Liebe auf den ersten Blick

Liebe auf den ersten Blick, von Lukas Holliger
Was ich jetzt erzähle, ist eine wilde Liebesgeschichte. Und richtig, lieber Leser, "wild" bedeutet, es gab abenteuerliche Widerstände zu überwinden. Die Geliebte musste nicht nur erobert werden, sondern die Eroberung musste heimlich erfolgen! Aber wie erobert man im Stillen, wenn das Herz schlägt wie ein betrunkener Paukist im Finale? Wie, zum Teufel, erobert man auf samtenen Tatzen eine Frau, die einem mit jedem Blick das Herz aufkratzt? Ich gebe zu, ich bin an dieser Aufgabe gescheitert, aber er-zählen wir die Ereignisse in der richtigen Reihenfolge! Es ist jetzt fünf Monate her, seit dieser seltsamen Geburtstagsfeier, an der das Geburtstagskind nie auftauchte, weil es abtauchte. In den kalten Fluten des Rheins. Der Selbstmord hätte mich bestimmt länger beschäftigt, hätte ich mich an diesem Abend nicht selbstmörderisch verliebt. Der erste Eindruck, den ich von ihr gewann, war ihre Hand. Ein schlechtgelaunter Gast guckt nicht jedem, dem er zur Begrüssung die Pfote schüttelt, in die Augen. Als ich aber diese weiche Hand drückte, musste ich aufschauen und hatte mit einem Schlag eine Erektion. Vorsicht, lieber Leser! An dieser Stelle ist auf einen feinen Unterschied im männlichen Geschlechtstrieb hinzuweisen. Zweierlei Arten von Erektionen gibt es. Die erste, das ist der gierige Ständer, der nur eines will: eindringen, ob in einen Mund, oder einen feuchten Schoss. Die zweite Erektion aber, das ist der Löwe, der Männchen macht und sich selbst nicht wiedererkennt. Er findet sich in einer Ma-nege der Zuneigung und eine Zuschauermenge aus schwitzenden Gefühlen spendet ihm Applaus. Ein klarer Fall: es handelt sich um die Erektion, die Symptom einer Berufung ist. Der Berufung Geliebter sein zu müssen, oder sich sofort das Leben zu nehmen. Jaja, lieber Leser, das mag pathetisch klingen. An diesem Abend aber war jeder Bissen Pouletfleisch, jeder Schluck Champagner, jedes Brillenrichten und Zigarettenanzünden ein pathetischer Akt. Meine Dompteuse hingegen sass nur da, bleich wie Porzellan, und schwieg. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie mir zum ersten mal und zufällig in die Augen sah. Eine katastrophale Ewigkeit hatte sie nur auf ihren Teller ge-schaut und ab und zu nach dem Gastgeber geschielt, der hartnäckig dabei war gute Laune zu verbreiten. Ihr schlan-ker Finger lag unbeweglich auf dem Rand des Weinglases, ihr Blick ins Unendliche gerichtet. Auch war der Tisch zu gross, als dass ich mich getraut hätte, ihr etwas zuzurufen. Also blieb ich in belanglose Gespräche verstrickt und warf vergebliche Blicke. Gerade als ich beschloss, mich zu betrinken - es war 54 Minuten nach Mitternacht - hob sie den Kopf und zielten ihre Augen direkt in meine. Wenn man erschossen wird, fühlt man sich wahrscheinlich besser. Ich möchte sagen, ihr Blick war vernichtend, trotzdem blieb er minutenlang auf mir liegen. Ich war überzeugt, dass ich von diesem Tisch nur noch mit grauen Haaren aufstehen würde. Seekrank von mehreren Gläsern Champagner, suchte ich den Rest des Abends in ihren Augen eine Wiedergutmachung für den Basiliskenblick. Aber eine 54. Minute wiederholte sich nicht. Während ich mich später auf dem Klo erbrach, muss sie gegangen sein. Und als ich gegen drei Uhr morgens als letzter die Treppe hinunterschwankte, suchte ich auf einer der Stufen vergeblich ihren Schuh. Eines stand fest: jetzt nach Hause zu gehen und sich einer einsamen Wohnung auszuliefern, das wäre gefährlich gewesen. Also beschloss ich, meinen Bruder aufzusuchen. Den einzigen Menschen, der um diese Zeit mit Sicherheit wach war und der mir, während er zeichnete, geduldig zuhören würde. Als ich die dunkle Allee hinuntereilte, formten sich in meinem