Lesung

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P

Pete

Gast
Hallo Jon,

ein Bericht über die Kleiderordnung bei Lesungen. Das suggeriert, dass es sonst nichts berichtenswertes gab. Muss wohl eine gähnend langweilige Veranstaltung gewesen sein, wenn dies das herausstechendste Merkmal war, das Dir in Erinnerung geblieben ist.

Die Beliebigkeit der Kleidung lese ich als Synonym für die Austauschbarkeit der Texte.

Ganz ätzend ist "das gehört sich nicht", von mir genommen als Bemühung der Autoren, gängige Klischees zu erfüllen. Mit ihren Beiträgen, versteht sich. Erhellende Momente, Grenzüberschreitungen oder Innovationen sind wohl nicht passiert.

Du bewirkst damit eine Entzauberung der stattgefundenen Lesung und eine Reduktion auf eine Pflichtübung ohne sichtbare Ambitionen.

Der fehlende Schlips, in Deiner Wertung, schafft ein Bild, in dem die Autoren sehr verspätet einem Trend hinterherhecheln, anstatt avantgardistisch zu sein.

Der Schlips folgt derzeit dem Schicksal, dem in den 60er-Jahren die Hutmode gefolgt ist: das Ende einer Konvention.

Deine Botschaft: Die Veranstaltung hat Dich nicht überzeugt.

Für mich zeigt Dein Werk, wie viel Subtext in wenigen Zeilen enthalten sein kann, wie wichtig es ist, dem Leser Raum für eigene Deutungen zu geben.

Für mich stellt diese Methode Neuland dar. Ich schreibe zu explizit. Dein Beitrag stellt daher für mich eine interessante und willkommene Lektion dar.

Danke!

Grüße von
Pete
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Huch, was du da alles drin lesen konntest! Es war gar nicht meine Absicht, all das zu sagen, aber es trifft den Nagel recht genau. Bis auf "dem Trend hinterhecheln" – die jungen Leute (Oberschüler) wussten von diesen Trends vermutlich nichts und die älteren sind wahrscheinlich einfach einer Image-Vorstellung gefolgt. Ein Image ist aber wohl doch meist ein Trend, der der Masse bekannt also nicht mehr taufrisch ist – vielleicht ist deine Deutung also doch richtig …

Der Abend kam mir so vor, als hätten (fast) alle versucht, ihre Individualität zu präsentieren und hätten dafür tief in die Klischee-Kiste gegriffen, um sicher zu gehen, dass die Signale auch ja verstanden werden. Wie wenn man – wenn man Durst hat – ein als tauglich anerkanntes Designerglas nimmt und dann überlegt, was man da wohl reinfüllen könnte. Das an der Kleidung "fest zu machen" war weniger eine Idee – es war so. Man sollte (als Schreiber) vielleicht wirklich bewusster (als ich es tue) darauf achten, was man in welcher Situation wahrnimmt. Insofern herzlichen Dank für deine Interpretation.



Die Lesung war in ihrem Hauptteil tatsächlich langweilig. Lauter kleine Künstler (Gymnasiasten der Oberstufen), die offenbar alle den selben Lyrik-Lehrer hatte und in der Summe einen Wortbrei ablieferten, dessen Themen, Intensionen, ja sogar Bilder sich mir nicht im Geringsten erschlossen. Bis auf ein Werk "klang" es noch nicht mal (und das kam NICHT von den Musik-Oberschülern). Und der einzige Texte, dessen Thema ich erkennen konnte, wurde dann auch noch als selbstkomponierte Gesangsversion (vom Freund für den Freund als Geburtstagsgeschenk) vorgetragen. Ich kam mir vor wie in einem schechten 70er-Jahre-Film über die "avantgardistische" Kunstszene – nur trug man statt "Weltleiden" "jugendlichen Elan" zur Schau.
Am besten war der Teil mit dem "alten" Dichter – in kästnerischer Klarheit hat er Gedichte erzählt. Und da habe ich dann tatsächlich nicht mehr auf die Kleidung oder Mimik oder sonstwas der Gäste (die z.T. auch Lesende waren) geachtet.
 

arle

Mitglied
Meine schwarze Seele hat bei diesem Text freudig gejuchzt. Und vor meinem geistigen Auge erschien spontan jener "Kollege", der ständig unterwegs ist und Hunderte von Visitenkarten verteilt mit der Aufschrift: Schauspieler - Autor - Popsänger, ansonsten aber nicht in Erscheinung tritt... Und DER würde niemals einen Schlips tragen.

