Leeres Herz

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Prolog
Tränen kennzeichnen die Trauer. Sie fließen ohne Zutun, solange bis sie versiegen.
Ich bin vertrocknet. Der Fluss ist über die Ufer getreten. Das Wasser hat alles mit sich gerissen.
Jetzt ist da nur noch der Lauf, der Vergangenes erinnert.
Trauer ist ergebnislos. Sie mürbt und schleift. Man muss sie bekämpfen, loswerden und ersetzen. Man muss alle Spiegel und Fotos abnehmen.
Erst dann ist man wieder frei…



Helene Gosslar saß in ihrem Lehnstuhl im Dunkel. Die schweren Vorhänge ließen kein Sonnenlicht herein. Neben sich auf dem Beistelltischchen stand Helenes Teeservice, das Kännchen mit dem plumpen Bauch und dem schlanken Hals, die filigrane Tasse mit Goldrand.
Helene kaute an einem Stück trockenen Zuckerkuchen.
Die Zeiten, in denen sie mit Friedrich zusammen zu Mittag gegessen hatte, waren lange vorbei.
Sie kochte nicht mehr. Manchmal am Wochenende bestellte sie etwas beim Menüdienst. Manchmal, ganz selten ging sie vor die Tür.
Der Nachbarsjunge brachte ihr den Einkauf, den Zuckerkuchen, manchmal blieb er und verrichtete kleinere Arbeiten. Helene sah ihm dann zu und schwelgte in Gedanken an Jugendlichkeit.
Auf der Motten zerfressenden Decke über dem Sofa lag Musch, die Katze, ein ebensolches Urgestein wie Helene selbst, der Bauch so dick, dass die Läufe wie Stumpen daran hervorschauten.
Musch liebte Zuckerkuchen, warme Milch und Sheba.
Helenes aß oft nicht mehr, als eine Scheibe Brot und ein halbes Stück Kuchen den ganzen Tag.
Das Haus unterlag dem Verfall, genau wie dessen Besitzerin. Im Garten wucherte das Unkraut, von den Wänden löste sich Tapete. Das Licht im Flur funktionierte schon seit einigen Monaten nicht.
Helene hatte keine Kinder, seit Friedrichs Tod war sie ganz allein. Einmal die Woche kam eine Schwester vom Pflegedienst, machte die Wäsche, erledigte ein paar Einkäufe, nur das Nötigste wurde getan und geredet. Helene war einsam, das Telefon nur Zierde. Sie wartete auf den Tag, an dem sie Friedrich folgen könnte, doch ihr Körper sträubte sich. Trotz Arthritis und beginnender Blindheit erfreute er sich noch immer der wichtigsten Funktionen.

Die Türglocke schellte, Helene sah auf. Musch öffnete kurz die Augen, streckte sich, blieb aber liegen. Helenes zittrige Hand stellte das Tässchen ab, mühsam erhob die alte Frau sich aus dem Stuhl.
Sie erwartete niemanden, vielleicht war es der Nachbarsjunge, der sich ein paar Mark verdienen wollte. Die gebeugte Dame tastete sich durch den dunklen Flur.
„Wer ist da?“, fragte sie durch den Spion. Erkennen konnte sie nichts, nur helle Schemen.
„Entschuldigen, Sie, mein Name ist Miriam!“
Helene stutzte. Sie wusste, dass man vorsichtig sein musste, niemanden Fremdes hereinlassen, aber die Stimme klang jugendlich, weich und vertrauenerweckend.
Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit und blickte auf schwarz lackierte Zehen, in Riemchensandalen. Ihre Augen wanderten die schlanken Beine empor, bis zum geblümten Rock, weiter hoch über die helle Bluse, in ein freundlich lächelndes Gesicht mit braunen Augen, unter fein geschwungenen Brauen.
„Sie wünschen?“, fragte Helene überrascht, fast ängstlich.
„Hallo, Frau äh …“, das Mädchen warf einen Blick auf das Türschild, „ Frau Gosslar.
Ich bin neu in der Stadt und suche eine Unterkunft! Ich habe nichts zu bieten, außer meiner Arbeitskraft, vielleicht benötigen sie Hilfe? Ich könnte den Garten auf Vordermann bringen, oder ihnen im Haus helfen. Sie müssen mir nichts zahlen! Ich brauche nur ein Zimmer und ein Bett.“
Die junge Frau wirkte schüchtern. Sie hatte die Hände vor dem Bauch verschränkt und die Finger drehten sich umeinander. Helene starrte ihr entgegen. Sie sah das Gesicht verschwommen, wie ein unscharfes Foto, doch die braunen Augen riefen irgendeine Erinnerung in ihr wach.
„Wer sind sie? Warum klingeln sie hier?“, fragte Helene weniger freundlich zurück. Die Tür blieb nur den Spalt geöffnet. Der Lärm von der Straße drang ins Haus, erfüllte es mit vermisstem Leben.
„Ich bin neu in der Stadt! Ich studiere Kunst auf der Lehnitz Universität. Die Mieten sind teuer, das Schulgeld ist es auch, und ich möchte nicht in eine dieser Studenten WGs, wo die andauernd feiern und trinken. Das Studium ist mir sehr wichtig.“ Sie legte die rechte Hand auf eine Stelle oberhalb der Brust. „Ich wohne im Hostel an der Quedlinburger, mein Erspartes neigt sich langsam dem Ende und nun suche ich seit ein paar Wochen per Inserat eine Bleibe. Jemanden, der Hilfe benötigt und mir dafür freie Logis bietet.“
„Warum klingeln sie bei mir?“, fragte Helene noch einmal. Sie wollte die Tür schließen, ihr Tee würde kalt werden.
„Ich bin schon öfter an ihrem Haus vorbeigekommen, es liegt auf dem Weg zur Uni; und ich habe ihren Garten gesehen, da hat schon lange niemand mehr etwas getan. Ich dachte, sie könnten vielleicht Hilfe brauchen!“
„Ich brauche keine Hilfe!“, gab Helene erbost zurück. Sie wollte niemanden im Haus haben. Sie hatte sich an die Einsamkeit gewöhnt. Friedrich war seit drei Jahren tot, menschliche Nähe war Helene seit dem zuwider.
„Warten sie!“, rief das Mädchen aus. Sie war hartnäckig, blickte Helene mit den braunen Augen an, regte irgendetwas in der verhärmten Frau, das sie nicht erklären konnte.
„Ich kann ihnen nichts zahlen!“, wiegelte Helene ab.
„Das müssen sie nicht! Ich brauche nur ein Zimmer und ein Bett! Sie haben ein großes Haus. So ein Haus macht viel Arbeit.“ Die warme Stimme drang wohltuend an Helenes Ohren, die sonst nur den verzerrten Klang der Nachrichtensprecherin vernahmen. Der Nachbarsjunge sprach Spanisch, man verstand sich ohne Worte. Die Pflegerin hängte tonlos die Wäsche auf.
Dieses Mädchen war gut gekleidet, hatte glänzende, rötlich braune Haare, die es zu einem langen Zopf gebunden hatte. Das Gesicht war offen und freundlich, die Zähne strahlend weiß.
Helene fasste Vertrauen. „Das müssen wir drinnen besprechen“, hörte sie sich sagen und schob die Tür auf. Helene ging voraus, das Mädchen folgte ihr in die karge Wohnstube.
Es setze sich neben Musch auf das Sofa. Die Katze machte sich, nicht erfreut über ungebetene Gäste, von dannen. Helene sank in ihren Stuhl, musterte das Mädchen abschätzig, wie es den Rucksack auf den Schoß legte und sich umsah.
„Sie sind ja ganz allein hier, in diesem riesigen Haus!“ Ihre Stimme klang überrascht, vielleicht auch wehmütig. Helene räusperte sich. Sie nahm einen Schluck Tee.
„Mein Mann ist verstorben“, sagte sie.
„Haben sie denn gar keine Hilfe? Keine Kinder, oder Enkel?“
Helenes Hand zitterte mit der Tasse. „Nein!“
Das Mädchen merkte, dass dieses Thema der alten Frau zu schaffen machte, es lenkte ein: „Hier ist eine Menge zu tun!“ Wieder ließ es den Blick schweifen. „Ich könnte ihnen zur Hand gehen, wirklich!“
Helene starrte misstrauisch aus müden Augen. Sie setzte die Tasse ab, tat einen schweren Atemzug.
„Oben habe ich ein ungenutztes Zimmer, Friedrichs Arbeitszimmer. Es steht eine kleine Couch drin, manchmal hat er dort oben geschlafen, wenn es zu spät wurde und er mich nicht stören wollte“, sinnierte sie. Die Augen des Mädchens lagen auf dem verblichenen Bilderrahmen in der Vitrine, neben dem Fenster. „Ist das dort ihr Mann?“, fragte es.
Helene folgte dem ausgestreckten Arm. Sie nickte, trank einen Schluck Tee.
„Ich kann ihnen nichts zahlen! Ich habe nur eine kleine Rente, ohne die Witwenrente, hätte ich das Haus schon verkaufen müssen“, sagte sie und füllte etwas Milch in ihr Tässchen.
„Oh, das ist nicht schlimm, wirklich nicht! Ich sagte doch, ich brauche nichts weiter, als freie Logis!
In den Abendstunden arbeite ich in einer kleinen Bar in der Nähe der Uni. Dreimal die Woche für vier Stunden, das Geld reicht für Essen und Kleidung. An den anderen Tagen könnte ich mich hier nützlich machen.“
„Möchten sie das Zimmer sehen?“, fragte Helene und staunte über ihre eigenen Worte.

