Vagant
Mitglied
Letzte Fahrt
Na dann. Die Luft ist feucht und weich. Ihm ist, als ob die herablassende Teilnahmslosigkeit, die die Siedlung in steingraue Watte hüllt, in dem Moment ihren Anfang nimmt, in dem Tür ins Schloss fällt und er nach draußen tritt: der Riss in der Mauer, die müde Farblosigkeit der Nachbargrundstücke, das blassrote Stoppschild. Irgendwo bellt ein Hund, fern und gedämmt wie das Husten eines Kindes. Er denkt: Alles fährt mit 3 km/h vorüber und er bekommt's nicht geschissen aufzuspringen.
Langsam geht er durch den Erlenweg, biegt in die Ulmengasse und erreicht nach wenigen Schritten die sonst so lärmende Frankfurter, die jetzt, zwischen den Jahren, verlassen im Niemandsland der Vororte zu liegen scheint. Obwohl sich ihre Enden im Nebel verlaufen kommt sie ihm heute so lang vor, als hätte sie die Stille bis zur Unendlichkeit gestreckt. Er schaut sich um: Donnerwetter, im Dunst wirst du aus der Gegend nicht schlau. Der Blick auf die Uhr sagt: 9.35 Uhr, genug Zeit um es langsam angehen zu lassen. Eigentlich wollte er mit dem ersten Bus in die Stadt, aber er solle froh sein, sagte die Frau von der Zentrale, dass der 53'er heute überhaupt fährt. Ja fährt, hallo hör'n Se mich? Aber nur neunfuffzig un zwölffuffzig rinn inne Stadt, mehr nich, hör'n Se? Warum schreit die so am Telefon? Und der Dialekt, ach nee. Stimme wie ein Radiowecker, furchtbar. Versteh'n Se, keen Mensch fährt am 30. um sechsfuffzig inne Stadt; Ferien noch dazu. Hör'n Se mich? Wie, ja auch guten Rutsch. Muss wohl die Stellung halten, der Radiowecker, gute alte Seele, lebt allein, keinen Mann, kein Kind, Katze vielleicht, pussypussypussy. Ja, guten Rutsch! Wie, schon aufgelegt? Na da hört sich doch alles auf! Schnippische Person.
Nun geht er die Frankfurter in östliche Richtung hinauf. Neben ihm ruft eine Amsel. Von hinten hört er das Knattern eines Mopeds, Stimmen die kurz darauf wieder verstummen. Im Friseursalon warten ein junges Mädchen auf die ersten Kunden. Sie ordnet Handtücher zu Stapeln die nun wie Journale in einem Lesesaal bereit liegen, richtet Karaffen aus, schaut nach draußen und nickt ihm kurz zu. Er nickt zurück.
Vorm Seiteneingang vom 'da Bruno' parkt ein weißer Lieferwagen. Er kann das Fabrikat nicht ausmachen. Lautlos verschwinden Kisten im fröstelnden Flur. Macht hin, denkt er. Tür muss zu, 's wird kalt.
Nach einigen Metern bleibt er vor der Auslage von 'EP-Lehmann' stehen, schaut durch das Fenster, strahlt und meint, donnerwetter, so eine Heimkinoanlage möchte er auch gern haben. Er denkt: Ich könnte einen Teil von der Abfindung abzwacken. Der Gedanke wird durch das Schild in der Tür, das sich in sein Sichtfeld schiebt, verdrängt:
BETRIEBSFERIEN
vom 23.12.2014 bis 05.01.2015
WIR WÜNSCHEN UNSERER KUNDSCHAFT
EIN FROHES FEST
UND EINEN GUTEN RUTSCH INS NEUE JAHR.
Urlaub? Na denen geht’s gut. Wo nehmen die nur alle das Geld her? Na wen wundert's, bei den Preisen.
Er wechselt die Brennweite. Der handgeschriebene Zettel (haben die keinen Drucker?) verschwimmt mit den Nebeln und im Hintergrund materialisiert sich wieder der große Panasonic. Mensch, darfst dich nicht immer ablenken lassen! Aber in seinem Kopf kreisen nun die Gedanken: Abfindung, freigestellt, Konkurrenz, muss ich Ihnen leider mitteilen dass blablabla, die Lage blablabla, mit dem Maschinenbau ohnehin bergab ginge blablabla, steil bergab, sag ich Ihnen. Stimme wie Kellerbeleuchtung, flackernd und spinnwebenverhangen; bemüht sich um Betroffenheit der Clown. Juniorchef, komplizierte Geschichte. Sie müssen verstehen, die Konkurrenz sitzt mir im Nacken und unseren Job macht ja eh bald der Schienäse oder irgend so'n Bimbo, Schienäse? Arschloch, kann nicht mal richtig Deutsch. Nein nein, in Ihr Büro können Sie unter diesen Umständen nun leider nicht mehr. Das verstehen Sie doch? Bleiben Sie doch mal bis Jahresende zu hause, Ihren Schreibtisch können Sie dann am 30. oder 31. noch ausräumen. Blödmann, zeig's ihm gleich wer ihm im Nacken sitzt, aber so richtig; freigestellt, abgestellt, kaltgestellt, totgestellt.
