Leuchter

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Leuchter
„Sie riechen etwas streng“, sagte die Schwester, als sie sich über ihn beugte, um die Elektroden des EKG an seinem Körper zu befestigen. Blöde Zicke, dachte er, aber dann musste er ihr Recht geben. Er hätte sich waschen sollen heute Morgen, oder gestern, oder vorgestern. Aber er konnte doch nicht wissen, dass er umfallen würde, mitten auf der Straße. Wenn nur diese Atemnot nicht wäre! Aber wer weiß denn auch, wie viel Kraft dazu gehört, all das Alltägliche zu tun, Mahlzeiten zuzubereiten für sich allein, die Wohnung aufzuräumen, wenn doch keiner kommt, sich zu pflegen, das fängt doch schon damit an, dass man in den Spiegel sehen muss, all dieses Elend nicht mehr leugnen kann, das einem da entgegen schaut.
Mit zwei Schachteln Tabletten wurde er entlassen, Ärztemuster, kostenlos. Irgendwie mussten sie geahnt haben, dass er die Zuzahlung nicht leisten konnte. Sie hatten auch die Praxisgebühr nicht kassiert. „Die müssen Sie aber auch nehmen“, sagte die Schwester. „Mit etwas Wasser, nicht mit Schnaps!“ fügte sie noch hinzu. Aha, daher wehte der Wind. Sie hielt ihn für einen Alki. Im Grunde genommen kein Wunder. Ungewaschen, unrasiert, sein Pullover war auch nicht kuschelweich und sauber und die Jeans hatten Flecken, unübersehbar.
Dann stand er wieder auf der Straße. Die Lichterketten spiegelten sich in den Pfützen. Schaufenster erleuchteten das nasse Pflaster des Bürgersteigs. Vor dem Steakhaus strahlte ein Weihnachtsbaum. Vor vier Wochen hatten sie ihn schon aufgestellt. Für ihn völlig umsonst. Selbst wenn er das Geld noch hätte, sie würden ihn gar nicht hineinlassen. Außerdem, 16,50 für ein Steak ist ganz schön happig. Auch wenn das Knoblauchbrot wirklich lecker ist, und die Sourcream hier so schmeckt wie nirgendwo.
Heutzutage muss man dazu gehören, dachte er. Aber sie hatten ihn ausgeschieden. Und so fühlte er sich, wie ein Stück Scheiße. Ihm gefiel dieses Wort, jetzt erst recht. Man glaubt ja nicht, dass es so ist, bis es einen trifft. Und dann kommt es Schlag auf Schlag. Die Amerikaner hatten sie aufgekauft und dann verlagert. Er wurde freigesetzt oder abgewickelt, es gibt schöne Wörter dafür. Abgewickelt war er, auf der Spule war kein Faden mehr drauf, nur frei fühlte er sich nicht, obwohl er nun frei war, Angeln konnte, wann immer er wollte, zu jedem Spiel des FC gehen durfte, wenn sie ihn reingelassen hätten, ohne Karte. Sie verbot ihm nichts mehr, nur ihn hatte sie sich verbeten. Den Kleinen und das Auto hatte sie gleich mitgenommen, die Großen waren ja schon aus dem Haus. Abgestreift, hatte sie ihn, wie ein Stück…
Vor dem Sammelsurium im Schaufenster des Antiquitätengeschäftes blieb er stehen. Was man nicht alles verkaufen kann! Zuckerdosen, Mokkatassen mit Goldrand, Heiligenfiguren, Altarleuchter – wo die wohl herkommen? So ein Schiffsmodell, die Kogge da, das wäre nicht schlecht. Der Ladenbesitzer kam aus der Tür, das Glockenspiel klang verzaubert. Er machte sich am Scherengitter zu schaffen. Schon Ladenschluss. Er sperrte seine alten Sachen ein. Eigentlich könnte er mich in sein Fenster stellen, alt bin ich, zu alt. Mich will keiner haben. Deswegen geht er jetzt auch wieder rein und sieht mich nicht an. Als ich damals die Brigg kaufte, die jetzt auf dem Vertiko verstaubt, Spinnenweben wie zusätzliche Taue, da war er freundlicher, hat sie sogar nach Hause geliefert.