Die Stufen knarrten unter den vielen Schritten. Helenes Hände auf dem Geländer zogen das Holz wieder blank. Das Mädchen blieb schüchtern in der Tür stehen, als Helene den Blick auf teilweise verhangenes Mobiliar freigab.
„Ich war schon lange nicht mehr hier oben“, sagte die alte Frau mehr zu sich selbst.
Sie ging zum Fenster und zog die Gardinen auf. Staubflocken tanzten im Zimmer. Es roch alt und muffig. „Man könnte was draus machen“, stellte das Mädchen fest.
Helene spürte ihr müdes Herz holpern. Sie glaubte, Frank vor dem Schreibtisch sitzen zu sehen, die Brille über der Brust hängend, wie er sich über die angestrengten Augen fuhr, ans Fenster ging und eine Zigarette rauchte. Der Aschenbecher stand noch draußen auf dem Fensterbrett, von dem der alte Lack abplatzte.
Helene bereute ihre Entscheidung. Sie verdrängte das Bild und sagte: „Vielleicht sollten sie gehen!“ Das Mädchen tat einen Schritt ins Zimmer. „Sie brauchen Hilfe, Frau Gosslar und ich ebenfalls!
Wir könnten uns gegenseitig helfen! Ich bin fleißig und ehrlich! Geben sie mir eine Chance!“
Es strich mit dem Finger über die verstaubte Kommode. „Hier muss geputzt werden, genauso wie unten! In zwei Wochen hätte ich das Haus wieder in Schuss, glauben sie mir!“
Helenes Gedanken schweiften ab. Sie blickte auf den Kirschbaum hinter dem Fenster. Auch dieses Jahr würden die Stare und Krähen sich alles holen. Helene hatte schon lange keine Kirschen mehr gegessen, auf dem Markt waren sie zu teuer. Sie nickte mühselig, das Mädchen reichte ihr die zarte Hand.

Sie war wirklich fleißig.
Schon innerhalb der ersten Tage hatte sie das ganze Haus in einen heimeligen Zustand versetzt.
Sie hatte alles entstaubt, gewischt, die Vorhänge abgenommen und gewaschen, und die Fenster geputzt.
Nur die Vitrine durfte sie nicht berühren. Helene wachte darüber, wie über einen Schatz.
Die Vormittage verbrachte das Mädchen an der Universität, an den Nachmittagen wirbelte sie durch das Haus, freitags, samstags und mittwochs arbeitete sie in der Bar.
Miriam hatte nicht zu viel versprochen. Das Haus lebte auf. Es war, als würde es wieder atmen, befreit von all dem Staub und der Dunkelheit.
Miriam reparierte das Flurlicht. Helene staunte über das geschickte und tatkräftige Mädchen.
Der Nachbarsjunge musste auf seinen Zuverdienst verzichten. Helene kündigte die Pflegschaft, übertrug sie auf Miriam.
Besser gesagt, das Mädchen übernahm das. Es gab nichts, das es nicht hinbekam.
Zwischen Lernen, arbeiten und putzen, richtete es sich das Zimmer her, besorgte eine gut erhaltene Hollywoodschaukel für die Terrasse.
Nie lud Miriam sich Freunde ein, hörte laute Musik, oder hatte Männerbesuch, nie missbrauchte sie Helenes Vertrauen.
Sie werkelte im Garten, kaufte ein, verwandelte Helenes Leben, durchflutete alles mit neuem Licht.
Nur die Beziehung der Beiden blieb stets befremdlich. Helene wollte niemanden an sich heranlassen. Sie lebten im selben Haus, aber sie lebten getrennte Leben.
Wenn Miriam ihren Verrichtungen nachging, saß Helene jetzt oft im Garten auf der Hollywoodschaukel und spürte die warmen Sonnenstrahlen.
Manchmal, an den Wochenenden kam Miriam und bot an, zusammen zu Mittag zu essen, oder sie brachte Zuckerkuchen, schlug vor, Kaffee zu trinken.
Jedes Mal lehnte Helene ab.
Noch immer war die Mauer um Helene herum standhaft wie ein Fels in stürmischer Brandung. Miriam konnte zwar das Haus vom Staub befreien, nicht jedoch die alte Frau von ihrer Angst, Trauer und gewollten Einsamkeit.
Ihre Gespräche beschränkten sich auf den Einkauf, ein guten Morgen oder gute Nacht.
Miriam lernte oben in ihrem Zimmer. Helene saß unten in ihrem Lehnstuhl und verspürte manchmal ein Gefühl von Sehnsucht.
Jeder Versuch Miriams, der alten Dame näherzukommen, erlag der vortrefflich angeeigneten Widerborstigkeit. Doch das Mädchen hatte eine Art, diese Schale aufzubrechen, ganz langsam und stetig, wie ein Tropfen einen Stein höhlt.
Ihre frische, freundliche, nie garstige Art erreichte etwas, das tief in Helene vergraben und vielleicht auch zusammen mit Friedrich gestorben war; und die alte Frau merkte kaum, wie das Mädchen sich immer weiter voran schlich, ob gewollt oder nur dem Naturell entsprechend.