Kopf die Sätze, mit denen ich von diesem unvergesslichen Mädchen erzählen würde. Es waren unerwartet treffende Sätze. In meiner fibrigen Sehnsucht gelangen sie mir so gut, dass ich mit jedem Wort und Schritt überzeugter war, diese Nacht beherbergte mein Schicksal. Das Atelier meines Bruders lag an der Grenze zum Industriequartier, an einem Seitenkanal des Hafens. Das Rheinwasser trieb ruhig und ölig um die vertäuten Schlepper und gurgelte in unberechenbaren Intervallen. Ich blieb stehen und nahm diese einsamen Geräusche persönlich wie eine Flüsterstimme. Kein Zweifel, diese Nacht gehörte mir. Damit er bei meinen zahlreichen nächtlichen Besuchen nicht jedesmal die drei Stockwerke hinunter und wieder hinaufsteigen musste, hatte mir mein Bruder einen Schlüssel überlassen. Beim Treppensteigen fiel mir ein, dass ich mindestens zwei Wochen nicht mehr hier gewesen war und freute mich auf die kaffeegeschwängerte Atelierluft. Unter der Tür lag der vertraute Lichtbalken, mein Bruder war am Arbeiten. Gerade wollte ich die Falle herunterdrücken, als ich hinter der Tür lautes Gekicher und Gepolter hörte. Frauenbesuch. Wäre ich nicht betrunken gewesen, hätte ich mich davongemacht. Jetzt beschlich mich aber Neugierde und die Lust auf einen überraschenden Auftritt. Also stiess ich die Türe auf und rief "Hab ich Dich!". An die Reaktion meines Bruders kann ich mich nicht mehr erinnern. Ihren Anblick jedoch werde ich nie vergessen. Splitternackt stand sie neben einem umgestossenen Hocker, hielt mit beiden Händen eine angeschnittene Wassermelone über den Kopf und spuckte mir laut lachend einige Kerne entgegen. Ihr schöner Körper war mit blauroten Schlangen bepinselt, deren züngelnde Köpfe sich um ihren Nabel drängten. Durch die Haut ihrer bleichen Brüste schimmerte ein blaues Adernnetz. Ihre überschminkten Lippen sahen aus wie zwei aufgeplatzte Kirschen. Sie war mindestens dreifaltig! Die schwarz ummalten Augen machten sie dämonisch, das hochgesteckte Haar prinzessinenhaft, die mit roten Tupfern versehenen Wangen zum verspielten Pierrot. Betäubt schlug ich die Tür zu und rannte die Treppe hinunter, wissend, dass ich mich gerade dadurch der Lächerlichkeit preisgab. Mein Bruder hatte mich denn auch rasch eingeholt und zu einem Kaffee eingeladen. Ich nahm die Einladung an. Mein lieber Leser, darauf bin ich stolz: die 27 Stufen in der Umarmung meines Bruders zurück zur Tür zu steigen, genügte mir, um mich nicht nur wieder zu fassen, sondern gleichzeitig gute Laune zu bekommen. So betrat ich also angriffslustig und sogar mit meinem Schirm herumblödelnd die Mansarde. Jetzt traute ich mir zu, das nackte Mädchen für mich zu gewinnen. Dass sie sich auf den Schoss meines Bruders setzte, mit ihrem Kirschenmund sein Ohr verfärbte und ihm gegenüber weder schweigsam war, noch Basiliskenblicke warf, machte mir nichts aus. Ich fand auf jeden Spass und alle spöttischen Fragen eine schlagfertige Antwort und trug wesentlich dazu bei, dass die Stimmung weiter stieg. Einmal streckte sie lüstern ihr Bein aus und griff ich blitzschnell nach ihrem Fuss. Behutsam küsste ich jede einzelne Zehe! Mein Bruder protestierte nur im Spass und ahnte nicht, dass ich zu diesem Zeitpunkt längst verheissungsvolle Blicke mit seiner Prinzessin tauschte. Schliesslich, die Nacht hellte bereits auf, die Pausen zwischen unseren dämlichen Kommentaren und dem übermüdeten Gelächter waren länger geworden, begannen wir uns mit der angestrengten Sachlichkeit, die einer durchgefeierten Nacht eigen ist, um Schlafplätze zu kümmern. Mein Bruder bot der nackten Dreifaltigkeit sein Bett an und verschwand geräuschvoll im Zwischenstock, um nach einem Schlafsack zu suchen. Zeit, endlich von der Kirsche zu kosten, dachte ich und betrat das enge Badezimmer, wo das