Leute in Kassel

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Anderswo macht sich in Presse-Shops unbeliebt, wer dort Zeitungen liest, ohne sie zu erwerben, oder wer Zeitschriften unter der Jacke mitgehen lässt, sie also klaut – in Kassel haben sie andere Probleme. „Sie da drüben“, ruft die Angestellte in einen entfernten Winkel hinüber, „Sie - Sie dürfen nicht auf die Zeitungen spucken! Hören Sie sofort auf, auf die Zeitungen zu spucken – da hat sich gerade ein Kunde beschwert. Da muss ich es ihm doch sagen (erklärt sie uns an der Kasse), Sie … Sie dürfen nicht auf die Zeitungen spucken …“ Das spuckende Subjekt äußert sich dazu nicht, es bleibt einfach stumm.

Kassel ist ein wenig sonderbar. Die Normallage dort ist die schiefe Ebene. Wo man auch geht und steht, es geht fast immer ein wenig bergauf oder bergab und das in ständigem Wechsel. Blickt man etwa vom einen Ende der schnurgeraden Wilhelmshöher Allee zum anderen hinüber, hebt und senkt sich das Terrain vor einem in Wellen wie nach einem schweren Erdbeben. Bei Glatteis stelle ich mir das Herumgehen in dieser Stadt, sagen wir mal, spannungsreich vor.

Die Hauptstraße senkt sich von Südwest nach Nordost und heißt erst Obere, dann Untere Königsstraße, eine Fußgängerzone mit regem Trambahnverkehr in der Straßenmitte. Pro Stunde verkehren hier gut fünfzig Straßenbahnen. Dessen ungeachtet schreitet eine junge Dame auf dem gepflasterten Gleiskörper wie ein Model auf dem Laufsteg einher, wirft Blicke nach rechts wie nach links, eine Schiene als ihr Leitfaden. Die Schöne hat kein Ohr für das heransurrende blaue Ungetüm hinter ihr. Jetzt die Glocke! Kurzes Erstaunen in guter Haltung, zu spät versucht man, Abstand zu gewinnen – sie wird schon touchiert und … nein, sie scheint nicht ernstlich verletzt, dreht sich zur Seite und lächelt ins Publikum am Straßenrand - ganz Model am Ende seines Laufstegs.

Die fünf Kilometer lange Wilhelmshöher Allee führt vom Zentrum zum gleichnamigen Schloss, das dort auf einem Rasenhügel thront, seinen Zugang jedoch auf der stadtabgewandten Rückseite hat. Man muss daher erst ausweichen und rechts oder links um eine Schlossecke herumgehen. Was aber machen viele Kasseler? Sie erklimmen den steilen Rasenhügel und verlängern so die breite fürstliche Allee zu einem aufwärtsführenden schmalen Ochsentrampelpfad. (Es hat sich dort bereits eine Erosionsrinne gebildet.) Das sieht nicht schön aus, zeugt immerhin von zweckfreier Konsequenz, denn oben angekommen, müssen sie doch ums Schloss herumgehen. („Kasseläner sind stur“, behauptet ein Plakat, das meine Vermieterin an der Wand befestigt hat.)

Die Straßenbahnen befördern hier nicht nur Fahrgäste, sondern auf großzügigen Stellflächen noch vieles mehr: jede Menge Kinderwagen – Kassel muss eine ungewöhnlich kinderreiche Stadt sein – viele, viele Fahrräder – es ist nur ein Aberglauben, anzunehmen, Fahrräder seien zum Fahren da, ihre wahre Bestimmung ist der Huckepackverkehr – Rollatoren und immer wieder Rollstühle – in der Königsstraße gelangte eine Benutzerin erst beim zehnten Anlauf aus der Bahn hinaus: „Links herum! Links herum!“ rief man ihr zu, doch das war ihr in der Seele zuwider, sie steuerte rückwärts stets nach rechts und blieb immer wieder in der Tür hängen – und einmal sogar ein Palettenwagen (ohne Paletten) – eine junge Frau schob ihn siegesgewiss lächelnd in die Straßenbahn hinein.