„Kommen sie doch mit in den Park!“, sagte Miriam an einem Tag.
Helene saß auf der Hollywoodschaukel. Das Mädchen hatte ihr einen Tee gemacht. Musch döste auf dem kühlen Stein der Auffahrt in der Sonne.
„Es ist wunderbar dort! Wir könnten spazieren gehen und die schönen Rabatten dort genießen.“
Miriams Haare leuchteten in der Sonne. Helene fand, sie sah fast wie ein Engel aus. Sie glänzte von außen und von innen. „Ich bin müde“, winkte Helene ab. Sie schirmte die Hand über die Augen, nippte an ihrer Tasse. „Sie müssen mal raus, Helene! Sie brauchen Abwechslung! Menschen um sich herum, andere Bilder! Warum sind sie so stur und in sich gekehrt?“
Helene wandte sich ab. Die Fragen wurden ihr zu persönlich. Sie verschränkte die dünnen Arme vor der Brust, zog die Brauen tief in die Stirn.
„Ich denke nicht, dass sie das etwas angeht!“, erwiderte sie schroff.
„Kommen sie, Helene, ich wohne jetzt fast ein halbes Jahr bei Ihnen und immer noch tun sie, als wären wir Fremde. Anfangs wollten sie auch mein Angebot, bei ihnen einzuziehen nicht annehmen. Haben sie es etwas bereut?“, fragte Miriam leichthin. Sie ging in die Hocke und strich Musch über das Fell. Dieser Anblick zeigte Helene wieder ein Bild, das sie glaubte zu kennen, und doch nicht einordnen konnte.
„Ich fühle mich wohl bei Ihnen! Sie haben mir sehr geholfen und ich möchte mich revanchieren!
Ein Spaziergang wird ihnen guttun!“
Helene brachte die Hollywoodschaukel in Gang. Sie schwang hin und her, genauso wie ihr Gefühl dem Vorschlag gegenüber.
„Kommen sie!“, sagte Miriam und griff an den altersschwachen Arm. „Kommen sie schon!“
Helenes Gegenwehr schmolz unter der unerwünschten und doch lang vermissten Berührung warmer, weicher Hände. Sie spürte ihre Beine sich plötzlich wie von selbst bewegen. Der laue Wind wehte um ihren Leinenrock, das Gras kitzelte an den Knöcheln, als sie von Miriam durch den Garten geleitet wurde. „Kommen sie Helene, es ist toll im Park!“, jauchzte das Mädchen wie ein unbefangenes Kind.

Sie blieben, bis es dunkel wurde. Helene sah sich satt an den farbenfrohen Blumen, an dem lebensfrohen Mädchen. Sie spürte, wie die Schale Risse bekam. Wie das Lächeln Miriams in der Sonne, leise in ihr verkrustetes Herz drang und es in der Brust summte und nachhallte, als würde jemand eine Stimmgabel der Freude im alten Leib anschwingen.
Miriam alberte herum, schlug Räder, versuchte die alte, verbitterte Frau zum Lachen zu bringen.
Und tatsächlich zeigte sich in den letzten Sonnenstrahlen ein winziges Lächeln auf den verkniffenen Lippen, das zwar schnell wieder verschwunden, doch ganz sicher da gewesen war.
In dieser Nacht schlief Helene tief und unverkrampft, mit milden Zügen.

Der Widerstand war gebrochen.
Dem Parkspaziergang folgten ein Besuch im Tierpark und die Begehung des Ulschtriner Schlosses. Neben Miriam, glaubte Helene wieder jung zu werden.
Das Mädchen bereitete ihr den Weg zurück ins Leben. Ohne Anstrengung riss es die Mauer ab, Stein um Stein, Zentimeter um Zentimeter und legte die alte Helene frei.
Die Frau, die getanzt und gesungen hatte. Die Schlittschuh auf dem gefrorenen See gefahren war, trotz aller Warnungen. Die Frau, die mit ihrem schönsten Kleid ins eiskalte Wasser gesprungen war.

Miriam kochte jetzt für sie beide und dann aßen sie auf der Terrasse, begleitet von Vogelgesang und hellem Kinderlachen.
Bald spürte Helene eine ganz andere Einsamkeit, die, wenn Miriam in der Uni oder bei der Arbeit war. Dann war es, als fehlte etwas im Haus, als würden die Tapeten vor Sorge ächzen, als würde sich der Himmel zuziehen und die Sonne aussperren.
Helene hatte sich geöffnet und damit verletzbar gemacht.
Etwas, dem sie sich so gesträubt hatte, hatte ihr jetzt doch, von hinten wie ein Dieb die Härte aus dem Herz gestohlen.
Sie bemerkte, wie sie angespannt auf das kleinste Geräusch hörte, und aller Druck von ihr abfiel, wenn der Schlüssel sich im Schloss drehte und Miriam endlich nach Hause kam.
Wie sie ungeduldig immer wieder zur Uhr sah, wenn das Mädchen sich verspätete.
Sie ertappte sich dabei, wie sie die Treppe hochschlich und das Ohr an die Tür legte, wenn Miriam für ihr Studium lernte, dass ihr der Tee nicht mehr schmeckte, wenn die junge Frau ihr nicht gegenübersaß, auf dem Gesicht dieses milde Engelslächeln, das Helene alle Trauer vergessen ließ.

„Warum haben sie eigentlich keine Kinder?“, fragte Miriam, den Mund voller Sahne, die sie vom Zuckerkuchen gekratzt hatte. Helene verschluckte sich am Tee, hustete, bekam einen mitleidsvollen Blick von dem Mädchen. Sie rührte Milch in ihre Tasse, ihre Augen verloren sich im Strudel.
„Ich wollte immer welche haben!“, sagte sie tonlos. Musch strich unter dem Tisch um ihre Beine.
Das Fell knisterte elektrisch aufgeladen.
„Und warum haben sie keine?“ Miriam schob ein Stück Kuchen hinterher, kaute routiniert, als sprächen sie über das Wetter.
Helene holte tief Luft, ihre Hände zitterten und sie bekam sie nicht unter Kontrolle.
„Ich hatte eine Tochter“, die Worte kamen zäh über ihre Lippen.
Miriam horchte auf. Sie legte ihre Kuchengabel beiseite, bedachte Helene mit einem seltsamen Blick, der ihr in die Magengrube zu stechen schien.
„Ich war jung, sehr jung und naiv.“ Helene legte die zitternden Hände in den Schoß.
„Friedrich und ich lernten uns auf einem Fest kennen. Damals waren die Mädchen noch schüchtern und warteten auf einen guten Ehemann“, sie holte erneut tief Luft und las in Miriams Gesicht, wusste nicht, ob sie dem Mädchen davon erzählen sollte.
„Friedrich war ein Herzensbrecher, er hat meines im Sturm erobert. Alles an ihm war das, was ich wollte. Er war gut aussehend, gebildet. Er war der Mann meiner Träume.“
Miriam lehnte sich zurück. Sie strich eine Falte aus ihrer Hose und verschränkte dann die Arme vor dem Bauch. Es schien, als wären alle Vögel plötzlich verstummt.
„Wir waren jung, wir hatten alles vor uns. Friedrich wollte ein Wirtschaftsstudium beginnen, um die Welt reisen. Wir wollten heiraten.“ Helene brach ab. Sie fixierte einen Punkt hinter Miriam, als könnte sie dort die alten Zeiten wieder bildlich werden lassen.
„Ich wollte Anglistik studieren, hatte einen Durchschnitt von 1,3. Alles schien perfekt zu sein.“
„Was ist passiert?“ In Miriams immer freundlichem Gesicht zeigte sich ein Hauch von Anspannung.
„Ich wurde schwanger“, sagte Helene. Ihre Stimme war nur ein Flüstern.
„Ich wurde schwanger und bemerkte es viel zu spät.“
Miriam räusperte sich. Sie hatte eine Gänsehaut auf den nackten Armen. Es wurde kühl im Garten, die Sonne versteckte sich hinter einer Wolke.
„Es gab kein zurück mehr. Ich erzählte Friedrich davon.“
Für ein paar Minuten schwieg Helene, auch Miriam sagte nichts. Nur das Vogelzwitschern war jetzt wieder zu hören, irgendwo hupte ein Auto.
„Er rastete vollkommen aus, sagte, er würde sich nicht die Zukunft verbauen lassen.“
An Helenes Wange schlich sich eine Träne herunter zum Mundwinkel. Sie strich sie nicht fort.
„Er drohte, mich zu verlassen …“
Wieder räusperte sich Miriam, sie begann die Kuchenteller aufeinander zu stellen, als wolle sie das Gespräch abbrechen.
„Sie haben sie weggeben!“, diese Feststellung kam ohne Betonung. Nur im Gesicht des Mädchens zeigte sich kaum merklich etwas wie Ablehnung.
„Ja, ich habe sie weggeben! Ich wollte Friedrich nicht verlieren! Ich habe ihn über alles geliebt!“
„Mehr, als ihr eigenes Kind?“, fragte Miriam.
Ihr Verständnis für diese Entscheidung schien nicht vorhanden. Helene fühlte sich klein und schäbig. Sie wünschte sich, dem Mädchen nicht davon erzählt zu haben.
Sie sah die Zuwendung der jungen Frau unabänderlich fortschwimmen, wie ein Boot, das man unfertig zu Wasser gelassen hatte; und das jetzt in den Fluten versank.
„Ich habe es bereut, mein ganzes Leben habe ich es bereut!“, versuchte Helene sich zu verteidigen.
Miriam blieb stumm. Sie stapelte die Tassen, das Milchkännchen und die Kanne auf das Serviertablett, wischte sich die Hände an der Jeans, sah Helene nicht an.
„Wissen sie, was mit ihr passiert ist? Ich meine, wo sie hinkam? In welche Familie?“
„Sie kam in eine gute Familie, ein gut situiertes Ehepaar, das keine Kinder haben konnte. Anfangs hielt ich mit den Behörden Kontakt, sie schickten mir Fotos. Dann verbot mir Friedrich den Kontakt. Er sagte, ich würde mich selbst quälen. Ich soll es vergessen und zur Ruhe kommen.“
„Und sie haben nie versucht, sie zu finden? Niemals nachgeforscht? Auch nicht, nachdem ihr Mann gestorben war?“ Miriams Stimme erschien Helene wieder weicher.
„Nein, ich habe es nie versucht! Es hat so schrecklich wehgetan! Ich habe versucht, es zu vergessen!“
Helenes Augen ruhten auf einem Loch im verwitterten Holztisch.
„Das muss schwer für sie gewesen sein! Das tut mir leid!“, sagte Miriam knapp.
Sie stand auf und balancierte das Tablett in die Küche. Die Katze tippelte neben ihr her, in der Hoffnung auf Reste.
Helene blieb draußen sitzen, bis die Laternen aufleuchteten.