Er denkt: Vergiss nicht den Schlüssel beim Pförtner abzugeben! In solchen Dingen war immer Verlass auf ihn gewesen. Langsam setzt er sich wieder in Bewegung.
Er ist in Gedanken, und obwohl er schon seit langem die Gewohnheit hat das Aufkommen und Verwehen der Wolken und die die wechselnde Beleuchtung genaustens zu verfolgen, nimmt er nicht wahr, dass sich das Ende der Straße nun etwas lichtet.
16MnCr5
58-60 HCR
Eht = 0,5 + 0,3
gear smoothened
Gear smoothened - wie er den Klang dieses 'smoothened' doch immer gemocht hat. Ihm scheint nun, als setze alles Erinnern mit diesem 'smoothened' ein, des Geschliffen-Werdens und als beginne für ihn alles mit diesem Prozess des Zur-Erinnerung-Werdens, des Ankommens in dieser Welt, seines Werdens. Er ist nun ein wenig nervös als er weiter geht, ohne recht zu wissen weshalb.
50 Meter vor ihm hällt Christines blauer Toyota vor ihrem Laden. Sie steigt aus, schaut zu ihm und prustet los: „Oi oi, dir lassen sie aber auch keinen Tag Ruhe. Aber schön, dass wir uns nochmal sehen.“
Stimme wie'n neuer Zehneuroschein, knisternd, pergamentend; quäkige Vokale und zieht's S nach wie ein lahmes Bein – hannoveraner Schule, aber fickt wie vom Dorf, früher jedenfalls; geht 'n bisschen auseinander, die liebe, den Weg allen Weiblichen; wer nochmal sagte das?
Er küsst sie; rechts, links, rechts und knabbert ihr beim letzten Rechts leicht am Ohrläppchen.
Sie lacht: „Bis zum letzten Tag. Die Friedhöfe sind voll mit Leuten die sich für unverzichtbar hielten.“ Sie kneift ihn in die Wange, lächelt mokant.
Er reibt sich die geknuffte Stelle: „Ich muss zum Bus. Gibst du mir noch schnell 'ne BILD mit?“
„Na jedenfalls 'nen guten Rutsch“, sagt sie und gibt ihm noch einen schnellen Kuss auf den Mund.
Schmeckt wie früher, riecht wie früher, denkt er und sagt: „Donnerlüttchen, da kriegt man ja Appetit. Dir auch 'nen guten Rutsch, und grüß mir deinen Mann.“
„Ist gemacht.“
Ihre Fröhlichkeit stößt ihn ein bisschen ab, das muss er zugeben. Und er spürt: Nichts davon hatte etwas mit diesem 'smoothened' zu tun, das zu seinem Erinnern gehört wie der Weg zum Bus, die Zeit im Büro, die Wochenenden mit der Familie, der Fick mit Christine. Dagegen: alles bodenlos. Diese schlangenhafte Ssss; bodenlos. Der Kuss; bodenlos. Der Weg vor ihm; nun bodenlos.
Nein, das geht so nicht!
Fassung bewahren!
Imaginären Punkt suchen!
Gehen!
Er sucht nach diesem Punkt der ihn im Nebelmeer verankern kann und sein Blick bleibt dabei an einem Verteilerkasten der Stadtwerke hängen. Der Rauhreif auf dem glatten grauen Plastik imitiert das Muster eines Waffeleisens. Er hat kürzlich etwas über dieses Phänomen im 'National Geographic' gelesen, kann sich aber nicht mehr genau erinnern. Trotzdem, die Genauigkeit seiner Beobachtung verblüfft ihn. Langsam setzt er sich wieder in Bewegung und der Verteilerkasten gleitet aus seinem Blickfeld, ohne sich auch nur mit einer Geste dagegen zu wehren. Kurz vor der diesigen Unendlichkeit ist nun das grüngelbe Schild der Bushaltestelle zu erkennen. Es erinnert ihn an ein Alpenaurikel, das festgekrallt im blassen Fels gegen das Verwehen ankämpft. Nun sieht er am Ende der Straße den 53'er aus dem Nebel kommen. Na dann.
