Legenden, für immer

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multimind

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Legenden, für immer

Kafka stolperte gleich auf den ersten Schritten vor seinem Sterbehaus, kein Wunder, von allen Orten wollte er hier am allerwenigsten sein.
Der Antwortbrief des Dekans hatte mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet, auch das war höchst ärgerlich.

An das Dekanat der Fakultät für Alte Geschichte
City Zurkal
Dekan Mamrod persönlich
Sehr geehrter Dekan,
nach einer neuerlichen Rückkehr von einer neuerlichen Reise, deren Sinn ich so wenig erfassen kann, versuche ich noch einmal, zu verstehen. Warum? Warum Holoklone auf einem Planeten, der im Prinzip jede beliebige Personvariation erzeugen kann, warum bei all den neuen Kulturen, bei all den Möglichkeiten, warum der Rückgriff auf das Alte, Dagewesene, warum solche wie mich? Wo soll es hinführen?
Mit verbindlichstem Dank für eine Antwort verbleibt mit freundlichen Grüßen
Ihr Franz Kafka.


Lieber Franz Kafka,
die Antwort wird Sie nicht zufriedenstellen, ich kann es schon vor mir sehen, aber ich kann es nicht ändern, wie wir überhaupt nicht so viel ändern können, wie wir gerne hätten, was im Übrigen ein Teil des Problems ist, aber das ist eine andere Geschichte.
Sie fragen warum. Sie wissen es und wissen es möglicherweise auch nicht, ein Großteil unserer Kulturen baut auf dem Verlust. Und der Verlust gebiert die Besessenheit. Wir wollen verstehen. Und wir scheitern immer und immer wieder am Verstehen. So unfassbar viel ist verloren gegangen in all den Kriegen und Niedergängen von Völkern und Planeten. Pasiphae 1 war sehr nahe an den Erkenntnissen, die wir suchen, sehr, sehr nahe. Aber nicht nahe genug. Wer den Untergang überlebte, wagte kaum mehr, nach vorne zu schauen, es war zu viel, kaum zu ertragen. Wir verstärkten die Methoden, zurück zu schauen. Durch die Zeit zurück zu reisen. Durch die Augen derer zu sehen, die waren wie Sie.
Ich weiß, Sie würden am liebsten nicht mehr leben. Oft genug haben Sie es heraus geschrien, als wir Sie wieder erzeugten und wieder hinausschickten. Sie wollen nicht mehr leben und Sie wollen nicht mehr schreiben, ich weiß es. Aber es ist keine Option. Wir brauchen Ihr Wesen, Ihr Schreiben, Ihr Denken, Ihre Rätsel, Ihre Fragen. Ihre und die der anderen. Das ist alles, mehr gibt es zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zu sagen.


Also fuhr er wieder durch das Gewühl des einundzwanzigsten Jahrhunderts, das ihm jedes Mal so vertraut und so fremd war. Für die Überlebenden Pasiphae ist es ein Jahrhundert unter vielen, sie rechnen in Jahrtausenden, das Wesen eines beliebigen Jahrhunderts ist für sie, wie es damals die ersten Kinofilme für ihn waren, jenseits aller bekannten Realität und dennoch unbestreitbar da.
In seinem Gehirn surrte es, sie spielten ihm die Verlaufsroute des Weges vom letzten Mal ein, er hätte sonst keine Chance, irgendetwas jemals wieder zu finden, seine Reisen waren viel zu zahlreich.
Diesmal hatten sie ihn losgeschickt, ohne das Ziel oder die Aufgabe zu nennen. Meist ging es um alte Bücher, verlorene Texte. Hunderte zerstörte Bibliotheken hatte er schon durchwandert, im Schutt und Staub Geschichten gefunden, die kaum noch jemand kannte.
Franz blieb am Ende einer Straße stehen, entweder das Programm oder eine Erinnerung stoppte ihn. Ja, hier war er schon einmal gewesen, kurz vor seinem Tod, vor welchem wusste er nicht mehr. Er war sich ziemlich sicher, dass er in einem Cafe eine Frau geküsst hatte, aber es konnte auch ein Traum gewesen sein.
Schräg vor ihm zweigte eine Gasse ab, aus der ein keuchendes Geräusch kam und ein helles, regenbogenfarbenes Strahlen. Er ging ein Stück hinein.
Da boxte ein kleiner muskulöser Mann keuchend in die Luft. Seine Haut, fast nackt, nur die Geschlechtsteile waren bedeckt, war ein einziges sich bewegendes Gemälde. Ein rot-grün geschuppter asiatischer Drache schlängelte sich vom Gesicht des Mannes über den ganzen Körper bis zu den Füssen. Zwischen den Windungen des Drachen Rosenhecken, die Blüten purpurrot und strahlend weiß, wie aus der Haut herausquellend, daneben grau schimmernde Wolkenkratzer, von gelben Fensterflächen erhellt. Vollkommen versunken boxte er in die staubige Luft um sich herum.
Franz überlegte gerade, ob er etwas sagen sollte, Kontakt aufnehmen, da füllte sich die Luft über dem Boxer mit einer gazeartigen durchsichtigen Bildfläche. Schwarze und grüne Buchstaben zogen schimmernd darüber. Franz kniff die Augen zusammen, wartete, bis er die richtige Entfernung einstellen konnte und las.