Seit Helenes Geständnis, schien die junge Frau sich ihr Gegenüber zu verändern.
Noch immer hielt sie das Haus in Schuss, kümmerte sich um den Garten, doch die gemeinsamen Stunden waren nun angefüllt von einer seltsamen Wortlosigkeit; und die Stille zog wie ein Stein um den Hals an Helenes Gemüt.
Immer öfter blieb sie allein im Haus zurück, wenn Miriam Ausflüge unternahm.
Manchmal kam das Mädchen nach der Uni nicht nach Hause, erst spät in der Nacht, wenn Helene wach in ihrem Bett lag und beim Geräusch des Schlüssels zusammenzuckte.
Einmal kam es mit Freunden, laute, ungehobelte Gesellen, die durch Helenes Flur trampelten und ihren alkoholgeschwängerten Atem darin hinterließen.
Helene hatte ihren Abstand eingebüßt. Sie konnte nichts sagen. Nahm es einfach hin, ließ das Mädchen gewähren, als wäre sie selbst nur geduldet.
Über sich hörte Helene das Grölen und Stöhnen, ein methodisches Knarren des Lattenrostes der alten Couch dort oben.
Sie stand auf und ging ins Wohnzimmer. Musch lag dort auf dem Sofa.
Helene hob die Katze an ihre Brust, wie eine Mutter ihren Säugling. Sie wanderte so in der Stube auf und ab. Ihre rechte Hand strich mechanisch über den Kopf der Katze.
Die Stufen knarrten. Miriam erschien auf der Treppe, die Haare wild zerzaust, nur im Schlüpfer, der so knapp war, dass er ihre Pobacken entblößte.
Sie warf Helene einen unverwandten Blick entgegen. Die Augen wanderten zur getragenen Katze.
„Entschuldige, haben wir dich geweckt?“, fragte sie, ohne Interesse. Helene erwiderte nichts.
In ihrem Hals schien ein Kloß die Stimme zu versagen.
Sie blickte dem aufreizenden Po hinterher, der im Dunkel der Küche hell leuchtete.

Drei Tage später fand Helene Musch im Vorgarten unter der Hollywoodschaukel, ohne Augen in den Höhlen. Ein paar Krähenfedern lagen neben dem toten Körper.
Sie brach zusammen. Miriam war nicht da, um sie aufzufangen.
Erst spät am Abend kam sie nach Hause, ihre Haare waren raspelkurz.
Sie hatte sie blond gefärbt. Der Mund war rot geschminkt. So rot, wie die Kirschen vor Friedrichs Fenster.
„Musch ist tot!“, sagte Helene, bevor das Mädchen die Treppe erklommen hatte.
Miriam hielt inne. Sie drehte sich um, ihr Blick verriet keine Regung.
„Das tut mir leid für dich! Sie war ja auch schon alt“, sagte sie, als wäre dieser Trost ausreichend.
„Die Krähen haben sie geholt. Sie lag unter der Schaukel. Sie haben ihr die Augen ausgehackt!“
Helene stand starr. Sie wirkte wie ein Gespenst in ihrem weißen Nachthemd.
Miriam kam die Treppe herunter, ganz dicht an Helene heran.
Die alte Frau spürte die Anwesenheit in jeder Faser, glaubte den Atem auf ihrem Gesicht.
Als Miriam die Arme um den gebrechlichen Körper legte, zitterten die morschen Knie unterm Saum des Nachthemdes.
„Das tut mir leid, Helene, das tut mir wirklich leid! Es ist schlimm, wenn einem das Liebste genommen wird. Da ist ein Loch, das man nicht füllen kann.“
Helene wurde weich unter der Umarmung. Sie begann zu weinen, all die Trauer der Jahre schien sich jetzt, in den Armen des Mädchens einen Weg aus ihrem Körper zu suchen.
„Weine ruhig, lass es raus. Du musst weinen, bis die Tränen versiegen und nur noch Erinnerung sind, solange bis du den Schmerz besiegen kannst.“
Helene hörte den seltsamen Klang in der Stimme nicht. Sie sah nicht die düsteren Augen, die sich in das Bild in der Vitrine bohrten.
Am nächsten Morgen war Miriam verschwunden. Das Zimmer und die Schränke waren leer.
Einen Monat später starb Helene an gebrochenem Herzen.



