Leergut

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Kälte ist Wasser. Es findet immer seinen Weg. Kälte allerdings fließt bergauf.
Die alte, noch immer flauschige Wolldecke aus seinem Kinderbett fand Bernd gestern in der Truhe im Keller wieder. Umständlich zieht er sie bis zu den Augen hinauf und rutscht tiefer in seinen Ohrensessel neben der Heizung. Auf dem Wohnzimmerschrank tickt die alte Uhr ihren ruhigen Rhythmus in dämmernde Novemberstille.
Kopfschmerzen plagen ihn, Kopfschmerzen, als säße er mitten in einer lautstarken Ausein-andersetzung zwischen Todfeinden.
Die geschwätzige Nachbarin seiner Eltern kann im Gegensatz zum Hirn in seinem Schädel als sehr zurückhaltend gelten, obwohl der verstorbene Mann der Vielredenden – so behauptet jedenfalls Bernds Mutter – sich vor zwei Monaten endlich tot geschwiegen habe, da er bei seiner Frau nie zu Wort kam.
Unaufhörlich kommentiert Bernds Hirn alles, was er tut, plant und sich denkt. Seit gut zwei Monaten allerdings verfällt es immer häufiger und unerwartet in trotziges Schweigen.
Auch die plötzliche Stille schmerzt: Ein Stich in der Brust direkt über dem Herzen, ein Ziehen im linken Lungenflügel, ein leichter Druck im Nacken und immer wieder Magenschmerzen.
Irgendwann lassen die Schmerzen ohne erkennbaren Grund nach. Bernd atmet leichter. Saugende Müdigkeit zieht ihn in die Tiefe. Es schwindelt ihn. Plötzlich öffnet sich vor ihm ein gähnender Abgrund. Am liebsten würde er sich einfach hineinfallen lassen. Abstürzen, stürzen, unaufhaltsam stürzen. Kälte kriecht in seine Unterschenkel. Seine Finger verkrallen sich in die Armlehnen des Ohrensessels. Er muss ungewollt lachen, öffnet die Augen. Sie jucken, als habe jemand Pfeffer hineingestreut.
Dana hastet ins Wohnzimmer und setzt sich vor ihm in den zweiten Sessel. Ihr Gesicht ist hochrot. Sie hat sich wohl irgendwo wieder in Rage geredet.
Bernd holt tief Luft, damit seine Stimme gelassen klingt. „Sterben ist ganz einfach!“
Dana reißt ihre großen dunklen Augen weiter auf und streicht sich, mit beiden Händen zuckend, die langen schwarzen Haare aus dem bleichen Gesicht. „Helmut, woher willst du das wissen? Hast du`s schon versucht?“ Sie sagt oft Helmut zu ihm. Helmut, ihr Bruder verunglückte mit Bernds Auto tödlich. Bernd hatte es ihm für eine kurze Spritztour geliehen.
„Klar hab ich`s versucht. Is allerdings gut dreissig Jahre her!“
Neunzehn war er damals. Wollte Sigrid, Danas ältere Schwester und eher schweigsame Tochter der redseligen Nachbarin seiner Eltern, zwingen, ihn nicht zu verlassen.
Mehr als zweihundert Meter vom Güterbahnhof entfernt, am Waldrand oberhalb des Bahndamms wartete er kurz vor Mitternacht. Als der Zug sich langsam in Bewegung setzte, rutschte Bernd die Böschung hinunter und legte sich auf die eiskalten Gleise.
Als er wieder aufsprang, brauchte der Zug noch gut eine halbe Minute, bis er die Stelle passierte, an der er sich überrollen lassen wollte.
„Erzähl, wann hast du`s probiert? Wann?“ Dana schrie fast.
Er wird es ihr nicht erzählen. Als er es Sigrid erzählte, hat sie sich von ihm getrennt. „Was soll ich mit nem Selbstmörder?“ sagte sie und ging.
„Es ist dieses Nichts, weißt du, dieses Nichts, ich meine die innere Leere, die jetzt so modern ist. Alle reden davon – alle – in Talkshows im Fernsehen, auf Psychologenkongressen und am Stammtisch. Die Kirche wills wieder ganz genau wissen. Innere Leere kann nur mit Glauben an Gott ausgefüllt werden!“
Dana winkt wütend ab. „Ich will wissen, ob du wirklich mal tot warst, ich meine, fast tot?“
Er nickt. „Der Kardinal von Köln – las ich gestern im Kölner Stadtanzeiger – hat in einer Predigt im Dom gotterfüllte Christen als die glücklichsten Menschen der Schöpfung angepriesen. Hast du den mal predigen hören? Seine Predigerstimme klingt verräterisch hohl!“
„Alles ist Nichts und Nichts ist Alles!“ hat mein Bruder, der Helmut immer gesagt!“ Dana wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
Bernd lächelt. „Jaja, Helmut der Hobby-Philosoph. Hat die Wände seines Versicherungs-büros mit lauter schlauen Sprüchen gespickt! Hab manche Nacht mit ihm diskutiert.“
Dana richtet sich auf. „Weißt du, was meine Mutter sagt? Mein Vater soll ihr kurz vor seinem Tod, als er noch klar war, zugeflüstert haben, hätte er einfach das Nichts akzeptiert, der Krebs hätte nicht in ihm wuchern können. Wo nichts ist, findet auch der Krebs nichts!“
Bernd lehnt sich im Ohrensessel zurück und starrt aus dem Fenster im fünften Stock. Über den Einfamilienhäusern und dem nahen Wald glimmen Wolken gelb-violett in der Abendsonne. Ein Sonnenuntergang am Meer. Nur Kölns Hochhäuser stören vorm Horizont. Und dunkler ist es als am Meer. Postkartensonnenuntergänge findet er kitschig.
„Ich geh noch was raus!“ Bernd nickt ohne Dana anzusehen. Sie läßt die Wohnzimmertür ins Schloss fallen.
Im Sommer vor zehn Jahren war Bernd zum ersten Mal auf Langeneß. Seitdem fährt er mindesten einmal im Jahr dorthin – manchmal mit Dana, oft auch allein, weil sich Dana auf der flachen Hallig langweilt.
Der Blick übers Meer ins Weite, eine Weite, die ihn glauben lässt, der Horizont sei die Grenze zwischen Erde und All. Dort oben im Norden ist die Erde noch eine Scheibe, eine gewölbte zwar aber niemals eine Kugel – niemals.
Plötzlich fliegt eine Seeschwalbe vor den Feuerball der untergehenden Sonne, kreischt, stürzt sich in die Fluten und schwingt sich mit einem Fisch im Schnabel wieder auf. Kaum sichtbar weicht das Meerwasser und grauer, welliger, von Leben knisternder Wattboden taucht auf, ein paar Algen und Treibgut verharren dort, wo kurz zuvor alles floss.
Stille, nur gelegentlich unterbrochen von Möwengeschrei oder von kichernd keifenden Austernfischern, die zu viert aufflattern, um gleich darauf lautlos im Watt zu landen und schnabelpickend der Nahrungssuche nachzugehen.
Auf seiner Hallig kann Bernd warten ohne Ziel und ohne dieses unerträglich nagende Gefühl, sinnlos Zeit zu vertun.
Stundenlang kann er zum Horizont starren – in eine warme Decke gehüllt – auf der Bank am niedrigen Sommerdeich, der die Hallig gegen das geringe Hochwasser während der warmen Jahreszeiten ausreichend schützt. Der helle Lichtstreif über dem Meeresspiegel im Nordwesten weicht bei klarem Sommerhimmel während der ganzen Nacht nicht der Dunkelheit.
Unentwegt blickt Bernd nach Nordwest.
Auf einmal legt ihm jemand von hinten beide Hände auf die Schultern. Eine warme Männerstimme brummt freundlich: „Guten Abend!“
„Guten Abend!“ murmelt Bernd. „Guten Abend, Helmut!“
Die Wärme der Hände dringt durch Decke und Hemd.
Umsehen? Nein. Nur nicht!
Bernd schließt die Augen. Er wird plötzlich müde. Sein Kopf sinkt ihm auf die Brust. Er reißt die Augen auf. Kölns Hochhäuser tauchen als dunkle Silhouetten aus dem Dunst auf. Die alte Wohnzimmeruhr schlägt fünf Mal und sein Hirn beginnt den üblichen Redefluss. „Tote soll man ruhen lassen, ruhen lassen, ruhen lassen...“
Noch einmal schließt Bernd die Augen. Sein Magen schmerzt. Ein Stich in die Brust. Die Sonne geht langsam unter. Das Watt glitzert. Die warmen Hände auf den Schultern beginnen ihn vorsichtig zu streicheln. Noch einmal schweigt die Stimme in seinem Kopf und diesmal ist nichts, nicht einmal ein leichter Schmerz.
 