Ob ich auch die Wasserkünste in Wilhelmshöhe gesehen habe? Gewiss doch, es war an einem wolkenverhangenen Mittwoch. Zuerst oben am Herkules eine kleine Fontäne, die nach Minuten, in denen keiner „Oh!“ sagte, ein bisschen größer wurde. Da fielen wie aus Mitleid vereinzelte Tropfen aus den Regenwolken. Synchron ergossen sich jetzt die Wassermassen – 1.300.000 Liter aus dem Speicherbecken – die Kaskaden hinunter. Mit Hunderten weiterer Schaulustiger beeilte ich mich, bergab Station 2 zu erreichen: den „Steinhöfer Wasserfall“. Es regnete schon merklich, als die Wassermassen – 1.300.000 Liter aus dem Speicherbecken! – den verzwickt verzweigten Wasserfall hinunterstürzten. Es kamen noch weitere Wasserfälle. Mal schossen die 1.300.000 Liter unter der „Teufelsbrücke“ hindurch, mal stürzten sie vom ruinösen „Aquädukt“ herunter, um sich anschließend in den „Kleinen Kaskaden“ zu verläppern. Was soll ich sagen: Von einem künstlichen Wasserfall zum anderen wurde der echte Regen von oben stärker, schauerlicher. Ein Meer von Regenschirmen zog sich wie ein Lindwurm die Hänge des Bergparks hinab. Endlich, nach einer Stunde, am „Fontänenteich“ angelangt. Der Baedeker formuliert es so: „Hier finden die ‚romantischen Wasserspiele’ in dem 60 m hoch aufsteigenden Strahl der großen Fontäne ihr grandioses Ende.“ Die Wolkendecke war niedriger, und der Strahl der Fontäne muss etwas in ihr angebohrt haben. Es hatte schon einige Zeit gegrummelt, jetzt war das Gewitter direkt über uns. Und alles floh panisch aus dem Park, weiter hinab zu den Auto- und Busparkplätzen wie zur Straßenbahn, Alte und Junge, Kinder und Hunde. Was für ein schönes Gemeinschaftserlebnis.
 
Wipfel, da bin ich anderer Auffassung. Lies doch bitte im Einführungstext hier nach, speziell zu Beginn des vierten Absatzes. Oder nimm dir einen Auswahlband Kurzprosa von Robert Walser vor.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

Vagant

Mitglied
Hallo Arno,

Ob es sich hier um Kurzprosa oder um eine kürzere Erzähung handelt, ist eigentlich nicht wirklich relevant – ein Etikett, mehr nicht. Da sich der Text aber nun bei Kurzprosa eingereiht hat, kann man letztendlich ihn auch nach den Kriterien der Kurzprosa bewerten.
Du bringst hier einen Erzählband (Kurzprosa) von Walser ins Spiel. Ich finde das als Argument nicht sehr zielführend, denn genau so gut könnte man nun mit hier nun mit Peter Wehrlis 'Katalog von Allem' kontern, eine Sammlung von ca. 1000 kleinen Texten zu ganz alltäglichen Schlagwörtern, viele der Texte davon nicht länger als 5 Zeilen, keiner mehr als 20, und jeder Text wie ein kleines Schwarzweißfoto, mal lyrisch, mal nüchtern, aber immer extrem verdichtet. Du siehst daran: Die Einordnung dessen, was der einzelne von Kurzprosa erwartet, wird nicht im Forentext sondern im eigenen Bücherschrank festgelegt.
Also ein vornweg: Kassel fand ich schon immer langweilig. Dein Text konnte mich nun nicht vom Gegenteil überzeugen. Das war aber sicher auch nicht Deine Intension. Da ich nicht den 'Walser', dafür aber den 'Wehli' im Regal stehen habe, ist mir hier auch bedeutend zu viel erzählt. Von Kurzprosa erwarte ich eine völlig andere Art von Text.

Zwei, drei Gedanken zum Text (ohne nun Zeile für Zeile darauf einzugehen)
Anderswo macht sich in Presse-Shops unbeliebt, wer dort Zeitungen liest, ohne sie zu erwerben, oder wer Zeitschriften unter der Jacke mitgehen lässt, sie also klaut – in Kassel haben sie andere Probleme.
Ich denke, der Erzähler sollte sich hier auf ein passendes Verb festlegen. Entweder er schreibt 'mitgehen lassen' oder 'klauen'. Dem Leser hier die Kompetenz abzusprechen und ihm zu suggerieren, es beim ersten mal ohnehin nicht verstanden zu haben, kommt nie gut an.