Na dann. Die Luft ist feucht und weich. Ihm ist, als ob die herablassende Teilnahmslosigkeit, die die Siedlung in steingraue Watte hüllt, in dem Moment ihren Anfang nimmt, in dem Tür ins Schloss fällt und er nach draußen tritt: der Riss in der Mauer, die müde Farblosigkeit der Nachbargrundstücke, das blassrote Stoppschild. Irgendwo bellt ein Hund, fern und gedämmt wie das Husten eines Kindes. Er denkt: Alles fährt mit 3 km/h vorüber und er bekommt's nicht geschissen aufzuspringen.
Langsam geht er durch den Erlenweg, biegt in die Ulmengasse und erreicht nach wenigen Schritten die sonst so lärmende Frankfurter, die jetzt, zwischen den Jahren, verlassen im Niemandsland der Vororte zu liegen scheint. Obwohl sich ihre Enden im Nebel verlaufen kommt sie ihm heute so lang vor, als hätte sie die Stille bis zur Unendlichkeit gestreckt. Er schaut sich um: Donnerwetter, im Dunst wirst du aus der Gegend nicht schlau. Der Blick auf die Uhr sagt: 9.35 Uhr, genug Zeit um es langsam angehen zu lassen. Eigentlich wollte er mit dem ersten Bus in die Stadt, aber er solle froh sein, sagte die Frau von der Zentrale, dass der 53'er heute überhaupt fährt. Ja fährt, hallo hör'n Se mich? Aber nur neunfuffzig un zwölffuffzig rinn inne Stadt, mehr nich, hör'n Se? Warum schreit die so am Telefon? Und der Dialekt, ach nee. Stimme wie ein Radiowecker, furchtbar. Versteh'n Se, keen Mensch fährt am 30. um sechsfuffzig inne Stadt; Ferien noch dazu. Hör'n Se mich? Wie, ja auch guten Rutsch. Muss wohl die Stellung halten, der Radiowecker, gute alte Seele, lebt allein, keinen Mann, kein Kind, Katze vielleicht, pussypussypussy. Ja, guten Rutsch! Wie, schon aufgelegt? Na da hört sich doch alles auf! Schnippische Person.
Nun geht er die Frankfurter in östliche Richtung hinauf. Neben ihm ruft eine Amsel. Von hinten hört er das Knattern eines Mopeds, Stimmen die kurz darauf wieder verstummen. Im Friseursalon warten ein junges Mädchen auf die ersten Kunden. Sie ordnet Handtücher zu Stapeln die nun wie Journale in einem Lesesaal bereit liegen, richtet Karaffen aus, schaut nach draußen und nickt ihm kurz zu. Er nickt zurück.
Vorm Seiteneingang vom 'da Bruno' parkt ein weißer Lieferwagen. Er kann das Fabrikat nicht ausmachen. Lautlos verschwinden Kisten im fröstelnden Flur. Macht hin, denkt er. Tür muss zu, 's wird kalt.
Nach einigen Metern bleibt er vor der Auslage von 'EP-Lehmann' stehen, schaut durch das Fenster, strahlt und meint, donnerwetter, so eine Heimkinoanlage möchte er auch gern haben. Er denkt: Ich könnte einen Teil von der Abfindung abzwacken. Der Gedanke wird durch das Schild in der Tür, das sich in sein Sichtfeld schiebt, verdrängt:
BETRIEBSFERIEN
vom 23.12.2014 bis 05.01.2015
WIR WÜNSCHEN UNSERER KUNDSCHAFT
EIN FROHES FEST
UND EINEN GUTEN RUTSCH INS NEUE JAHR.
Urlaub? Na denen geht’s gut. Wo nehmen die nur alle das Geld her? Na wen wundert's, bei den Preisen.
Er wechselt die Brennweite. Der handgeschriebene Zettel (haben die keinen Drucker?) verschwimmt mit den Nebeln und im Hintergrund materialisiert sich wieder der große Panasonic. Mensch, darfst dich nicht immer ablenken lassen! Aber in seinem Kopf kreisen nun die Gedanken: Abfindung, freigestellt, Konkurrenz, muss ich Ihnen leider mitteilen dass blablabla, die Lage blablabla, mit dem Maschinenbau ohnehin bergab ginge blablabla, steil bergab, sag ich Ihnen. Stimme wie Kellerbeleuchtung, flackernd und spinnwebenverhangen; bemüht sich um Betroffenheit der Clown. Juniorchef, komplizierte Geschichte. Sie müssen verstehen, die Konkurrenz sitzt mir im Nacken und unseren Job macht ja eh bald der Schienäse oder irgend so'n Bimbo, Schienäse? Arschloch, kann nicht mal richtig Deutsch. Nein nein, in Ihr Büro können Sie unter diesen Umständen nun leider nicht mehr. Das verstehen Sie doch? Bleiben Sie doch mal bis Jahresende zu hause, Ihren Schreibtisch können Sie dann am 30. oder 31. noch ausräumen. Blödmann, zeig's ihm gleich wer ihm im Nacken sitzt, aber so richtig; freigestellt, abgestellt, kaltgestellt, totgestellt.
