Leidmotive

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Steewee

Mitglied
Nervös sitzt sie ihm gegenüber. Sie kennt ihn schon lange, weiß aber erst seit Kurzem, wer er ist. Jede Woche kam er in ihren kleinen Buchladen, fragte nach Neuheiten, ihren Empfehlungen. Sie tauschten sich über ihre bevorzugten Autoren aus, schimpften gemeinsam über Politik und lachten über das TV Programm. Heute stand er mit einem Strauß Blumen im Laden und fragte, ob sie denn Hunger hätte. Nicht auf Schnittblumen, meinte sie und er antwortete mit einem kräftigen, strahlenden Lachen. Er ist zwar ein wenig älter als sie, aber immer noch sehr gut in Form. Ein pensionierter Theologiedozent mit grau melierten Schläfen, stahlblauen Augen und den Manieren eines Gentlemans. Also sagte sie ja. Auch den obligatorischen Kaffee danach schlug sie nicht aus. Sein erwachsener Sohn war nicht zu Hause und sie hatten die Wohnung ganz für sich. Nun sitzen sie hier bei Kerzenschein und er fragt, ob er sie küssen darf. Sie rührt sich nicht, also steht er auf, prüft die Fesseln und löst für einen kurzen Moment den Knebel. Sirenengeheul von der Sraße verschlingt ihr Flehen. Der strahlende Ritter so fern der Drachenhöhle.

Die Sirenen gehören zu einem Streifenwagen, der eilig Richtung Hafen unterwegs ist. Auf dem Rücksitz ist ein farbiger Teenager, der kurz zuvor angetrunken an eine Telefonzelle gepinkelt hatte. Er liegt flach auf der Bank, als würde er schlafen. Die Folie um seinen Kopf ist fest mit Panzerband am Hals fixiert, damit kein Tropfen Blut Spuren hinterlassen kann. Der Polizist am Steuer ist sich sicher, richtig gehandelt zu haben. Sein alter Herr meinte immer, um Sünder zu verstehen, musst du reden wie sie, denken wie sie, handeln wie sie. Er bedauert, dass er seinem Vater nicht sofort von seiner Glanzleistung berichten kann, aber der hat heute abend Damenbesuch und möchte auf keinen Fall gestört werden.

Und im Hafenbecken halten die Fische ihre aufgeblähten Bäuche in die Nacht und singen stumme Lieder vom Ende.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Die Auflösung der Geschichte trifft den Leser wie ein Schlag in die Magengrube und ist Dir bestens gelungen.
Das "Nervös" am Anfang ist zu schwach, sie wird nicht nervös sein, sondern vielleicht eher ...verzweifelt, (wie) gelähmt, ...aber vermutlich hast Du das Wort gewählt, um keinen allzufrühen Verdacht auf den wahren Kern zu lenken.
Dass der Teenager farbig ist, finde ich jetzt zu klischeebehaftet, ohne dem ginge es auch.
LG Doc
 



 
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