Leistungsmissbrauch

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maerchenhexe

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Leistungsmissbrauch

„Herr Löchter ins Büro, Post!“ Die Leiterin des Obdachlosenwohnheims hatte eine austrainierte Stimme, die bis in die letzte Ecke des alten abgewrackten Hauses drang. Ohne Eile, vor sich hin trottend, erreichte Hans das Büro, klopfte an und ging hinein, nachdem ihn ein herrisches „Herein“ dazu aufgefordert hatte. Ein kurzes Kopfnicken ihrerseits in Richtung Aktenschrank. „Da oben der Stapel.“
Acht Briefe dieses Mal, wie immer Mahnungen, Aufforderungen von Gerichtsvollziehern – den Überblick über seine Schulden hatte er längst verloren- und ein Brief von seiner Sachbearbeiterin beim Sozialamt. „...muss ich Ihnen leider mitteilen, dass wir nach Paragraph… die Kaution für Ihre in Aussicht gestellte Wohnung nicht übernehmen können. Aus gegebenem Anlass (er hatte gegen kleines Geld zwei Gärten bei Bekannten sauber gemacht und irgendwer hatte ihn angeschwärzt) weise ich nochmals darauf hin, dass Sie jede eventuelle Nebentätigkeit sofort zu melden haben, da diese auf Ihre Sozialhilfe angerechnet wird. Bei Zuwiderhandlung wird die Hilfe zum Lebensunterhalt gekürzt oder sogar ganz gestrichen.“

Die kühle Blonde aus Zimmer 18! So um die dreißig Jahre vielleicht, sicherlich sechs bis acht Jahre jünger als er, unnahbar, überlegen und stets höflich, seine Sachbearbeiterin! Er fühlte sich jedes Mal unwohl, wenn er vor ihr saß. Je länger sie redete, desto unsicherer wurde er. Er verstand sie einfach nicht. Paragraphen, Gesetze, Vorschriften –er war doch nicht irgendeine Sache! Und jetzt noch die Ablehnung der Kaution für die Wohnung.
Er würde zu Anna gehen. Anna, die Freundin seiner Schwester, hatte ihm schon bei seinem Antrag auf Privatinsolvenz geholfen.

Und tatsächlich ging Anna dann mit Ihm zu Herrn Kollschen, der die Wohnung vermieten wollte. Sie erklärte ihm die Lage, erzählte aus dem gescheiterten Leben von Hans - Krankheit, Frau und Kinder weg, Scheidung, immer mehr Schulden, Spielsucht, Therapie, schließlich die Obdachlosenstelle und jetzt endlich der Lichtstreifen am Horizont- seit langem die erste kleine Wohnung, Grundstein für einen Neuanfang!

Der Vermieter gab ihm die Wohnung, und die Kaution konnte er mit zehn Euro monatlich abstottern. Arbeit war zwar noch immer nicht in Sicht, aber seine Schwester verwaltete mittlerweile sein Konto und achtete penibel darauf, dass er seinen Verpflichtungen nachkam. Der erste Schritt zurück in die Gesellschaft war getan.

Tja und gestern kam dann der Anruf der Schwester. Ihre Nachbarin oben aus dem Dachgeschoss brauche dringend Hilfe beim Abreißen der Tapeten, sie könne sonst den Auszugstermin nicht einhalten.
„Ein paar Euros nebenbei tun dir doch auch gut, Hans“, sagte Sabine. „Ich weiß, dass du das eigentlich nicht darfst. Sie weiß es auch, sie sagt nichts. Kannst du vielleicht sofort kommen?“

Hans schwang sich auf seinen alten Drahtesel und klingelte 15 Minuten später bei seiner Schwester an. Sabine zeigte mit ihrer Hand nach oben. Gleichzeitig rief sie laut durchs Treppenhaus: „Marlies, Hans ist hier, um dir zu helfen!“ Die Wohnungstür im Dachgeschoss klapperte, und die Treppe herunter kam eine junge blonde Frau, etwas kühl und unnahbar wirkend – Marlies Kerkering, seine Sachbearbeiterin vom Sozialamt. „Keine Angst Herr Löchter“, sagte sie und konnte plötzlich lächeln. „ Seit letzter Woche sind sie ja nicht mehr mein Klient, mir wurde eine andere Buchstabengruppe zugewiesen und außerdem sind wir ja hier privat. Ich bin wirklich sehr auf Ihre Hilfe angewiesen, und ich zahle auch gut, zehn Euro auf die Hand pro Stunde. Wird auch garantiert niemand erfahren.“


Nachsatz: Hans arbeitete übrigens 30 Stunden in der Wohnung der Frau Kerkering.
 

