Lichterketten und andere Perversitäten

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Canuma

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Lichterketten und andere Perversitäten

Jetzt da die Uhr sechse schlägt, werd ich dir von meiner nächtlichen Begegnung berichten.
Es begab sich zu einer Zeit in der ich meine Augen schon geschlossen, mein Stoffwechsel schon heruntergefahren und meine Gedanken längst woanders waren.
Als ich auf einmal durch undefinierbaren Lärm meines Schlafes entrissen wurde. Ich klappte meine vom Schlaf verklebten Lider hoch und starrte auf eine graue Gestalt, die sich in meinem Raum befand.
Panik wollte sich in mir ausbreiten, doch ich erkannte schnell. Es war der dicke Mann in rot.
Nun bemerkte auch er, dass ich nicht mehr schlief. Geschlagene 30 Minuten starrten wir uns ohne Worte, ohne ein Hauch von Bewegung vermuten zu lassen an. Wir packten beide unser Gehirn auf die Seite und betrachteten uns. Ich sah die Erleichterung in seinem Blick, denn er wusste genau, dass er von mir keine Listen oder Geschenkwünsche entgegen nehmen musste. Irgendwann rang ich mich durch und brach unser Schweigen mit der Frage: „Moin, is es nich nen bisschn früh?“ seine Antwort gefiel mir. „Wieso? Ihr fangt doch schon im September mit den Vorbereitungen an.“ Ein leichtes Lächeln zog sich durch sein kränklich aussehendes, graues Gesicht. Es verschwand jedoch schnell wieder in einer leeren Miene. Ich bot ihm einen Platz in dem Chaos meines Zimmers an, kochte Tee und gab ihm eine meiner verbliebenen Kippen.
Wir schwiegen abermals. Nun konnte ich ihn mir aus nächster Nähe betrachten. Er entsprach ganz und gar nicht dem Bild, das wir alle kennen, ganz im Gegenteil. Seine Haare waren nicht weiß und buschig, sondern grau, dünn und strähnig. Das was man uns als bauschigen Bart verkaufen wollte glich einem von Motten zerfressenen Mantel. Sein Gesicht war fahl und grau mit gelb gesprenkelten Pigmenten verziert. Die Wangen eingefallen und die Augen trüb und von einer Leere erfüllt, dass selbst mir kalte Schauer über den Rücken liefen. Seine Finger sahen aus wie Zweige im Winter, lang und knochig. Nix mit roten vollen Wangen, nix mit dicker Knollnase. Nicht mal den Ansatz dafür.
Seine Schuhe glänzten nicht im stolzen Schwarz, Schlamm aus vergangenen Festen hatte sich ins Leder gefressen. Sein roter Anzug war eine einzige Knitterfalte und schon lange nicht mehr gewaschen worden. Er roch nach altem Sofa, wie jene die an Sperrmülltagen zu genüge an den Straßenrändern stehen und auf ihren Abtransport warten.
Er zog kräftig an seiner Zigarette, dass ich befürchtete mit jeder Sekunde hat er das Ding im Magen. Doch endlich setzte er ab und inhalierte den Rauch tief ein, um ihn dann mit starkem Druck auszublasen. Er atmete noch einmal tief ein und aus und begann unser Gespräch in Gang zu setzen. Es war kein sehr langes Gespräch, es dauerte nur 2 Zigaretten lang. Er erzählte mir von früher, als der Geist der Weihnacht am heiligen Abend in den Häusern der Menschen noch willkommen war. Von den Kindern die ihn mit großen funkelnden Augen ansahen und vor lauter Ehrfurcht kein einziges Wort heraus brachten. Von den Eltern und Großeltern die ihre Räume stilvoll schmückten und den besinnlichen Ursprung fest im Kopf verankert hatten. All denen die sich nach warmen Beisammen sehnten.
In diesen Silben blühte er auf und entsprach genau meinen Vorstellungen. Doch dann kam der Bruch und er wurde wieder zu dem Häufchen Elend das unerwartet in meinem Zimmer stand.
„Zu gierig!“ „Wie?“ fragte ich. „Ihr Menschen seid zu gierig!“ Ich stimmte ihm ohne Widerspruch zu. „Jeder glaubt mit bunten blinkenden Lichtern, räuchernden Figuren und Tannengestecken die Atmosphäre in einen unverwechselbaren Glanz zu bringen. Der reinste Wettkampf den ihr da veranstaltet. Nur der reinste Wettkampf!“
„Hmm.“ dachte ich laut. Diese Zeilen kamen mir bekannt vor, aber das ist eine andere Geschichte. Seine Stimme war monoton es floss alles nur so über seine rissigen Lippen, ohne jegliche Form der Betonung. Aus seinen Worten erkannte ich, dass dieser Mann von uns zu einer jämmerlichen Gestalt gemacht worden war. Jene Tage an denen man mit Hummeln im Hintern durch die Wohnung rannte waren vorbei. Ich starrte in meinen Tee und umklammerte die Tasse als ob mein leben davon abhinge. Es hatte sich ein öliger Film über mein Getränk abgebildet. Früher betrachtete ich Fützen mit solch einem Film, das Farbspektrum das mir geboten wurde war einfach zu faszinierend. Heute weiß ich dass diese Dinge schädlich sind. Manche Geheimnisse sollten verborgen bleiben. Das Knartschen meines Bodens riss mich aus meiner Trance. Der dicke Mann in rot, der gar nicht dick war, hatte sich von seinem Platz erhoben. Alles war wie am Anfang unserer Begegnung, nur dass er mir jetzt seinen Rücken zuwandte. Unverhofft stellte er mir die Frage: „Nun, sage mir was du an diesem Abend haben willst!?“ Ich war ein klein wenig beleidigt, da ich fest der Überzeugung gewesen war, ihm in keiner meiner Worte das Gefühl vermittelt zu haben, dass ich irgendetwas in Anspruch nehmen will.
Ich sammelte meine Gedanken und brachte dann meine Antwort heraus: „Nur die Gewissheit, dass deine Qual ein Ende finden wird!“ Er drehte sich mit dem Gesicht zu mir und lächelte. Und nun verstand auch ich seine Geschichte.
Sechs Minuten vergingen als er sich wieder umdrehte und wortlos durch mein Fenster verschwand.

Für manche Menschen dauert der Tod das ganze Leben und endet sobald er eintritt!
 



 
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