Licht und Dunkelheit

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Sobald es Nacht wurde auf den Straßen und weit und breit keine Menschenseele zu sehen war und Kinder sich zum Schlafen hinlegten, um sich ins Reich der Träume wiegen zu lassen, fiel vom Sternenmeer herab ein grauer Schleier auf das Land hernieder, und unter markerschütterndem Getrappel und lautem Geschrei krochen aus den dunklen Aborten dieser Welt scharenweise Ratten an die Oberfläche empor; zu Tausenden – ja gar zu Millionen kamen sie herbei, und, von ihrem grenzenlosen Hunger angetrieben, nagten sie an alles, was nicht niet- und nagelfest war: Essensreste, verfaultes Obst, schimmliges Gemüse, alte Zeitschriften, Plastikspielzeug, Geschenkpapier von letzten Weihnachten - nichts war vor ihnen sicher. Weder der grässliche Gestank des Unrats noch das verdorbene Fleisch konnte ihnen auch nur den geringsten Einhalt gebieten, stattdessen vermehrten sie ihren Hunger bis ins Unermessliche. Wie ein Heer blutdürstiger Soldaten auf dem Schlachtfelde fielen sie über ihre Nahrung her, selbst die Überreste der ihren, die ausgedörrt und mit Fliegenlarven übersät irgendwo unter Müllsäcken ruhten, blieben nicht verschont. Denn Ekel war ihnen gänzlich unbekannt, noch kannten sie irgendeine Form der Verbundenheit oder ein Empfinden, das der Ehrfurcht gleichkam. Nichts vermochte in ihren winzigen Herzen eine Regung hervorzubringen; sie schlugen nur für den einen Augenblick, der sie ans Diesseits fesselte, für andere Dinge gab es keinen Platz. Viel zu schwer wog das Verlangen, das sie von morgens bis abends verspürten; es hielt sie fest umklammert, machte sie zu seinem unterwürfigen Sklaven, Marionetten, die ausschließlich von einer Hand geleitet wurden. Was der Mensch tagtäglich wegwarf und verfaulen ließ, aßen sie ohne jeden Vorbehalt - im Abseits der Menschenwelt, ihrem Zuhause: Ein kleines schmutziges Fleckchen Erde, in dem Mutter Natur noch mit grimmiger Willkür über ihre Untertanen gebot. Und genau dort, wo nicht mal der Abgebrühteste unter ihnen sich hineinzutrauen gedachte und tagein, tagaus kein Sonnenstrahl den Boden traf, trat aus dem Dunkeln eine Kreatur hervor; groß und stattlich wie eine Königin inmitten ihrer Gefolgschaft, im allerschönsten Glorienschein, gefolgt von Gesang und himmlischer Musik, so gab sie sich zu erkennen; aber lag ein Schatten auf ihrem Antlitz, der alles Licht rings um sie herum in sich zu verzehren schien; Finsternis und Angst brachte sie über die Welt. Wer immer es auch wagte, sich ihrem Willen zu widersetzen, der durfte das gesamte Ausmaß ihrer Grausamkeit kennen lernen, einen unsäglich tiefen Abgrund, in dem sich Missgestalten tummelten, deren Blick, nach oben gewandt, zu dem weit entfernten Funken hin, der in ihnen stets die Hoffnung auf ein Leben jenseits des Schmerzes aufrecht hielt, nach Frischfleisch schielte, und aus dem es für jeden Unglückseligen, der darin hineinfiel, kein Entrinnen gab.

