Liebe auf Zeit

ChrisCBS

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Liebe auf Zeit


Die Sonne strahlt durch die Jalousien in das Schlafzimmer. Er liegt neben mir im Bett und atmet ruhig.
Ich liebe diese stillen Momente am Morgen danach.
Gestern Nacht sind wir noch auf einer wilden Reise gewesen. Wir standen an den Klippen, sturmumtost, dort, wo es zur endgültigen Entscheidung kam. Unsere Welt war reduziert auf diesen Augenblick, diese Situation. Ich erschauere noch bei dem Gedanken daran, wie er mich mit beiden Händen festhielt und zu mir herabblickte. Eine Träne stahl sich in einem unbemerkten Moment aus seinem Auge, rann ihm über die Wange und fiel auf mich. Ich fing sie auf und schloss sie ein in mir.

Jetzt ist alles vorbei. Ich weiß, dass es nun aus ist. Es ist keine Überraschung, er hat niemals etwas anderes gesagt. Mir keine falschen Versprechungen gemacht. Selbst als er mir sanft über den Rücken streichelte, was ich so sehr mag, wusste ich, dass es eine Liebe auf Zeit ist, nicht mehr.
Ich habe gelernt, dankbar zu sein für schöne Zeiten, auch wenn sie niemals von Dauer sind. Dankbar bin ich auch dafür, immer wieder neue Menschen kennen zu lernen, zu sehen, wie sie wohnen, was sie essen und was ihnen Freude bereitet. Ich bin immer stolz, wenn ich ein wenig dazu beitragen kann - zur Freude, zur Unterhaltung, zum persönlichen Lebensglück. Das ist meine Bestimmung, und ich kann leben damit. Eigentlich sogar ganz gut.

Man lernt Menschen kennen, die man sonst niemals getroffen hätte. Zuerst hatte ich noch sehr elitäre Vorstellungen. Ich dachte, ich sei etwas ganz Besonderes, Begehrenswertes und würde zu einem Hochschulprofessor passen, zu einem berühmten Architekten oder dem angesehensten Schönheitschirurgen. Als schmückendes Beiwerk, selbstverständlich, als mehr nicht, aber immerhin.
Doch so kam es nicht - ganz andere Menschen interessierten sich für mich. Und je mehr Enttäuschungen ich erlebte, desto mehr fand ich zu mir. Desto mehr war ich mir meines Wertes, meiner Einzigartigkeit bewusst. Wie konnte ich so unfassbar verirrt sein, mich über den angeblichen Status eines anderen zu definieren? War ich nur wer, wenn ich mit jemandem zusammen gesehen wurde, von dem man annahm, dass er ein Jemand war?
Ich habe gelernt, dass genau diese Menschen sich in der Regel nicht für mich interessieren. Dabei habe ich doch so viel zu sagen! Schmerzlich habe ich erfahren müssen, dass genau das das Problem ist. Diese Menschen glauben, selbst genügend zu sagen zu haben. Sie sind sich selbst einzigartig und begehrenswert genug, sie genügen sich und damit genügten sie mir irgendwann nicht mehr.
Welch ein Befreiung war diese Erkenntnis!

Endlich konnte ich mich den Menschen zuwenden, die meiner bedurften, weil sie sich selbst nicht zum Maß aller Dinge machten. Sie hörten auf mich und ich konnte meine Aufgabe erfüllen.
Meine Aufgabe nämlich, schöne Momente zu schaffen.
Es ist wunderbar, mit einem Menschen allein zu sein. Zu wissen, dass er sich jetzt Zeit nimmt für mich, mir zuhört und den Rest der Welt vergisst.
Wenn alles so läuft, wie ich es mir wünsche, machen wir eine Reise in eine andere Welt. Wir berauschen uns an fremden Farben, Gerüchen, Eindrücken, die ich heimlich hinein bringe und erst offenbare, wenn er sich auf mich einlässt.
Ich gebe es zu, ich versuche immer, ihn zu verführen. Ich beherrsche zuerst die Macht des Wortes in Perfektion, umgarne seinen Geist, löse ihn vorsichtig, unmerklich aber unnachgiebig aus seiner Welt heraus und ziehe ihn in meine. Dann eröffne ich ihm diese Welt, an der er sich berauschen kann, in der er alles vergisst. Seine Wahrnehmung ist dann gestört, er bekommt nicht mehr mit, was um ihn herum passiert, doch er wehrt sich meist auch nicht dagegen.

Mein schlechtes Gewissen habe ich schon lange besiegt. Gewiss, manche Menschen waren sehr jung, als sie in meine Abhängigkeit gerieten. Ich trug die Schuld daran, dass sie nicht genug für ihren Abschluss taten oder ihre Freunde vernachlässigten, was halt passiert in solchen Situationen.
Sogar eine Ehe habe ich angeblich auf dem Gewissen, doch glaube ich heute fest daran, dass ich nur der letzte Stein einer großen Lawine war, die über diese armen Menschen hinwegfegte und dass sich auch ohne meine Anwesenheit die Ereignisse nicht anders zugetragen hätten. Die meisten Menschen, die es mit mir versuchen, wissen auch von meinen Machenschaften. Zumindest ahnen sie etwas davon und lassen sich trotzdem billigend darauf ein.Doch, mein schlechtes Gewissen habe ich wirklich besiegt, denn es ist zu einfach, mir die Schuld zu geben. Ich bin, wie ich bin, ich biete mich an und mache ebenfalls keine falschen Versprechungen. Wer mich will, will dies aus freien Stücken. Und wenn jemand mich will, entführe und berausche ich ihn, solange er es für richtig hält. Außerdem ist es niemals ein Weg ohne Wiederkehr.
Zurück bringt einen oft doch ganz Profanes - ein Klingeln, ein Geruch oder eine plötzliche Berührung aus der anderen Welt.