Athreto, das Leben des Schattenboxers. Geboren in den Städten des Todes, in denen das Morden das einträglichste Geschäft war. Die erste Hälfte seines Lebens ein Schläger, Mörder, Totschläger, Auftragskiller. Zerstören und töten aus Mordlust und Geldgier, aus Rache und Eifersucht. Ein Leben im Blutrausch, im grauenhaften Bewusstsein der Macht, eine Spur von Getöteten, Verzweifelten, keine Gnade, kein Mitgefühl, kein Gedanke an Moral.
Dann, eines Nachts, war es vorbei. Athreto wachte auf, in einem Haus, das er nicht erkannte und von dem er nicht wusste, wie er dorthin gekommen war, er war schweißgebadet und zitterte am ganzen Körper. Er blickte seine Hände an. Seine letzte Erinnerung war, dass er einem Neugeborenen die Kehle durchgeschnitten hatte. Er blickte in die Finsternis der Nacht und krümmte sich vor Entsetzen über sein Leben. Er fand in dem Haus etwas Wasser und Nahrung, packte das Notwendigste zusammen und machte sich auf die Wanderschaft in die Berge. Einer wie er konnte kaum hoffen, seinem Schicksal auf irgendeine Weise zu entkommen. Totschlagen oder selbst tot geschlagen werden. Er schwor sich, entweder ein vollkommen neues Leben zu beginnen, oder zu sterben, notfalls von eigener Hand.


Franz hörte kratzende, fauchende Geräusche wie von einer altmodischen Maschine aus der Entfernung, die Schleierfläche auf der die Buchstaben vorbeizogen, schwankte leicht, wurde blasser. Der Boxer boxte weiter, er schwitzte und stöhnte, Franz sah, dass er erschöpft war, die Schönheit seiner Bewegungen ließ nach.
Die Straßen und Häuser rund um sie herum begannen leicht zu beben, zu bröckeln, Staub und Mörtel wirbelten in kleinen Kreiseln aufwärts.

Am dritten Tag in den Bergen stieß Athreto auf den Kuguar, den Berglöwen und er bot sich ihm dar, in der Hoffnung zu sterben. Der Kuguar sprang ihn an, doch er tötete ihn nicht, er verletzte ihn nur tief und endgültig, kratzte ihm die immerwährenden Blutspuren ein, aus denen später die Rosen und der Drache entstehen würden. Athreto schleppte sich den letzten schmalen Weg entlang, den er erkennen konnte. Am Ende des Weges reichte ihm einer die Hand. Der Durchscheinende Mönch, der zweite Erbe des Schattenklosters, des Klosters der Verdammten. Hier wurde Athreto zum Schattenboxer, geweiht dem heiligen Leben der Schattenkämpfer.