Trauer ist ergebnislos. Sie verscheucht keine gierigen Väter, die heimlich in das Zimmer kommen.
Sie schenkt dir keine Mutterliebe. Sie verschleiert nur den Wunsch nach dem Leben, das dir eigentlich zustehen sollte.
Deines war eine Lüge, die mich auf dem Gewissen hat. Wenn einem das Liebste genommen wird, noch bevor man es wertschätzen konnte, muss man das Loch alleine füllen.
Doch nicht mit Tränen, Tränen sind ergebnislos …
 
Prolog
Tränen kennzeichnen die Trauer. Sie fließen ohne Zutun, solange bis sie versiegen.
Ich bin vertrocknet. Der Fluss ist über die Ufer getreten. Das Wasser hat alles mit sich gerissen.
Jetzt ist da nur noch der Lauf, der Vergangenes erinnert.
Trauer ist ergebnislos. Sie mürbt und schleift. Man muss sie bekämpfen, loswerden und ersetzen. Man muss alle Spiegel und Fotos abnehmen.
Erst dann ist man wieder frei…



Helene Gosslar saß in ihrem Lehnstuhl im Dunkel. Die schweren Vorhänge ließen kein Sonnenlicht herein. Neben sich auf dem Beistelltischchen stand Helenes Teeservice, das Kännchen mit dem plumpen Bauch und dem schlanken Hals, die filigrane Tasse mit Goldrand.
Helene kaute an einem Stück trockenen Zuckerkuchen.
Die Zeiten, in denen sie mit Friedrich zusammen zu Mittag gegessen hatte, waren lange vorbei.
Sie kochte nicht mehr. Manchmal am Wochenende bestellte sie etwas beim Menüdienst. Manchmal, ganz selten ging sie vor die Tür.
Der Nachbarsjunge brachte ihr den Einkauf, den Zuckerkuchen, manchmal blieb er und verrichtete kleinere Arbeiten. Helene sah ihm dann zu und schwelgte in Gedanken an Jugendlichkeit.
Auf der Motten zerfressenden Decke über dem Sofa lag Musch, die Katze, ein ebensolches Urgestein wie Helene selbst, der Bauch so dick, dass die Läufe wie Stumpen daran hervorschauten.
Musch liebte Zuckerkuchen, warme Milch und Sheba.
Helenes aß oft nicht mehr, als eine Scheibe Brot und ein halbes Stück Kuchen den ganzen Tag.
Das Haus unterlag dem Verfall, genau wie dessen Besitzerin. Im Garten wucherte das Unkraut, von den Wänden löste sich Tapete. Das Licht im Flur funktionierte schon seit einigen Monaten nicht.
Helene hatte keine Kinder, seit Friedrichs Tod war sie ganz allein. Einmal die Woche kam eine Schwester vom Pflegedienst, machte die Wäsche, erledigte ein paar Einkäufe, nur das Nötigste wurde getan und geredet. Helene war einsam, das Telefon nur Zierde. Sie wartete auf den Tag, an dem sie Friedrich folgen könnte, doch ihr Körper sträubte sich. Trotz Arthritis und beginnender Blindheit erfreute er sich noch immer der wichtigsten Funktionen.

Die Türglocke schellte, Helene sah auf. Musch öffnete kurz die Augen, streckte sich, blieb aber liegen. Helenes zittrige Hand stellte das Tässchen ab, mühsam erhob die alte Frau sich aus dem Stuhl.
Sie erwartete niemanden, vielleicht war es der Nachbarsjunge, der sich ein paar Mark verdienen wollte. Die gebeugte Dame tastete sich durch den dunklen Flur.
„Wer ist da?“, fragte sie durch den Spion. Erkennen konnte sie nichts, nur helle Schemen.
„Entschuldigen, Sie, mein Name ist Miriam!“
Helene stutzte. Sie wusste, dass man vorsichtig sein musste, niemanden Fremdes hereinlassen, aber die Stimme klang jugendlich, weich und vertrauenerweckend.
Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit und blickte auf schwarz lackierte Zehen, in Riemchensandalen. Ihre Augen wanderten die schlanken Beine empor, bis zum geblümten Rock, weiter hoch über die helle Bluse, in ein freundlich lächelndes Gesicht mit braunen Augen, unter fein geschwungenen Brauen.
„Sie wünschen?“, fragte Helene überrascht, fast ängstlich.
„Hallo, Frau äh …“, das Mädchen warf einen Blick auf das Türschild, „ Frau Gosslar.
Ich bin neu in der Stadt und suche eine Unterkunft! Ich habe nichts zu bieten, außer meiner Arbeitskraft, vielleicht benötigen sie Hilfe? Ich könnte den Garten auf Vordermann bringen, oder ihnen im Haus helfen. Sie müssen mir nichts zahlen! Ich brauche nur ein Zimmer und ein Bett.“
Die junge Frau wirkte schüchtern. Sie hatte die Hände vor dem Bauch verschränkt und die Finger drehten sich umeinander. Helene starrte ihr entgegen. Sie sah das Gesicht verschwommen, wie ein unscharfes Foto, doch die braunen Augen riefen irgendeine Erinnerung in ihr wach.
„Wer sind sie? Warum klingeln sie hier?“, fragte Helene weniger freundlich zurück. Die Tür blieb nur den Spalt geöffnet. Der Lärm von der Straße drang ins Haus, erfüllte es mit vermisstem Leben.
„Ich bin neu in der Stadt! Ich studiere Kunst auf der Lehnitz Universität. Die Mieten sind teuer, das Schulgeld ist es auch, und ich möchte nicht in eine dieser Studenten WGs, wo die andauernd feiern und trinken. Das Studium ist mir sehr wichtig.“ Sie legte die rechte Hand auf eine Stelle oberhalb der Brust. „Ich wohne im Hostel an der Quedlinburger, mein Erspartes neigt sich langsam dem Ende und nun suche ich seit ein paar Wochen per Inserat eine Bleibe. Jemanden, der Hilfe benötigt und mir dafür freie Logis bietet.“
„Warum klingeln sie bei mir?“, fragte Helene noch einmal. Sie wollte die Tür schließen, ihr Tee würde kalt werden.
„Ich bin schon öfter an ihrem Haus vorbeigekommen, es liegt auf dem Weg zur Uni; und ich habe ihren Garten gesehen, da hat schon lange niemand mehr etwas getan. Ich dachte, sie könnten vielleicht Hilfe brauchen!“
„Ich brauche keine Hilfe!“, gab Helene erbost zurück. Sie wollte niemanden im Haus haben. Sie hatte sich an die Einsamkeit gewöhnt. Friedrich war seit drei Jahren tot, menschliche Nähe war Helene seit dem zuwider.
„Warten sie!“, rief das Mädchen aus. Sie war hartnäckig, blickte Helene mit den braunen Augen an, regte irgendetwas in der verhärmten Frau, das sie nicht erklären konnte.
„Ich kann ihnen nichts zahlen!“, wiegelte Helene ab.
„Das müssen sie nicht! Ich brauche nur ein Zimmer und ein Bett! Sie haben ein großes Haus. So ein Haus macht viel Arbeit.“ Die warme Stimme drang wohltuend an Helenes Ohren, die sonst nur den verzerrten Klang der Nachrichtensprecherin vernahmen. Der Nachbarsjunge sprach Spanisch, man verstand sich ohne Worte. Die Pflegerin hängte tonlos die Wäsche auf.
Dieses Mädchen war gut gekleidet, hatte glänzende, rötlich braune Haare, die es zu einem langen Zopf gebunden hatte. Das Gesicht war offen und freundlich, die Zähne strahlend weiß.
Helene fasste Vertrauen. „Das müssen wir drinnen besprechen“, hörte sie sich sagen und schob die Tür auf. Helene ging voraus, das Mädchen folgte ihr in die karge Wohnstube.
Es setze sich neben Musch auf das Sofa. Die Katze machte sich, nicht erfreut über ungebetene Gäste, von dannen. Helene sank in ihren Stuhl, musterte das Mädchen abschätzig, wie es den Rucksack auf den Schoß legte und sich umsah.
„Sie sind ja ganz allein hier, in diesem riesigen Haus!“ Ihre Stimme klang überrascht, vielleicht auch wehmütig. Helene räusperte sich. Sie nahm einen Schluck Tee.
„Mein Mann ist verstorben“, sagte sie.
„Haben sie denn gar keine Hilfe? Keine Kinder, oder Enkel?“
Helenes Hand zitterte mit der Tasse. „Nein!“
Das Mädchen merkte, dass dieses Thema der alten Frau zu schaffen machte, es lenkte ein: „Hier ist eine Menge zu tun!“ Wieder ließ es den Blick schweifen. „Ich könnte ihnen zur Hand gehen, wirklich!“
Helene starrte misstrauisch aus müden Augen. Sie setzte die Tasse ab, tat einen schweren Atemzug.
„Oben habe ich ein ungenutztes Zimmer, Friedrichs Arbeitszimmer. Es steht eine kleine Couch drin, manchmal hat er dort oben geschlafen, wenn es zu spät wurde und er mich nicht stören wollte“, sinnierte sie. Die Augen des Mädchens lagen auf dem verblichenen Bilderrahmen in der Vitrine, neben dem Fenster. „Ist das dort ihr Mann?“, fragte es.
Helene folgte dem ausgestreckten Arm. Sie nickte, trank einen Schluck Tee.
„Ich kann ihnen nichts zahlen! Ich habe nur eine kleine Rente, ohne die Witwenrente, hätte ich das Haus schon verkaufen müssen“, sagte sie und füllte etwas Milch in ihr Tässchen.
„Oh, das ist nicht schlimm, wirklich nicht! Ich sagte doch, ich brauche nichts weiter, als freie Logis!
In den Abendstunden arbeite ich in einer kleinen Bar in der Nähe der Uni. Dreimal die Woche für vier Stunden, das Geld reicht für Essen und Kleidung. An den anderen Tagen könnte ich mich hier nützlich machen.“
„Möchten sie das Zimmer sehen?“, fragte Helene und staunte über ihre eigenen Worte.