Kassel ist ein wenig sonderbar. Die Normallage dort ist die schiefe Ebene. Wo man auch geht und steht, es geht fast immer ein wenig bergauf oder bergab und das in ständigem Wechsel. Blickt man etwa vom einen Ende der schnurgeraden Wilhelmshöher Allee zum anderen hinüber, hebt und senkt sich das Terrain vor einem in Wellen wie nach einem schweren Erdbeben. Bei Glatteis stelle ich mir das Herumgehen in dieser Stadt, sagen wir mal, spannungsreich vor.
Hier finde ich die ersten zwei Sätze völlig ausreichend. Nicht nur das – ich fände sie sogar saugut, allerdings nur dann, wenn es damit getan wäre. Kassels Topografie wäre mit diesen zwei Sätzen mehr als genug beschrieben. Die ganze angehängte Prosa ist hier nur noch Redundanz, die keine wirklich neuen Aspekte beiträgt.
Aber ich habe hier in den letzten Jahren schon einiges von dir gelesen (immer gern), und weiß, dass das eine von dir gewünschte Redundanz ist, dass dies deine Art des Erzählens ist.
Am Ende des Absatzes hast du da einen Einwurf, dieses 'sagen wir mal'. Das sind genau diese Stellen, an denen mir dann zu viel Autor durchsickert, zu viel Arno. Da kommt es mir immer so vor, als wolle sich der Autor hier noch einmal versichern, etwas bekräftigen, als traue er seiner eigenen Erzählung gerade nicht über den Weg – da wird es unkonkret, weil ich mich als Leser dann immer frage: Na, weiß er's nun, oder weiß er's gerade nicht so genau?

Sorry, das war nun wirklich viel gemeckert; und das, obwohl ich Deinen Stil eigentlich sehr schätze. Als kurze Erzählung finde ich diesen Text gut und ohne nennenswerte Schwächen, und ich wollte damit nur verdeutlichen, warum es auch für mich keine Kurzprosa ist. Aber das ist ja, wie ich eingangs bereits sagte, eigentlich gar nicht relevant.

LG Vagant.
 

Wipfel

Mitglied
Hi Arno,

ehrlich gesagt, den Forentext habe ich noch nie gelesen. Wir wissen doch, welcher Text wohin gehört. Würde da stehen, alle Texte die Arno so schreibt, sind Kurzprosa - ich würde den Kopf schütteln und mich nicht weiter darum kümmern. Wenn Prosa die schlichte Sprache kennzeichnet, kann Kurzprosa keine Reiseliteratur sein. Ich glaube sofort, dass es über Kassel nicht mehr zu berichten gibt. Sätze wie
Die fünf Kilometer lange Wilhelmshöher Allee führt vom Zentrum zum gleichnamigen Schloss, das dort auf einem Rasenhügel thront, seinen Zugang jedoch auf der stadtabgewandten Rückseite hat.
unterhalten in der Rubrik Kurzprosa nicht, sie langweilen. Die Leselupe braucht zwei wichtige Foren-Ergänzungen: Theatertext und Reiseliteratur. Oder nicht?

Grüße von wipfel
 
Liebe Kollegen, eure Einwände nehme ich als ernsthafte Beiträge zur Kenntnis. Sie zeigen mir, wie manche gutwilligen Leser auf den Text reagieren können. Somit haben sie schon ihre Berechtigung.

Sachlich überzeugt mich das Vorgebrachte nicht immer so ganz. Wipfel möchte ich z.B. entgegnen, dass ja gerade die Tatsache, dass der Schlosseingang auf der Rückseite ist, seine spezielle Bedeutung fürs Folgende hat. Dass so viele vor dem Schloss den Ochsentrampelpfad benutzen, führt zu keinerlei Abkürzung ihres Wegs. Das kam mir symptomatisch vor, deshalb steht's im Text. Schade, dass es langweilt.

Vagant, der Tonartwechsel von "mitgehen" zu "klauen" ist bewusstes Spiel mit unterschiedlichen Sprachebenen, ein in der Literatur nicht gerade selten angewandtes Verfahren. Es soll nur die Situation ironisch ausleuchten. Eine zusätzlich belehrende oder verdeutlichende Absicht im Hinblick auf einen Teil der Leserschaft lag mir fern. Beim Schreiben geht es mir zunächst ausschließlich um Stoff und angemessene Form. Der Leser kommt dann ins Spiel, wenn über Ort und Zeitpunkt der Veröffentlichung zu entscheiden ist. Was nun die Definition von Kurzprosa angeht, glaube ich mich an die hier ganz oben nachzulesenden Vorgaben gehalten zu haben.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 



 
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