Ich bin auch ehrfürchtig erstaunt, welchen Subtext Pete in diesen Zeilen entdeckt hat. Und natürlich hat er Recht mit jedem Wort.

Mich wesentlich simpler gestricktes Gemüt hat s einfach nur gefreut.

Feixend: Silvia
 

mitis

Mitglied
ich habe in diesen zeilen eine "kritik am literaturbetrieb" herausgelesen: bei den meisten lesungen geht es mehr um sehen und gesehen-werden als um ein zuhören.
so zumindest mein eindruck. und deshalb passt es auch so gut, einfach nur die kleidung zu beschreiben - unter diesem titel.

schade, dass du jetzt schon "erklärt" hast, wie dein text tatsächlich zustande gekommen ist. so muss ich feststellen, dass ich mit meiner interpretation nicht ganz richtig liege, aber ich gebe sie trotzdem kund...

lg mitis
 

strolch

Mitglied
es ist schon komisch, auch heute noch gibt es unterschiede, zwischen ost und west (DDR-Gebiet und BRD).

wenn wir zur lesung gehen, dann ist das für uns ein tag für uns, wir gehen vorher schön essen und dann zur lesung und das publikum ist auf das was gelesen wir und den autor fixiert. sie möchten sich einlassen, auf das was kommt.

einige wenige sind da, die gesehen werden wollen, aber wenig.
bei lesungen, besucher von über 400 leuten und das nur weil mehr nicht in den saal gehen, dass ist auch nicht überall zu finden.

lacht doch hier haben die leute sich auch feingemacht, viele männer mit schlips, einfach, weil es, ein besonder tag ist, wo man sich schon drauf freut. oft sehr sachkundiges publikum und einige kennt man, weil sie immer wieder da sind.


ich glaube es liegt auch immer auch am autor/in, wenn sie absonderlich wirken wollen, dann wird auch das publikum so wirken wollen. denn viele autoren, bedienen dieses bild dieses poeten, warum auch immer.

ich denke, dies gedicht, gibt viele möglichkeiten, der auslegung, eben aus der sicht des autoren oder des besuchers.

ich denke hier eher, es ist eine betrachtung, eines besuchers auf den poeten.

mal lesen was die anderen geschrieben haben

schönen tag brigitte
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Hallo mitis,
ne, es ist sicher keine General-Kritik am Literturbetrieb, dazu kenn ich ihn zu wenig, eher an dem, der davon ausgeht, dass, wenn "Kunst" daufsteht, was ganz tolle drin sein muss. Das gibt es aber auch anderswo.

Hallo strolch,
was du beschreibst, ist wohl wneige rein Unetrschied zwischen Ost und West (obwohl "wir hier" wohl tatsächlich einen tendenziell gelösteren Umgang mit Kunst pflegen), sondern zwischen den Ansprüchen. Smoking und Abendkleid betont das Ehrwürdige, abgehoben, Ferne, eher normale Kleidung das "Teil des Lebens sein".
 

jon

Mitglied
Teammitglied
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jon

Mitglied
Teammitglied
Lesung
10. Juli 2007

Da sitzen sie
und sind so jung
und sind so alt
und tragen Sakko
oder Pullover
oder Shirt.
Oder Hemd.
Aber keinen Schlips.
Nur keinen Schlips bitte!
Denn das gehört sich nicht
für Poeten.
 



 
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