Er denkt: Vergiss nicht den Schlüssel beim Pförtner abzugeben! In solchen Dingen war immer Verlass auf ihn gewesen. Langsam setzt er sich wieder in Bewegung.
Er ist in Gedanken, und obwohl er schon seit langem die Gewohnheit hat das Aufkommen und Verwehen der Wolken und die die wechselnde Beleuchtung genaustens zu verfolgen, nimmt er nicht wahr, dass sich das Ende der Straße nun etwas lichtet.
16MnCr5
58-60 HCR
Eht = 0,5 + 0,3
gear smoothened
Gear smoothened - wie er den Klang dieses 'smoothened' doch immer gemocht hat. Ihm scheint nun, als setze alles Erinnern mit diesem 'smoothened' ein, des Geschliffen-Werdens und als beginne für ihn alles mit diesem Prozess des Zur-Erinnerung-Werdens, des Ankommens in dieser Welt, seines Werdens. Er ist nun ein wenig nervös als er weiter geht, ohne recht zu wissen weshalb.
50 Meter vor ihm hällt Christines blauer Toyota vor ihrem Laden. Sie steigt aus, schaut zu ihm und prustet los: „Oi oi, dir lassen sie aber auch keinen Tag Ruhe. Aber schön, dass wir uns nochmal sehen.“
Stimme wie'n neuer Zehneuroschein, knisternd, pergamentend; quäkige Vokale und zieht's S nach wie ein lahmes Bein – hannoveraner Schule, aber fickt wie vom Dorf, früher jedenfalls; geht 'n bisschen auseinander, die liebe, den Weg allen Weiblichen; wer nochmal sagte das?
Er küsst sie; rechts, links, rechts und knabbert ihr beim letzten Rechts leicht am Ohrläppchen.
Sie lacht: „Bis zum letzten Tag. Die Friedhöfe sind voll mit Leuten die sich für unverzichtbar hielten.“ Sie kneift ihn in die Wange, lächelt mokant.
Er reibt sich die geknuffte Stelle: „Ich muss zum Bus. Gibst du mir noch schnell 'ne BILD mit?“
„Na jedenfalls 'nen guten Rutsch“, sagt sie und gibt ihm noch einen schnellen Kuss auf den Mund.
Schmeckt wie früher, riecht wie früher, denkt er und sagt: „Donnerlüttchen, da kriegt man ja Appetit. Dir auch 'nen guten Rutsch, und grüß mir deinen Mann.“
„Ist gemacht.“
Ihre Fröhlichkeit stößt ihn ein bisschen ab, das muss er zugeben. Und er spürt: Nichts davon hatte etwas mit diesem 'smoothened' zu tun, das zu seinem Erinnern gehört wie der Weg zum Bus, die Zeit im Büro, die Wochenenden mit der Familie, der Fick mit Christine. Dagegen: alles bodenlos. Diese schlangenhafte Ssss; bodenlos. Der Kuss; bodenlos. Der Weg vor ihm; nun bodenlos.
Nein, das geht so nicht!
Fassung bewahren!
Imaginären Punkt suchen!
Gehen!
Er sucht nach diesem Punkt der ihn im Nebelmeer verankern kann und sein Blick bleibt dabei an einem Verteilerkasten der Stadtwerke hängen. Der Rauhreif auf dem glatten grauen Plastik imitiert das Muster eines Waffeleisens. Er hat kürzlich etwas über dieses Phänomen im 'National Geographic' gelesen, kann sich aber nicht mehr genau erinnern. Trotzdem, die Genauigkeit seiner Beobachtung verblüfft ihn. Langsam setzt er sich wieder in Bewegung und der Verteilerkasten gleitet aus seinem Blickfeld, ohne sich auch nur mit einer Geste dagegen zu wehren. Kurz vor der diesigen Unendlichkeit ist nun das grüngelbe Schild der Bushaltestelle zu erkennen. Es erinnert ihn an ein Alpenaurikel, das festgekrallt im blassen Fels gegen das Verwehen ankämpft. Nun sieht er am Ende der Straße den 53'er aus dem Nebel kommen. Na dann.