Mit einem anderen Komplex habe ich aber noch immer zu kämpfen: Viele finden, ich sei zu dick. Sie sehen mich dann an, weil ich sie fasziniere, aber dann schrecken sie doch vor mir zurück. Ich frage mich immer, warum das allein ausschlaggebend sein soll. Auch hier musste ich erst lernen, dass viele Menschen furchtbar oberflächlich sind und sich eben auch an Oberflächlichkeiten orientieren. Erst die, die hinter die Fassade schauen, erkennen irgendwann - manche zum Glück sehr schnell - was sie an mir haben.
Wenn diese Menschen es dann mit mir versuchen, habe ich schon oft erlebt, dass das, was sie zuerst verschreckte, immer mehr in den Hintergrund rückt. Es ist nicht mehr wichtig, andere Dinge zählen, wirklich wichtige Dinge.

Neben mir regt sich jetzt etwas. Er stöhnt im Schlaf, dreht sich noch einmal um und zieht die Decke über den Kopf.
Meist machen wir es im Bett. Warum eigentlich? Was fasziniert die meisten Menschen daran? Natürlich haben mich manche auch mit ins Wohnzimmer oder in die Küche genommen. Auch die Badewanne ist noch recht beliebt. Ich finde nicht, dass es auf den Ort sonderlich ankommt, wenn man sich doch eh sehr bald auf andere Dinge konzentrieren wird. Doch vielen meiner Partner ist es scheinbar wichtig und sie entscheiden sich dann für das Bett. Manchmal ist es sehr kurz, manchmal machen wir fast die ganze Nacht durch. Danach schlafen sie meist sehr schnell ein und lassen mich allein mit meinen Gedanken.
Die späten Abend- und die frühen Morgenstunden, das ist die Zeit meiner Gedanken. Hier bin ich für mich, denke über die Welt nach und versuche, sie mir so zu erklären, dass ich mit meinem Platz darin zufrieden bin. Meist klappt das schon ganz gut.

Nun wacht er langsam auf, dreht sich hin zu mir, öffnet dann mühsam die Augen. Als er mich sieht, lächelt er, aber es ist so viel Wehmut in seinen Augen. Ich kenne diesen Blick, der vom Wissen über das nahe Ende zeugt, gegen das ich mich auch dieses Mal nicht wehre. Zu sehr schmerzte es früher, als dass ich dies jetzt noch an mich heranlasse.
Manchmal wünsche ich mir, für immer bei jemandem zu bleiben.
Als ich noch unberührt war, begehrenswert, da hatte ich diese Träume oft. Doch ich bin nun schon durch viele Hände gegangen, das macht mich in den Augen der meisten unattraktiv.
Ganz aber habe ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben, irgendwann den Seelenpartner zu finden, der mich bei sich aufnimmt, mir einen dauerhaften Platz in seiner Wohnung, seinem Leben und seinem Herzen schenkt.
Vielleicht kommt auch irgendwann einmal jemand zu mir zurück. Jemand, der eventuell erst nach langem Ausprobieren zu erkennen vermochte, was er an mir hatte. Der mich nimmt, wie ich bin, mit all meinen Stärken und Schwächen und meinem Vagabundenleben ein Ende macht. Ich habe gehört, dass man sowieso über kurz oder lang aussortiert wird - was passiert dann? Ist das der Moment, an dem ein neues Leben beginnt? Vielleicht mit ihm hier?
Er ist wirklich nett - gefühlvoll, ordentlich, gebildet und bescheiden.

Ich bin wieder allein, er ist aufgestanden und in die Küche gegangen, von der dieser verführerische Kaffeeduft nun bis zu mir hinüber weht. Noch einmal dieser Duft!
Ich merke, dass ich melodramatisch werde und ziehe mich schnell wieder in meine Welt zurück. Ich weiß, dass ich an diesem Ort und diesem Menschen nicht hängen darf. Wie sonst soll ich den Nächsten kennen lernen, neue Eindrücke gewinnen, einen weiteren Schritt gehen auf meinem langen Weg, die Welt zu erkunden?
Bei allem Abschiedsschmerz, ich könnte wohl doch niemals für immer an einem Ort verbleiben. So sehr ich auch manchmal glaube, die Sehnsucht danach zu verspüren, so freue ich mich doch viel zu sehr auf das nächste Abenteuer. Trotzdem ist das, was jetzt kommt, nicht schön.

Wir sind in die Stadt gegangen. Ich kenne den Weg, ich weiß wohin er führt, und viel zu schnell sind wir da.
Der Abschied ist kurz und furchtbar nüchtern.
Ich werde von groben Händen gepackt, gescannt, in einen großen Metallbehälter geworfen und wenig später dorthin zurückgebracht, wo ich hergekommen bin: Man stellt mich zurück zwischen all die anderen Bücher.
 



 
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