ich es so, dass dem Patienten Stift und Block mit zum Fenster gebracht werden (wie sonst könnte man zum Schluss von leeren Seiten wissen?). Könnte man das in der Anweisung des Kollegen an "den Neuen" (könnte ja auch ein Schichtwechsel sein) nicht auch ein wenig präzisieren?

im Gedichtteil:
Sehe dich – du winkst mir zu
Warte eine Weile
Ein einziger Gedanke trennt uns noch

Während die ersten Zeilen ein wunderschön durchgängiges, melancholisches, beinahe singendes Versmaß haben, bricht der Rhythmus hier, wird stenogrammhaft und prosamäßig. Vielleicht ist es gewollt so - weil "er" mit dieser Zeile in den Wahn wechselt. Dennoch - mir gefiele es weniger abgerissen besser ...
Die drittletzte Zeile ließe sich mit dem vorangestellten "ich" leicht in die Sprachmelodie integrieren.
Ich sehe dich - / du winkst mir zu
Danach wird es schwieriger.
Grüße vom Jongleur
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo mako, hallo Jongleur,

gute Gedanken habt ihr hinterlassen. Werde mir den Text noch einmal vornehmen und mich wieder bei euch melden.....

Vielen Dank Otto
 



 
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