Die Stufen knarrten unter den vielen Schritten. Helenes Hände auf dem Geländer zogen das Holz wieder blank. Das Mädchen blieb schüchtern in der Tür stehen, als Helene den Blick auf teilweise verhangenes Mobiliar freigab.
„Ich war schon lange nicht mehr hier oben“, sagte die alte Frau mehr zu sich selbst.
Sie ging zum Fenster und zog die Gardinen auf. Staubflocken tanzten im Zimmer. Es roch alt und muffig. „Man könnte was draus machen“, stellte das Mädchen fest.
Helene spürte ihr müdes Herz holpern. Sie glaubte, Friedrich vor dem Schreibtisch sitzen zu sehen, die Brille über der Brust hängend, wie er sich über die angestrengten Augen fuhr, ans Fenster ging und eine Zigarette rauchte. Der Aschenbecher stand noch draußen auf dem Fensterbrett, von dem der alte Lack abplatzte.
Helene bereute ihre Entscheidung. Sie verdrängte das Bild und sagte: „Vielleicht sollten sie gehen!“ Das Mädchen tat einen Schritt ins Zimmer. „Sie brauchen Hilfe, Frau Gosslar und ich ebenfalls!
Wir könnten uns gegenseitig helfen! Ich bin fleißig und ehrlich! Geben sie mir eine Chance!“
Es strich mit dem Finger über die verstaubte Kommode. „Hier muss geputzt werden, genauso wie unten! In zwei Wochen hätte ich das Haus wieder in Schuss, glauben sie mir!“
Helenes Gedanken schweiften ab. Sie blickte auf den Kirschbaum hinter dem Fenster. Auch dieses Jahr würden die Stare und Krähen sich alles holen. Helene hatte schon lange keine Kirschen mehr gegessen, auf dem Markt waren sie zu teuer. Sie nickte mühselig, das Mädchen reichte ihr die zarte Hand.

Sie war wirklich fleißig.
Schon innerhalb der ersten Tage hatte sie das ganze Haus in einen heimeligen Zustand versetzt.
Sie hatte alles entstaubt, gewischt, die Vorhänge abgenommen und gewaschen, und die Fenster geputzt.
Nur die Vitrine durfte sie nicht berühren. Helene wachte darüber, wie über einen Schatz.
Die Vormittage verbrachte das Mädchen an der Universität, an den Nachmittagen wirbelte sie durch das Haus, freitags, samstags und mittwochs arbeitete sie in der Bar.
Miriam hatte nicht zu viel versprochen. Das Haus lebte auf. Es war, als würde es wieder atmen, befreit von all dem Staub und der Dunkelheit.
Miriam reparierte das Flurlicht. Helene staunte über das geschickte und tatkräftige Mädchen.
Der Nachbarsjunge musste auf seinen Zuverdienst verzichten. Helene kündigte die Pflegschaft, übertrug sie auf das Mädchen.
Miriam erledigte den Schriftverkehr. Es gab nichts, das sie nicht hinbekam.
Zwischen Lernen, arbeiten und putzen, richtete sie sich das Zimmer her, besorgte eine gut erhaltene Hollywoodschaukel für die Terrasse.
Nie lud Miriam sich Freunde ein, hörte laute Musik, oder hatte Männerbesuch, nie missbrauchte sie Helenes Vertrauen.
Sie werkelte im Garten, kaufte ein, verwandelte Helenes Leben, durchflutete alles mit neuem Licht.
Nur die Beziehung der Beiden blieb stets befremdlich. Helene wollte niemanden an sich heranlassen. Sie lebten im selben Haus, aber sie lebten getrennte Leben.
Wenn Miriam ihren Verrichtungen nachging, saß Helene jetzt oft im Garten auf der Hollywoodschaukel und spürte die warmen Sonnenstrahlen.
Manchmal, an den Wochenenden kam Miriam und bot an, zusammen zu Mittag zu essen, oder sie brachte Zuckerkuchen, schlug vor, Kaffee zu trinken.
Jedes Mal lehnte Helene ab.
Noch immer war die Mauer um Helene herum standhaft wie ein Fels in stürmischer Brandung. Miriam konnte zwar das Haus vom Staub befreien, nicht jedoch die alte Frau von ihrer Angst, Trauer und gewollten Einsamkeit.
Ihre Gespräche beschränkten sich auf den Einkauf, ein guten Morgen oder gute Nacht.
Miriam lernte oben in ihrem Zimmer. Helene saß unten in ihrem Lehnstuhl und verspürte manchmal ein Gefühl von Sehnsucht.
Jeder Versuch Miriams, der alten Dame näherzukommen, erlag der vortrefflich angeeigneten Widerborstigkeit. Doch das Mädchen hatte eine Art, diese Schale aufzubrechen, ganz langsam und stetig, wie ein Tropfen einen Stein höhlt.
Ihre frische, freundliche, nie garstige Art erreichte etwas, das tief in Helene vergraben und vielleicht auch zusammen mit Friedrich gestorben war; und die alte Frau merkte kaum, wie das Mädchen sich immer weiter voran schlich, ob gewollt oder nur dem Naturell entsprechend.