Das fauchende Geräusch wurde lauter, der Schleier und der Text lösten sich auf. Franz hörte ein Rasseln wie von alten Panzern, sein Puls beschleunigte sich, er würde bald weg müssen.
Die Schattenkämpfer. Eines der heiligen Völker aller Welten, fast unsterblich. Sie wurden unzählbare Leben alt und bereisten das Universum als die tödlichen Kämpfer, die sie immer gewesen waren, aber jetzt auf der Seite der Schönheit und der Erfahrung um der Weisheit willen. Sie kämpften gegen die Schatten des Nichts und der Auslöschung, die besten von ihnen konnte durch die Welten greifen und in tödliche Konflikte mäßigend eingreifen, aber hier, dieser Schattenboxer war jung, erst knapp dem Novizenstadium entwachsen, vielleicht drei, vier Leben alt. Man durfte ihn nicht ansprechen, nicht ablenken, er war auf den Missionen des Lernens, noch standen ihm grauenhafte Tode bevor.
Durch die Gasse wälzte sich ein blau gelb schillernder Käferroboter. Athreto wandte sich ihm zu, einen Moment lang waren Mann und Roboter vollkommen bewegungslos, dann ging der Mann in die Hocke und sprang. Als hätte er gewaltige Sprungfedern unter den Füssen erreichte er mühelos den Roboter.
Einer der schillernden Flügel des Käfer wurde gläsern durchsichtig und öffnete seine Oberfläche, der tätowierte Mann verschwand im Inneren des Roboters.
Der Käfer vibrierte, der Lärm wurde lauter, Staub wirbelte auf, der Käfer erhob sich, je höher er stieg, desto unsichtbarer wurde er, schließlich rieselte nur noch farbiger Staub auf die Straße. Ein Teil des Bodens vor Franz brach auf, Schichten von Schutt, Abfall, Steinen, zerfallendem Holz und altem Tongeschirr tauchten auf. Keine Manuskripte diesmal, keine Bücher, ein paar Schriftzeichen auf den Scherben, aber dazu hatte er keinen Auftrag, diesmal ging es um etwas anderes.

Kafka machte sich auf den Weg zu seinem Todeshaus, damit er zurückgeholt werden konnte. Während er ging, spürte er, dass sich ein neuer Text in ihm formte. Er fluchte leise. Das alte Drama, nie mehr schreiben wollen und doch nicht anders können.
In seinem Geist formten sich die Worte, diesmal waren es die richtigen, er lächelte, niemand konnte es sehen, aber er spürte es, ein seltener Moment in seinem Leben.
Er würde mit der Beschreibung des Drachen auf der Haut des Schattenboxers anfangen, schwierig, das hatte er noch nie probiert, aber für einen Moment hatte er das Gefühl, alles könne ihm gelingen. Was für ein Trug.
Nach wenigen Schritten zerfielen die Sätze in seinem Gehirn, sein Gewand löste sich zu Staub auf und im gleichen Moment zu Nichts. Er schwitzte und zitterte zugleich vor Kälte. Die Umgebung stand still wie in einem Film, der angehalten wurde. Er hatte keine Ahnung, was wirklich geschah. Es konnte eine Projektion sein, eine alternative Realität, ein Traum, eine Idee, sein Werk, das Werk eines anderen. Jedes Erkennen wollen war ein tiefer, dunkler Abgrund. Aber nach dem ersten Entsetzen war es nicht mehr so wichtig.
Wenn man ohnehin nicht mehr wusste, ob noch das kleinste Stück Realität real war, war es nicht mehr so wichtig. Was für eine Erleichterung, im Grunde.
 
Ein Text, bei dem ich weder sagen kann, wo er spielt, noch was da spielt.
Zukunft? Sicher.
Unsere Realität? Nicht sehr wahrscheinlich?

Welche Lehre zieht man daraus? - las mich überlegen - nur der Moment ist real und nichts wird je enden?
Leid ist überall?

Im großen finde ich, dass hier eine Linie -abgesehen des Weges, welchen Kafka geht- fehlt. Momentaufnahmen dessen, was die Figur gesehen und erlebt hat wirken wie im Rausch oder Wahn.

Es wirkt regelrwcht verstörend, beim längeren überlegen. Doch ein verstehen eröffnet sich mir auch jetzt nich nicht.
 

multimind

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Hallo Helene Persak,
vielen Dank für deinen Kommentar. Eine gewisse Irritation bis Verstörung ist durchaus beabsichtigt. Wie in Kafkas Kopf soll eben nicht klar sein, was da genau passiert und wem. Dass der Text aber nach zahlreichen Überarbeitungen jetzt sozusagen im luftleeren Raum spielt ist möglicherweise nicht ideal, das hab ich mir auch schon gedacht. In meinem Kopf ist es Wien - Kafkas Sterbeort ist nicht sehr weit weg von Wien - aber natürlich kein reales. Möglicherweise werde ich das noch einmal bearbeiten. Besten Gruß!
 



 
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