Vor sehr, sehr langer Zeit hatten ganze Heerscharen solcher Geschöpfe unter dem Befehl jener Kreatur gestanden. Ein einziges Wort von ihr hatte ausgereicht, um Ozeane zu teilen, Berge zum Einsturz zu bringen, das Herz eines jeden zu Stein erstarren zu lassen und ganze Völker auszurotten - selbst das Antlitz der Erde hätte sie nach Belieben verändern können. Ja, über grenzenlose Macht hatte sie einst verfügt, schön und von unerbittlicher Härte war sie gewesen - bis zu jenem Tag, an dem ein anderer ihr den Thronsitz abspenstig machen wollte und sich wagemutig ihr entgegentrat. Krieg, Tod und Zerstörung waren seither über ihr Reich gekommen. Lange hatten sie gewütet, die Stärksten und Tapfersten unter ihrem Gefolge in die Schlacht getrieben, sie niedergemetzelt und deren Blut auf den Feldern vergossen. Und als nach erbittertem Widerstand auch der letzte Schutzwall ihres Reiches zusammengebrochen war, wurde das Ende ihrer Herrschaft eingeleitet. In die Ferne hatte man sie verbannt. Allein. Und ohne Hoffnung auf Rückkehr. In den Lumpen eines Bettlers, ausgemergelt bis auf die Knochen. Von Trauer und Hass regelrecht zerfressen. Fern von den heimatlichen Gefilden, ihrem einzigen Zuhause. Dennoch, ungeachtet der Entbehrungen, die sie in ihrem ewig währenden Exil seit jeher erleiden musste, hatte sie nichts von ihrer majestätischen Anmut eingebüsst. Was auf Beinen ging, wich wimmernd vor ihr zurück, was Flügel hatte, flog geschwind von dannen; klein und hilflos kam man sich in ihrem Angesicht vor. Ihre Augen, mit denen sie eingehend das Feld erforschte, funkelten noch immer wie weißes Gold; unheilschwanger und verschlagen wirkten sie auf jedermann, der zu ihr aufzublicken suchte – aber vermochte sich niemand ihrem Glanz zu entziehen. Wie bloßgestellt fand man sich in ihr wieder; und je länger man darin hineinsah und sich verzaubern ließ, desto mehr wurde einem der Zorn, den die Kreatur mit sich herumschleppte, unmittelbar zuteil. Aber so etwas wie einen Spiegel der Seele, Mitleid, Nachsicht und der Wunsch nach Versöhnung, darauf wartete man vergebens. Denn die Gefühlswelt der Menschen war ihr fremd – wenn nicht gar zuwider.

Nahezu geräuschlos, wie auf leisen Katzenpfoten dahin schreitend, ließ sie dichte Nebelschwaben hinter sich. Leichtfüßig. Fast schwebend. Frei von den Gesetzen der Schwerkraft. Im Gang eines Raubtiers, das auf Beute lauerte. Die dunkle Gasse hatte sie längst verlassen; vor dem hellen Schweif einer alten Straßenlaterne stand sie nun, und als sie das Gesicht darin eintauchte, kam die Schönheit eines Engels ans Licht: Porzellanweiße Haut, kräftige Brauen, pechschwarzes Haar, kirschrote Lippen und ein ebenmäßiges Profil - und doch waren ihre Züge von entsetzlicher Kälte erfüllt. Nichts Menschliches war in ihr zu finden. Sie war mehr tot als lebendig. Eine Hülle von atemberaubender Schönheit. Weiter nichts. Daneben ragten zwei lange Reißzähne aus ihrem wohlgeformten Gebiss hervor; stets ermahnten sie einen, ihrer Person niemals den Rücken zu kehren – und sei es auch nur für einen flüchtigen Moment. Wachsamkeit war vor ihr zu empfehlen, etwas anderes hätte sonst verheerende Folgen mit sich gebracht, im schlimmsten Fall den Tod. Daher die Warnung an all diejenigen, die sich für besonders furchtlos halten: >>Wer immer sich von der Kühnheit verleiten lässt, sich ihr in den Weg zu stellen, sie zum Zweikampf herauszufordern oder auch nur schief anzuglotzen, der spielt mit seinem Leben.<<

Jedoch, die silberne Kette um ihren Hals, die sie im Gedenken an die Zeit ihrer glorreichen Herrschaft immer wie einen kostbaren Schatz bei sich trug, war das einzige, was nicht so recht zu ihrem Erscheinungsbild passen wollte. Und auch deren Anhänger, auf dem trotz aller Beklemmung ein tröstliches Leuchten lag, erschien wie das letzte Körnchen Barmherzigkeit, das noch in ihr wohnte. Ein Kreuz, in dem sich so etwas wie Leben verbarg.
 



 
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