„Kommen sie doch mit in den Park!“, sagte Miriam an einem Tag.
Helene saß auf der Hollywoodschaukel. Das Mädchen hatte ihr einen Tee gemacht. Musch döste auf dem kühlen Stein der Auffahrt in der Sonne.
„Es ist wunderbar dort! Wir könnten spazieren gehen und die schönen Rabatten dort genießen.“
Miriams Haare leuchteten in der Sonne. Helene fand, sie sah fast wie ein Engel aus. Sie glänzte von außen und von innen. „Ich bin müde“, winkte Helene ab. Sie schirmte die Hand über die Augen, nippte an ihrer Tasse. „Sie müssen mal raus, Helene! Sie brauchen Abwechslung! Menschen um sich herum, andere Bilder! Warum sind sie so stur und in sich gekehrt?“
Helene wandte sich ab. Die Fragen wurden ihr zu persönlich. Sie verschränkte die dünnen Arme vor der Brust, zog die Brauen tief in die Stirn.
„Ich denke nicht, dass sie das etwas angeht!“, erwiderte sie schroff.
„Kommen sie, Helene, ich wohne jetzt fast ein halbes Jahr bei Ihnen und immer noch tun sie, als wären wir Fremde. Anfangs wollten sie auch mein Angebot, bei ihnen einzuziehen nicht annehmen. Haben sie es etwas bereut?“, fragte Miriam leichthin. Sie ging in die Hocke und strich Musch über das Fell. Dieser Anblick zeigte Helene wieder ein Bild, das sie glaubte zu kennen, und doch nicht einordnen konnte.
„Ich fühle mich wohl bei Ihnen! Sie haben mir sehr geholfen und ich möchte mich revanchieren!
Ein Spaziergang wird ihnen guttun!“
Helene brachte die Hollywoodschaukel in Gang. Sie schwang hin und her, genauso wie ihr Gefühl dem Vorschlag gegenüber.
„Kommen sie!“, sagte Miriam und griff an den altersschwachen Arm. „Kommen sie schon!“
Helenes Gegenwehr schmolz unter der unerwünschten und doch lang vermissten Berührung warmer, weicher Hände. Sie spürte ihre Beine sich plötzlich wie von selbst bewegen. Der laue Wind wehte um ihren Leinenrock, das Gras kitzelte an den Knöcheln, als sie von Miriam durch den Garten geleitet wurde. „Kommen sie Helene, es ist toll im Park!“, jauchzte das Mädchen wie ein unbefangenes Kind.

Sie blieben, bis es dunkel wurde. Helene sah sich satt an den farbenfrohen Blumen, an dem lebensfrohen Mädchen. Sie spürte, wie die Schale Risse bekam. Wie das Lächeln Miriams in der Sonne, leise in ihr verkrustetes Herz drang und es in der Brust summte und nachhallte, als würde jemand eine Stimmgabel der Freude im alten Leib anschwingen.
Miriam alberte herum, schlug Räder, versuchte die alte, verbitterte Frau zum Lachen zu bringen.
Und tatsächlich zeigte sich in den letzten Sonnenstrahlen ein winziges Lächeln auf den verkniffenen Lippen, das zwar schnell wieder verschwunden, doch ganz sicher da gewesen war.
In dieser Nacht schlief Helene tief und unverkrampft, mit milden Zügen.

Der Widerstand war gebrochen.
Dem Parkspaziergang folgten ein Besuch im Tierpark und die Begehung des Ulschtriner Schlosses. Neben Miriam, glaubte Helene wieder jung zu werden.
Das Mädchen bereitete ihr den Weg zurück ins Leben. Ohne Anstrengung riss es die Mauer ab, Stein um Stein, Zentimeter um Zentimeter und legte die alte Helene frei.
Die Frau, die getanzt und gesungen hatte. Die Schlittschuh auf dem gefrorenen See gefahren war, trotz aller Warnungen. Die Frau, die mit ihrem schönsten Kleid ins eiskalte Wasser gesprungen war.

Miriam kochte jetzt für sie beide und dann aßen sie auf der Terrasse, begleitet von Vogelgesang und hellem Kinderlachen.
Bald spürte Helene eine ganz andere Einsamkeit, die, wenn Miriam in der Uni oder bei der Arbeit war. Dann war es, als fehlte etwas im Haus, als würden die Tapeten vor Sorge ächzen, als würde sich der Himmel zuziehen und die Sonne aussperren.
Helene hatte sich geöffnet und damit verletzbar gemacht.
Etwas, dem sie sich so gesträubt hatte, hatte ihr jetzt doch, von hinten wie ein Dieb die Härte aus dem Herz gestohlen.
Sie bemerkte, wie sie angespannt auf das kleinste Geräusch hörte, und aller Druck von ihr abfiel, wenn der Schlüssel sich im Schloss drehte und Miriam endlich nach Hause kam.
Wie sie ungeduldig immer wieder zur Uhr sah, wenn das Mädchen sich verspätete.
Sie ertappte sich dabei, wie sie die Treppe hochschlich und das Ohr an die Tür legte, wenn Miriam für ihr Studium lernte, dass ihr der Tee nicht mehr schmeckte, wenn die junge Frau ihr nicht gegenübersaß, auf dem Gesicht dieses milde Engelslächeln, das Helene alle Trauer vergessen ließ.

„Warum haben sie eigentlich keine Kinder?“, fragte Miriam, den Mund voller Sahne, die sie vom Zuckerkuchen gekratzt hatte. Helene verschluckte sich am Tee, hustete, bekam einen mitleidsvollen Blick von dem Mädchen. Sie rührte Milch in ihre Tasse, ihre Augen verloren sich im Strudel.
„Ich wollte immer welche haben!“, sagte sie tonlos. Musch strich unter dem Tisch um ihre Beine.
Das Fell knisterte elektrisch aufgeladen.
„Und warum haben sie keine?“ Miriam schob ein Stück Kuchen hinterher, kaute routiniert, als sprächen sie über das Wetter.
Helene holte tief Luft, ihre Hände zitterten und sie bekam sie nicht unter Kontrolle.
„Ich hatte eine Tochter“, die Worte kamen zäh über ihre Lippen.
Miriam horchte auf. Sie legte ihre Kuchengabel beiseite, bedachte Helene mit einem seltsamen Blick, der ihr in die Magengrube zu stechen schien.
„Ich war jung, sehr jung und naiv.“ Helene legte die zitternden Hände in den Schoß.
„Friedrich und ich lernten uns auf einem Fest kennen. Damals waren die Mädchen noch schüchtern und warteten auf einen guten Ehemann“, sie holte erneut tief Luft und las in Miriams Gesicht, wusste nicht, ob sie dem Mädchen davon erzählen sollte.
„Friedrich war ein Herzensbrecher, er hat meines im Sturm erobert. Alles an ihm war das, was ich wollte. Er war gut aussehend, gebildet. Er war der Mann meiner Träume.“
Miriam lehnte sich zurück. Sie strich eine Falte aus ihrer Hose und verschränkte dann die Arme vor dem Bauch. Es schien, als wären alle Vögel plötzlich verstummt.
„Wir waren jung, wir hatten alles vor uns. Friedrich wollte ein Wirtschaftsstudium beginnen, um die Welt reisen. Wir wollten heiraten.“ Helene brach ab. Sie fixierte einen Punkt hinter Miriam, als könnte sie dort die alten Zeiten wieder bildlich werden lassen.
„Ich wollte Anglistik studieren, hatte einen Durchschnitt von 1,3. Alles schien perfekt zu sein.“
„Was ist passiert?“ In Miriams immer freundlichem Gesicht zeigte sich ein Hauch von Anspannung.
„Ich wurde schwanger“, sagte Helene. Ihre Stimme war nur ein Flüstern.
„Ich wurde schwanger und bemerkte es viel zu spät.“
Miriam räusperte sich. Sie hatte eine Gänsehaut auf den nackten Armen. Es wurde kühl im Garten, die Sonne versteckte sich hinter einer Wolke.
„Es gab kein zurück mehr. Ich erzählte Friedrich davon.“
Für ein paar Minuten schwieg Helene, auch Miriam sagte nichts. Nur das Vogelzwitschern war jetzt wieder zu hören, irgendwo hupte ein Auto.
„Er rastete vollkommen aus, sagte, er würde sich nicht die Zukunft verbauen lassen.“
An Helenes Wange schlich sich eine Träne herunter zum Mundwinkel. Sie strich sie nicht fort.
„Er drohte, mich zu verlassen …“
Wieder räusperte sich Miriam, sie begann die Kuchenteller aufeinander zu stellen, als wolle sie das Gespräch abbrechen.
„Sie haben sie weggeben!“, diese Feststellung kam ohne Betonung. Nur im Gesicht des Mädchens zeigte sich kaum merklich etwas wie Ablehnung.
„Ja, ich habe sie weggeben! Ich wollte Friedrich nicht verlieren! Ich habe ihn über alles geliebt!“
„Mehr, als ihr eigenes Kind?“, fragte Miriam.
Ihr Verständnis für diese Entscheidung schien nicht vorhanden. Helene fühlte sich klein und schäbig. Sie wünschte sich, dem Mädchen nicht davon erzählt zu haben.
Sie sah die Zuwendung der jungen Frau unabänderlich fortschwimmen, wie ein Boot, das man unfertig zu Wasser gelassen hatte; und das jetzt in den Fluten versank.
„Ich habe es bereut, mein ganzes Leben habe ich es bereut!“, versuchte Helene sich zu verteidigen.
Miriam blieb stumm. Sie stapelte die Tassen, das Milchkännchen und die Kanne auf das Serviertablett, wischte sich die Hände an der Jeans, sah Helene nicht an.
„Wissen sie, was mit ihr passiert ist? Ich meine, wo sie hinkam? In welche Familie?“
„Sie kam in eine gute Familie, ein gut situiertes Ehepaar, das keine Kinder haben konnte. Anfangs hielt ich mit den Behörden Kontakt, sie schickten mir Fotos. Dann verbot mir Friedrich den Kontakt. Er sagte, ich würde mich selbst quälen. Ich soll es vergessen und zur Ruhe kommen.“
„Und sie haben nie versucht, sie zu finden? Niemals nachgeforscht? Auch nicht, nachdem ihr Mann gestorben war?“ Miriams Stimme erschien Helene wieder weicher.
„Nein, ich habe es nie versucht! Es hat so schrecklich wehgetan! Ich habe versucht, es zu vergessen!“
Helenes Augen ruhten auf einem Loch im verwitterten Holztisch.
„Das muss schwer für sie gewesen sein! Das tut mir leid!“, sagte Miriam knapp.
Sie stand auf und balancierte das Tablett in die Küche. Die Katze tippelte neben ihr her, in der Hoffnung auf Reste.
Helene blieb draußen sitzen, bis die Laternen aufleuchteten.