DorisS

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Hallo Märchenhexe,

da kreist dein Text schon eine Weile in meinem Kopf, jetzt kann ich es, glaube ich, zumindest etwas ordnen.
Wie ich finde wirkt die Geschichte sehr konstruiert. Das liegt meiner Meinung nach nicht an der Idee - natürlich ist die Pointe vorauszusehen - sondern daran, dass du Passagen in "Echtzeit" abfasst und dann wieder in einem "fast forward", einem Schnelldurchlauf. Die Mischung wirkt auf mich für diesen kurzen Text nicht ausgeglichen genug.
Was die Geschichte auch noch konstruiert wirken lässt,sind die Personen.
In diesem kurzen Text lässt du eine Menge Personen auftreten: Hans Löcher, den Protagonisten, die Leiterin des Obdachlosenheims, die Bekannten mit den Gärten, Frau Kerkering, die Sachbearbeiterin, Anna, die Freundin der Schwester, Sabine, die Schwestern, Hans´Frau, seine Kinder, schließlich der Vermieter Herr Kollschen.
Und keiner von ihnen lebt für mich, weil ich nichts über sie erfahre. Ich erfahre leider lediglich im Vorbeirauschen, welches Schicksal deinen Protagonisten ereilt hat. Das lässt mich so nicht mitfühlen.
Ich weiß nicht, ob dir das jetzt weiterhilft.

Liebe Grüße,

Doris
 

maerchenhexe

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liebe Doris

Danke für deine Rückmeldung. Diese Geschichte hat sich tatsächlich so zugetragen, ich habe die Namen der Personen natürlich verändert. Ich habe erst überlegt, ob ich daraus eine Erzähng machen sollte, war mir dann aber nicht sicher, ob diese Doppelmoral, die ich hier anprangere vor lauter Rahmenhandlung nicht verlorengeht. Wenn ich dich jetzt richtig verstanden habe, meinst du, ich sollte daraus eine wirkliche Kurzgeschichte machen?

lieber Gruß

maerchenhexe
 

DorisS

Mitglied
Hallo Märchenhexe,

ja, das würde ich vorschlagen.
Du schreibst, die Geschichte hätte sich tatsächlich so zugetragen. Ich finde es immer sehr interessant, eine Geschichte zu lesen, die auf einer wahren Begebenheit beruht, denn daran wird mir der Unterschied deutlich: meist sind solche Geschichten linear erzählt (erst passiert das, dann das und schließlich auch noch das) und auf die notwendigen Objekte eben dieser Geschichte beschränkt.
Von einer guten Geschichte erwarte ich einfach mehr. Ich will Spannung, ich will mitempfinden, will mich hineinleben in den Protagonisten, will nicht nur diese lineare Wiedergabe, sondern viel, viel mehr. Ich will, dass es aussieht wie das Leben, dass es aber nicht ganz genau so ist.
Ich weiß, das ist jetzt ein bisschen blöd ausgedrückt, aber irgendwie kann ich das gar nicht besser beschreiben. Offen gesagt glaube ich, dass keine erzählte Geschichte, und sei sie noch so wahr, ohne gewisse Elemente der Dichtung auskommen kann.

Liebe Grüße,

Do
 

maerchenhexe

Mitglied
Hallo Doris

danke für deine Rückmeldung, ich glaube ich verstehe jetzt, was du meinst. Da ich diese Kurzprosa fast im Berichtsstil geschrieben habe und dadurch keine emotionale Bindungen zum Protagonisten zulasse,geht dir die Geschichte verloren. Nach nochmaligem Lesen muss ich dir Recht geben. Ich glaube ich werde den Text zu einer Kurzgeschichte umarbeiten. Wird aber etwas dauern. Danke für die vielen Gedanken, die du dir gemacht hast.

ganz liebe Grüße

maerchenhexe

n.s. bin die Anna in dem Text und habe mittendrin gesteckt.
 

Haremsdame

Mitglied
Hallo Märchenhexe,

es ist schon erstaunlich, wie unterschiedlich die Leser an die Texte gehen. Ich habe beim Lesen schon gespürt, dass das eine Geschichte ist, die das Leben geschrieben hat. Und solange man von dem Geschehenen noch betroffen ist, ist es sehr schwer, eine Geschichte draus zu machen. Wie soll man denn die ganzen Mitspieler weglassen, wenn jeder seinen Teil zur Entwicklung des Ganzen beiträgt? Bei mir ist übrigens die Doppelmoral sehr gut angekommen. Ich war richtig empört, nachdem ich zu Ende gelesen hatte. Vielleicht solltest Du nochmal drüber gehen und hier und da ein wenig feilen...
 

maerchenhexe

Mitglied
hallo Haremsdame,

lieben Dank, dass du auf einen alten Text, der mir aber sehr wichtig war, antwortest. Wie du vielleicht aus meinen Antworten lesen kannst, ist dieser Text mit Sicherheit noch nicht aus meinem Kopf, und er wird irgendwann möglicherweise eine neue Gestalt bekommen. Aber ich habe gelernt, dass man zu manchen Dingen wohl etwas Abstand gewinnen muss, um sie gut in eine Geschichte packen zu können. Wichtig ist mir, dass ich auch in Zukunft solch erlebte Geschichten zu Texten verarbeiten kann. Und wenn ich damit manchen Mitmenschen zum Nachdenken oder Mitempfinden bringen kann, habe ich doch schon etwas erreicht, oder???

ganz lieb grüßt
maerchenhexe
 
P

Pete

Gast
Märchenhexe, das ist ja gar kein Märchen! ;)

Hat mir gut gefallen. Ich habe übrigens das Ende nicht vorhergesehen, sondern ging von einer Falle aus, die das Sozialamt gelegt hatte.