Er schlurfte weiter, seiner schiefen Absätze durchaus bewusst. Schon wieder wurde ihm die Luft knapp. Er blieb noch einmal stehen, atmete tief ein. Einmal. Noch einmal. Bloß nicht wieder umfallen. Luft holen. Ich muss mich setzen. Bis da drüben schaffe ich es. Ich muss langsam gehen.
Die hohe Tür aus Bronze ließ sich schwer öffnen. Als sie sich hinter ihm schloss und den Lärm des Verkehrs schlagartig abschnitt, wäre sie ihm fast in den Rücken gefallen. Er schlich über den roten Teppich den langen Gang nach vorn, ein roter Teppich, dachte er, für mich ein roter Teppich, hier müsste ich schreiten und nicht so schlubbern, aber er bekam die Füße einfach nicht mehr hoch. In der ersten Bank ließ er sich fallen. Das gedämpfte Licht tat ihm gut. Hier drin hatten sie auch einen Adventskranz. Mit elektrischen Kerzen. Er würde nie künstliche Kerzen haben, dann lieber keinen Kranz, so wie jetzt. Die Altarleuchter schimmerten kostbar. Solche wie drüben, dachte er. Welche Kirche verkauft schon ihre Leuchter?
Draußen an der schweren Tür hatte er das Schild gesehen, mit Tesafilm auf die Bronze geklebt: Offene Kirche. Die Stille fing an, in ihm zu singen. Tagsüber sind bestimmt nicht viele hier. Das ist keine Sehenswürdigkeit. Die steht in keinem Reiseführer. Einfach nur eine Kirche. Und die Leuchter schimmern. Neben dem Schlafzimmerschrank, den sie nicht mithaben wollte, weil die Türen etwas schief hingen, und er es nicht fertig brachte, sie zu richten, stand seine alte Sporttasche, die er immer zum Angeln mitnahm. Sie würden reinpassen, die Länge stimmte. Die Leuchter auf der weißen Spitzendecke schimmerten.
Als er wieder zu Atem gekommen war, stand er auf. Absichtlich stieg er nicht die zwei Stufen zum Altar hoch. Nicht, weil er streng roch, wie die Schwester gesagt hatte. Nur weil er sich nicht schlüssig war. So viele kommen tagsüber nicht zum Beten. Die abgeschabte Tasche ist groß genug. Er ging nach links zum Taufbecken. Vorsichtig, fast schüchtern strich er mit seiner Hand über den breiten silbernen Rand. Seine Fingernägel könnte er auch mal sauber machen. Wie kühl das Metall war. Die Schale liegt lose auf dem Stein. Sie wackelt leicht. Ziemlich breit, aber sie würde auch noch passen. Da ist auch noch eine Inschrift. Fraktur. Seine Kinder können das nicht mehr lesen. Er kippte die Schale zum Licht. „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.“ Und eine Bibelstelle, die er doch nicht finden würde.
Wieso duzen die mich einfach? Aber irgendwie war das ein anderes Du als da draußen für ein Gesicht voller Bartstoppeln und einen ungewaschenen Kerl. Er ärgerte sich noch heute über den Busfahrer, der ihn angesprochen hatte: „Hallo, hast du überhaupt eine Fahrkarte?“ Er hatte eine. Vorsichtig ließ er die Schale wieder herunter. Er schnippte mit seinem Finger gegen den Rand. Lange sang der Ton nach in der Stille des weiten Raums.
Er hörte das Klingen noch, als er sich wieder auf die Bank fallen ließ. Als es erstorben war, erwachte ein sonderbares Singen in ihm. Er lauschte eine Weile in sich hinein. Dann erhob er sich, suchte sich die Mitte des roten Teppichs, richtete sich auf, holte noch einmal tief Luft, machte sich noch einmal gerade und schritt den langen Gang hinunter zum Ausgang.
 



 
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