Licht

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SalLD

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Licht. Das war das Erste, was er in dieser Realität spürte, als er, mit noch geschlossenen
Augen, aus der Traumrealität erwachte, noch mit dem Gefühl, ein Geheimnis entdeckt zu
haben, das hinter den grauen Augen eines Mädchens schlummerte, die ihn in einer fremden
Stadt flüchtig streiften. Benommen torkelte er durch die Straßen, suchte seine Gefährten in
den Neonwäldern und wand sich durch die Blicke der Fußgänger, die ihn bei seinem
nächtlichen Rausch beobachteten. Er sah sie aus den Augenwickeln, ohne sie wirklich zu
beachten. Seine Gedanken hingen in der Luft, ziellos und orientierungslos und dann sah er sie,
unter einer Straßenlaterne stehend. Oranger Schimmer. Braune Haare. Graue Augen.
Das war sie, die Traumrealität, die ihm dieses Gefühl der Sehnsucht injizierte, noch bevor er
die Augen öffnete. Er lag auf dem Boden in einem Schlafsack. Es war warm und gemütlich.
Er fühlte sich geborgen in dieser Wärme und überlegte, ob er die Augen öffnen und diese
Gefühle, die ihn ausfüllten, zerstören sollte. Er wollte zurück in den Traum und dieses
Mädchen fragen, wie sie hieß. Er wollte ihre Hand berühren und sie fragen, woher sie kam
und in dieser Stadt zu finden erhoffte. Aber es war zu spät. Er verließ sie schon. Es war so
schwer, wieder zurück in diese Welt zu kommen, wenn man sie erst einmal verlassen hatte.
Das Einzige, was blieb, war die Erinnerung und das Gefühl von einem anderen Leben.
Er streckte seinen Arm heraus und fühlte Holz. Es war warm und glatt. Er mochte Holzböden.
Sie gaben ihm das Gefühl von Geborgenheit und hatten etwas Heimisches an sich, egal in was
für einer Wohnung er war. Er mochte den Geruch von Holz. Eine Holzwohnung also. In einer
fremden Stadt.
Er hörte das Rascheln einer Decke auf nackter Haut. Er schlief nicht alleine in diesem
Zimmer. Seine Bewohnerin erwachte langsam und zögerlich. Dann war es wieder still. Nur
draußen hörte er gedämpft Autos über Kopfsteinpflasterstraßen fahren. Langsam und träge.
Leise erwachend. Die Menschen machten sich auf den Weg und erledigten ihre kleinen
Besorgungen und gingen gemächlich ihrem Leben nach. Wie er auch. Sein Leben, das er nun
um eine Erfahrung bereicherte, indem er bei diesem Mädchen übernachtete, das ihn
eingeladen hatte. Obwohl er zuerst einen kleinen Gewissenskonflikt auszutragen hatte, sagte
er ihr schließlich zu. Was sollte schon passieren?
Es raschelte wieder und er hörte, wie sie ihre Füße vorsichtig auf den Boden setzte. Ein
mattes und schwaches Geräusch. Ein beruhigendes Geräusch. Erwachendes Leben. Sie war
leise und gab sich Mühe, ihn nicht zu wecken. Und er bewegte sich nicht, um sich nichts
anmerken zu lassen, um sie nicht merken zu lassen, dass er erwachte, um dieses Gefühl des
Beobachters nicht zu zerstören. Und um diese morgendliche Schauspiel auszukosten. Es war
wieder still. Sie saß auf der Bettkante.
Er fragte sich, ob sie auch diesen Nachgeschmack von dem Wein der letzten Nacht im Mund
hatte. Rotwein. Französischer. Seine Zunge war trocken und er überlegte, ob er aufstehen und
etwas Wasser trinken sollte, um dieses unangenehme Gefühl zu vertreiben. Aber die Wärme
war einfach zu verlockend. Gestern Nacht hätte er gerne ihre Wärme gespürt, als sie sich in
ihr Bett legte und er auf den Boden. Er stellte sich vor, wie er in der Dunkelheit neben ihr lag
und ihre fremde, nackte Haut an seiner spürte. Ungewohnt wäre es gewesen und vielleicht
hätten sie auch etwas Angst gehabt. Aber solch eine Intensität des Surrealismus wäre solch ein
Wagnis wert gewesen. Ein kleiner infantiler Schritt in die Wirklichkeit der Träume. Er ahnte
das Bersten seiner Gewohnheiten, wenn er diese Szenerie weiterspielte. Es nahm nie ein gutes
Ende, wenn man noch eine andere Frau hatte, an die man dachte. Aber so etwas war auch nur
Ansichtssache. Jetzt lag er in ihrem Zimmer und vielleicht reichte ihm das schon aus, um dem
Leben etwas von seiner Traumessenz abzuringen.
Er hörte, wie sie ein paar Schritte machte und die Tür des Kachelofens öffnete. Er hörte ihre
nackten, bettwarmen Füße auf dem Boden und das Klappern des Eisens, mit dem sie die kalte
Asche aus dem Ofen herausschob. Er mochte dieses morgendliche Geräusch, das er auch aus
seiner Kindheit kannte. Wenn seine Eltern im Winter den Ofen säuberten, fühlte er sich
geborgen und er freute sich auf die Wärme, wenn er sich nach dem Aufstehen an den Ofen
stellte, sie in sich aufsog, die weißen Straßen draußen sah und das Knirschen des Schnees
hörte, wenn die Autos langsam darüber rollten.
Auch hier bei diesem Mädchen fühlte er sich wohl, während sie den Ofen vorbereitete und
Holzspäne zusammensuchte. Er hörte, wie sie größere Holzstücke beiseite legte, um an die
Kleinen zu kommen. Er hätte sie gerne beim Feuermachen beobachtet, möglicherweise nur
leicht bekleidet. Ihm gefielen diese Gesten, aber er wollte diesen Traum noch nicht
verwischen und beließ es dabei, sie sich vorzustellen.
Als er dies tat, roch er leicht ihr Parfüm, das gestern Nacht noch einem Wind glich und heute
morgen zu einer Sommerbrise verblasst war, die sich mit ihrem dezenten, weiblichen
Schweißgeruch und dem Rauch vermischte, der sich bildete, als sie das Feuer entzündete.
Er hörte wieder die Schritte des Mädchens, das sich durch das Zimmer bewegte. Er stellte sich
vor, wie sie in der Morgensonne tanzte, die durch die großen Fenster schien und das Zimmer
golden strich. Er wünschte sich, ihre nackten, samtenen Beine in der Morgensonne anzubeten.
Er wollte sie sehen und öffnete die Augen. Licht.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo SalLD, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Eine kleine Geschichte, schwankend zwischen Traum und Realität, zwischen Hoffnung und Leere. Hat mir gefallen.


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 
G

Gelöschtes Mitglied 17359

Gast
Hallo SalLD!

Nachdem ich mich mit den merkwürdigen Sprüngen der Absätze (die ich für überflüssig halte) abgefunden hatte, hat mich dein Text mitgenommen in die uns allen bekannte, seltsame Welt zwischen Traum und Realität, wenn wir nicht mehr schlafen, aber noch nicht bereit sind, ganz wach zu werden.
Schön erzählt!

Gruß, Hyazinthe
 



 
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