H

HFleiss

Gast
Lieber Karl, in dieser Geschichte ist mir zu viel drin an Personage und unglaubwürdiger Fiktion. Du erzählst, wie Bernd stirbt. Da aber noch niemand, der erzählt, wie es ist, wenn einer stirbt, schon selbst gestorben ist (Ausnahmen der Beinahetoten, aber auch da muss man kritisch herangehen, denn sie sind nicht wirklich gestorben) nimmst du dir von vornherein ein Gutteil der Glaubwürdigkeit.
Ich lese jetzt nur heraus, wie sich Autor Feldkamp das Sterben vorstellt.
Solche Szene zu schreiben, das ist nicht einfach, aber günstiger ist es in jedem Fall, auf die Handlung abzuheben, die ist "nachprüfbar". Was tut einer, wenn er stirbt, was kann man sehen?

Überhaupt nicht klargekommen bin ich mit der Figur der Dana. Welche Rolle spielt sie eigentlich? Die der Empfängerin von Bernds Worten? Ein bisschen wenig. Könntest du einsparen. Es sei denn, ich habe ihre wirkliche Rolle nicht begriffen.

Ich will hier nichts von gefallen oder nicht gefallen schreiben. Vielleicht kannst du was mit meinen Überlegungen anfangen.

Viele liebe Grüße
Hanna
 
Liebe Hanna,
danke für deine Kritik.
Bernd stirbt nicht sondern stellt sich nur vor, wie es sein könnte, in der Leere (oder dem Nichts) endlich Ruhe zu finden.
Dana ist Bernds Freundin, die er benutzt. Aus seiner Sicht ist sie nur Mittel zum Zweck, sich menschliche Wärme zu besorgen. Da die Geschichte aus Bernds Perspektive geschrieben ist, muss Dana zwangsläufig blass und Obejekt bleiben.
Ich weiß natürlich nicht, ob dir meine Erläuterungen meine Geschichte mehr erschließen helfen. Wenn nicht, muss ich bestimmt noch daran arbeiten.
Herzliche Grüße
Karl
 



 
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