Deinen Text solltest Du noch etwas aufhübschen, damit er "Thrillerqualität" bekommt. Das Potential dazu hat er nämlich.

Habe nur Mut, das ganze etwas reißerischer anzugehen. Wenn Du das nicht tust, ist dein Text weder Fleisch noch Fisch, weder eine Reportage, noch ein gelungenes Feature.

Ich empfehle Dir einen Anfang, wie z.B.:
>> Mann ist mir der Schreck in die Glieder gefahren, als ich die Alte sah. Die kühle Blonde aus Zimmer 18! So um die dreißig Jahre vielleicht, sicherlich sechs bis acht Jahre jünger als ich, unnahbar, überlegen und stets höflich: meine Sachbearbeiterin vom Sozialamt.
Da stand sie vor mir, auf der Treppe, hat mich quasi "In Flagranti" ertappt, bei der Schwarzarbeit.
Dabei hatte sie mich tags zuvor genau belehrt, ... <<

Du könntest den Leser so mehrfach irreführen, wohin das führt (Romanze?).

Ich bin begeistert über das Potential Deiner Story!

Du könntest - lechtz - im inneren Monolog fortfahren:
>> Verdammt, sie hatte mich gestellt. Sicher war nun mein Sozialgeld futsch. Endgültig! Ich war erledigt! Doch ins Männerwohnheim wollte ich auf keinen Fall zurück. Nicht lebend! Einen Augenblick dachte ich daran, das Problem, jetzt und hier, ein für alle mal zu lösen: mit einem gezielten, wohldosierten Schubs.
Gedanklich malte ich mir aus, wie die Amtsschlampe, mit unendlichem Entsetzen im Blick, all die Stockwerke hinunterstützen, dann ihre ganze, teuflische Macht über mich in einem dumpfen Knall verbluten würde.
Die erlösenden Gedanken müssen ein entspanntes Lächeln auf mein Gesicht gezaubert haben, ein wahrhaft unwiderstehliches Lächeln, denn das Unfassbare geschah: Die liebe Frau Kerkering lächelte zurück! Nicht in Boshaftigkeit und Schadenfreude, sondern mit ehrlich mitlachenden Augen und einem warmen, herzlichen Blick. Sie sagte: "Gut dass Sie mir helfen werden. Ich zahle zehn Euro die Stunde!" (...) <<<

Mach was, aber auf Deine Weise!

Gruß

Pete
 

maerchenhexe

Mitglied
hallo Pete,

lieben Dank für das intensive Lesen meiner kleinen Geschichte. In diesem Fall hat maerchenhexe tatsächlich mal kein Märchen geschrieben. Wäre ich ein Thrillerschreiber, würde ich auf der Stelle deine Passagen klauen und für die Neufassung benutzen, aber leider ist das nicht meine Schreibe und ich käme damit nicht zurecht. Was du damit sagen willst, habe ich aber schon verstanden, und wie du vielleicht aus meinen anderen Antworten erkennen kannst, wird es irgendwann diese Geschichte noch einmal überarbeitet geben.

lieber Gruß

maerchenhexe
 
N

no-name

Gast
Liebe Märchenhexe,

ich finde, dass du viel mehr aus deinem Text - und vor allem der impliziten Doppelmoral - herausholen könntest, wenn du deine agierenden Personen plastischer, menschlicher schildern würdest. So, in dieser Kurzprosaform, wirkt deine an sich gute und aufschreibenswerte Idee, diese Form der Doppelmoral anprangern zu wollen, auf mich verschenkt.
Bitte mache unbedingt einen längeren Text, eine Kurzgeschichte oder Erzählung daraus! Mensch, du kannst das doch... Dann lese ich es gern nochmals.

Freundliche Grüße von no-name.
 

maerchenhexe

Mitglied
hallo no-name,

lieben Dank für deine Rückmeldung auf meinen kleinen Text. Bei dieser ersten Niederschrift war ich wohl noch zu nah dran am Geschehen. Wie auch den anderen Lesenden kann ich dir versprechen: mit entsprechendem Abstand wird es eine Neufassung geben.

ganz lieber Gruß

maerchenhexe
 
N

no-name

Gast
Oh ja bitte, Märchenhexe. Dein Text ist es nach meinem Empfinden wirklich wert, von dir noch einmal überarbeitet zu werden, wenn du ein bisschen Abstand zu ihm bekommen hast. Genau so einen Textfall habe ich übrigens auch noch liegen... Wir beide sollten so etwas nicht zu lange vor uns herschieben... *hebtmahnenddenZeigefinger*...

Lächelnde Grüße von no-name.
 



 
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