Mädchen be-gonnen hatte, sich die Schlangen abzuwaschen. Als ich über die Schwelle trat, fiel mein Blick auf zwei dunkle Falten an ihrem Hals. Sie stand mit dem Rücken zur Tür und hatte verkrampft den Kopf nach mir umgedreht. Sofort erkannte ich in ihrem abgeschminkten Gesicht wieder den Basilisken. In dieser Nacht tat ich kein Auge zu. Es war offensichtlich, dass der Basilisk nur in der Anwesenheit meines Bruders seinen vernichtenden Blick ablegte. Sobald wir alleine waren, sah ich mich einer Verachtung ausgesetzt, die ohne Alkohol nur schwer zu ertragen gewesen wäre. Mein Bruder lag mit dem Gesicht unter dem schmalen Oberlicht und schnarchte. Ich versuchte meinen Atem mit dem seinen zu synchronisieren. Unmöglich! Den Atem ei-nes Schlafenden zeichnet eine unerreichbare Langsamkeit aus. Stattdessen blitzten vor meinen Augen ihre weissen Zähne, spreizten sich die nackten, auf dem Sofa herumturnenden Beine mit diesen weichen Waden, die ich ab und zu auf meine ausgehungerten Handflächen bekommen hatte. Deutlich sah ich ihre langen Arme, wie sie sich um den Hals meines Bruders schlangen, ihre Schlitzaugen, aus denen die Lachtränen liefen und schwarze Bahnen über jene Clownswangen zeichneten, die der Schnarcher mindestens einmal pro Minute ausgiebig geküsst oder geleckt hatte. Ich sah mit fotografischer Genauigkeit ihre süss frisierte Scham, ihre Zunge, die sie uns bei jeder ironischen Beleidigung herausgestreckt hatte, ihre schlanken Finger, die eine Orange nach der anderen geschält und uns die saftigen Schnitze zwischen die Lippen gesteckt hatten. Ich hörte ihr Lachen und ihr verführerisches Summen und während alle diese Eindrücke meine Sinne betörten, war mir klar, dass ich gleich aufstehen und zu ihr hinüberschleichen würde. Mein Bruder schnarchte leiser und lallte ab und zu einen zärtlichen aber unverständlichen Satz. Mein Körper warf einen Schatten über seinen Kopf, dann machte ich mich auf den Weg. In ihrem Zimmer brannte zu meiner Überraschung noch Licht. Als ich den Kopf hineinstreckte, zuckte sie zusammen und sah mich unbewegt an. Lieber Leser, bereits lag die Morgendämmerung wie eine Seuche über dem Stadthimmel. Ich musste dringend handeln. Die Prinzessin sollte mir gehören. Ich liebte sie ja. Ich musste ihr beweisen, dass das Schicksal niemanden vergeblich zusammenführte. Meine Zuneigung übertraf alles, was Menschen bisher empfunden hatten. Das musste sich endlich auf sie übertragen. Nur einmal von mir ge-küsst und sie würde es verstehen, sie würde es in ihrem ganzen schönen Körper fühlen. Bevor die ersten Sonnenstrahlen die Türme des Münsters erreichten, würde der Basiliskenblick gebrochen sein und müsste mein Bruder zurücktreten. Ich gebe zu: als ich mich vor ihrem Bett niederkniete und nach ihrer weichen Hand griff, überzog mich noch einmal eine Gänsehaut. Sie riss auch sofort ihre Hand weg und befahl mir zu verschwinden. Aber warum verschwinden, wenn man mich ohnehin nach 27 Stufen mit einer Umarmung zurückholte? Da packte ich doch besser gleich zu und, Herrgott, wie man bei so einer Prinzessin zupacken konnte! Meine Angriffslust war auf dem Höhepunkt. Ich gehorchte den Befehlen der Liebe. Die Prinzessin würde es verstehen. Zwar zerkratzte sie mir das ganze Gesicht, doch als mich mein älterer Bruder - übrigens in einen inakzeptablen Schwitzkasten gepresst - aus dem Zimmer beförderte, bedeckte ihren bleichen Körper bereits eine bezaubernde Mischung aus meinem und ihrem Blut. Dieses Bild ist es, das den Mithäftlingen besonders gefällt. Ich aber weigere mich, diese symbolische Vereinigung befriedigend zu finden, denn ich glaube an die Liebe. An die Liebe auf den ersten Blick.

(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
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