Seit Helenes Geständnis, schien die junge Frau sich ihr Gegenüber zu verändern.
Noch immer hielt sie das Haus in Schuss, kümmerte sich um den Garten, doch die gemeinsamen Stunden waren nun angefüllt von einer seltsamen Wortlosigkeit; und die Stille zog wie ein Stein um den Hals an Helenes Gemüt.
Immer öfter blieb sie allein im Haus zurück, wenn Miriam Ausflüge unternahm.
Manchmal kam das Mädchen nach der Uni nicht nach Hause, erst spät in der Nacht, wenn Helene wach in ihrem Bett lag und beim Geräusch des Schlüssels zusammenzuckte.
Einmal kam es mit Freunden, laute, ungehobelte Gesellen, die durch Helenes Flur trampelten und ihren alkoholgeschwängerten Atem darin hinterließen.
Helene hatte ihren Abstand eingebüßt. Sie konnte nichts sagen. Nahm es einfach hin, ließ das Mädchen gewähren, als wäre sie selbst nur geduldet.
Über sich hörte Helene das Grölen und Stöhnen, ein methodisches Knarren des Lattenrostes der alten Couch dort oben.
Sie stand auf und ging ins Wohnzimmer. Musch lag dort auf dem Sofa.
Helene hob die Katze an ihre Brust, wie eine Mutter ihren Säugling. Sie wanderte so in der Stube auf und ab. Ihre rechte Hand strich mechanisch über den Kopf der Katze.
Die Stufen knarrten. Miriam erschien auf der Treppe, die Haare wild zerzaust, nur im Schlüpfer, der so knapp war, dass er ihre Pobacken entblößte.
Sie warf Helene einen unverwandten Blick entgegen. Die Augen wanderten zur getragenen Katze.
„Entschuldige, haben wir dich geweckt?“, fragte sie, ohne Interesse. Helene erwiderte nichts.
In ihrem Hals schien ein Kloß die Stimme zu versagen.
Sie blickte dem aufreizenden Po hinterher, der im Dunkel der Küche hell leuchtete.

Drei Tage später fand Helene Musch im Vorgarten unter der Hollywoodschaukel, ohne Augen in den Höhlen. Ein paar Krähenfedern lagen neben dem toten Körper.
Sie brach zusammen. Miriam war nicht da, um sie aufzufangen.
Erst spät am Abend kam sie nach Hause, ihre Haare waren raspelkurz.
Sie hatte sie blond gefärbt. Der Mund war rot geschminkt. So rot, wie die Kirschen vor Friedrichs Fenster.
„Musch ist tot!“, sagte Helene, bevor das Mädchen die Treppe erklommen hatte.
Miriam hielt inne. Sie drehte sich um, ihr Blick verriet keine Regung.
„Das tut mir leid für dich! Sie war ja auch schon alt“, sagte sie, als wäre dieser Trost ausreichend.
„Die Krähen haben sie geholt. Sie lag unter der Schaukel. Sie haben ihr die Augen ausgehackt!“
Helene stand starr. Sie wirkte wie ein Gespenst in ihrem weißen Nachthemd.
Miriam kam die Treppe herunter, ganz dicht an Helene heran.
Die alte Frau spürte die Anwesenheit in jeder Faser, glaubte den Atem auf ihrem Gesicht.
Als Miriam die Arme um den gebrechlichen Körper legte, zitterten die morschen Knie unterm Saum des Nachthemdes.
„Das tut mir leid, Helene, das tut mir wirklich leid! Es ist schlimm, wenn einem das Liebste genommen wird. Da ist ein Loch, das man nicht füllen kann.“
Helene wurde weich unter der Umarmung. Sie begann zu weinen, all die Trauer der Jahre schien sich jetzt, in den Armen des Mädchens einen Weg aus ihrem Körper zu suchen.
„Weine ruhig, lass es raus. Du musst weinen, bis die Tränen versiegen und nur noch Erinnerung sind, solange bis du den Schmerz besiegen kannst.“
Helene hörte den seltsamen Klang in der Stimme nicht. Sie sah nicht die düsteren Augen, die sich in das Bild in der Vitrine bohrten.
Am nächsten Morgen war Miriam verschwunden. Das Zimmer und die Schränke waren leer.
Einen Monat später starb Helene an gebrochenem Herzen.



Trauer ist ergebnislos. Sie verscheucht keine gierigen Väter, die heimlich in das Zimmer kommen.
Sie schenkt dir keine Mutterliebe. Sie verschleiert nur den Wunsch nach dem Leben, das dir eigentlich zustehen sollte.
Deines war eine Lüge, die mich auf dem Gewissen hat. Wenn einem das Liebste genommen wird, noch bevor man es wertschätzen konnte, muss man das Loch alleine füllen.
Doch nicht mit Tränen, Tränen sind ergebnislos …
 

Val Sidal

Mitglied
Deine Geschichte hat einen gesunden Kern. Guter Textfluss im mittlerer Teil, Figuren mit Potenzial und gelungene Bilder begründen weitere Arbeit am Text.
Wenn Interesse besteht, kann ich (natürlich mit meiner Perspektive und nach meinem Geschmack) detaillierter dazu Stellung nehmen, und falls gewünscht, Anregungen geben.
 



 
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