Letztes Märchen

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nisavi

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Erzähl’ mir deine Geschichte, hatte mich meine Tochter gebeten.
Die Geschichte, die uns trennt; die Geschichte, die uns verbindet.
Früher, als sie noch ein Kind war, hatte ich ihr auch Märchen erzählt. Sonntagfrüh. Im Bett.
Meist wählte ich „Rumpelstilzchen“. Dort spielte keine Stiefmutter eine Rolle.
Einem Mann wurde seine Frau krank.
Als sie fühlte, dass sie nie eins mit dieser Welt sein würde, ging sie noch einmal zu den schlafenden Söhnen. Sie deckte sie zu, so, wie nur Mütter es tun. „Seid fromm und gut. Ich will auf euch herabblicken und um euch sein.“ Am nächsten Morgen fand der Vater den leblosen Körper der Frau auf dem Dachboden.
Ein langer Winter legte weißes Linnen auf ihr Grab.
Als die Frühlingssonne das Tuch hinwegnahm, hatten die Verwandten eine andere für den Mann gefunden. Er heiratete erneut. Die Familie zog in eine Stadt. Sie lebten dort im Frieden miteinander.
Nachts jedoch, im Schlaf, rief der Mann den Namen der Toten.
Die Frau legte dann schützend ihre Hand auf den Leib.

Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen.
Eigentlich war „Aschenputtel“ mein Lieblingsmärchen gewesen. Plötzlich aber war da keiner mehr, der uns Märchen vorlas.
Mein bis dahin buntes Kinderleben wurde von fremden Leuten schwarz gerahmt. Ich begriff nicht, wieso mein sanfter und streng gläubiger Vater erbittert mit dem Pfarrer stritt.
Mutter wurde außerhalb des kleinen Dorffriedhofes begraben.
Jeden Abend versuchte ich, mir ihr Gesicht vorzustellen. Anfangs gelang mir das noch, aber nach wenigen Wochen verschwammen die Bilder hinter meinen Lidern.
Ein dritter Sohn wurde geboren.
Für die Brüder begann eine schlimme Zeit, denn die Frau fürchtete, ihr Mann werde das gemeinsame Kind weniger lieben als die Söhne aus der ersten Ehe. Das Herz kehrte sich ihr im Leibe um, wenn sie beobachtete, wie die lockenköpfigen Jungen im Hinterhof spielten. Die Sorge um das Kind in der Wiege wucherte wie Unkraut in ihr, immer höher, und ließ ihr Tag und Nacht keine Ruhe mehr.
Schließlich musste der Vater in einen Krieg ziehen und seine Kinder blieben in der Obhut der Gemahlin zurück.

Ich hatte mir angewöhnt, mich auf dem schwarz gerahmten Gemälde unsichtbar zu machen. Grau wurde ich und verschmolz mit den Fassaden der Mietskasernen.
Ich schwieg. Ich aß. Ich schlief. Ich schwieg.
Wenn sie mich rief, reagierte ich nie sofort. Erst beim zweiten oder dritten Mal nahm ich Konturen an.
Die Zeiten wurden schlecht. Menschen hungerten und froren.
„Wer Brot essen will, muss es sich verdienen“, schrie die Frau die älteren Kinder an und ließ sie Tag für Tag hart arbeiten. Sie mussten Holz und Kohlen schleppen. Das Treppenhaus wischen. Faule Kartoffeln und Mohrrüben schälen. Den kleinen Bruder in einem Ungetüm von einem Kinderwagen umherfahren.
Die beiden waren maulfaul und wichen ihr aus. Manchmal gaben sie trotzige Widerworte. Dann schlug und trat sie die zwei. Sie schlug zu, weil sie nicht wusste, wie sie die Familie allein durch den Winter bringen sollte. Sie ballte die Fäuste, weil nur so selten Post von der Front kam. Sie schrie, weil der Schwager in Russland gefallen war. Sie beschimpfte die Kinder, weil sie wusste, dass sie zweite Wahl war. Tränen der Enttäuschung rannen über ihre Wangen, weil es nicht ihr Name war, den der Mann nachts rief.
Hinterher tat es ihr leid.

Ich war aus dem Rahmen gefallen, lag am Boden und versuchte, meinen Körper vor den Schlägen und Tritten zu schützen. Es gelang mir nicht. Ich sei böse, dumm und zu nichts nutze. Ich würde lügen und stehlen. Eine einzige Last. Als sie von mir abließ, blieb ich liegen. Ich weinte lautlos. Ich weinte, weil ich meinen Vater vermisste. Weil ich nicht mehr wusste, wie die Mutter gerochen hatte. Weil ich ihr Gesicht nicht mehr sah. Die Tränen rannen, weil ich zweite Wahl war. Nicht eins mit der Welt. Bäumchen, Bäumchen, rüttle dich.
Die Luftangriffe der Alliierten nahmen zu. Immer häufiger mussten die Frau und die Kinder die Nächte im Luftschutzkeller verbringen. Als eine Bombe das Nachbarhaus traf und sie in den Gewölben die Schreie der verbrennenden Bewohner hörten, sah sie das Entsetzen in den Augen der Jungen. Ihre Angst. Sie taten ihr leid, aber sie brachte es nicht über sich, ihnen über die Haare zu streichen. Sie wollte für sie sorgen, aber sie liebte sie nicht, so wie auch sie versorgt und respektiert, aber nicht geliebt worden war.
Jahre später, ich hatte längst begonnen, eigene Bilder zu malen und sie zu rahmen, schlug auch ich zu. Wieder und wieder. Wenn du am Boden lagst, trat ich dich in die Seite. Ich verfluchte dich voller Wut. Du warst ein Mädchen – nicht der erhoffte Sohn. Du hattest gelogen. Mich bestohlen. Warst laut, fröhlich, frech und konntest dir die Malreihen nicht merken. Du warst mir fremd. Rucke di gu, rucke di gu - Blut war im Schuh. Immer, wenn ich mich beruhigt hatte, hasste und schämte ich mich. Ich brachte es nicht über mich, dir über die Locken zu streicheln. Ich konnte nicht um Entschuldigung bitten. Ich hatte es nicht gelernt. Jedes meiner Bilder enthielt das Grau des Stiefmutterhauses.

Ich hätte dir schon damals das Märchen vom Aschenputtel erzählen sollen.
 



 
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