Liebe xy

Breimann

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Liebe xy,

zunächst war ich nur mäßig interessiert; das war, bevor ich Dein Gesicht gesehen habe –dieses lachende Gesicht aus der so ungewöhnlichen Perspektive.
Das Fernsehen warf dein Gesicht in jedes Wohnzimmer. Zwischen Brot und Bier musste man die Schluckbewegungen einstellen, sich die niedrigen Temperaturen nennen lassen, Sinn, Widersinn und Resultate deiner Aktion aus dem Off anhören.
Aus meiner Teilnahmslosigkeit, die sich aus den unzähligen Wiederholungen ähnlicher Szenen erklären lässt, wurde schlagartig hohes Interesse. Ich war überrascht von der Heftigkeit meiner Emotionen; ja der Plural ist hier wohl angebracht – es waren etliche Empfindungen, die mich, zunächst chaotisch und unscharf, trafen.
Ich hatte Mühe, den Grund für diesen Eindruck zu erkennen; es war ja auch nicht nur ein Grund. Glaube aber nicht vorschnell, dass es sofort das Ziel war, der Anlass für deinen Auftritt, der mich so bewegte. Nein, eher das für dich Nebensächliche, das Beiwerk deines Handelns, das stand zunächst im Vordergrund.
Du, als Teil, eines Viertels, einer sternförmig angeordneten Figur aus Menschenkörpern, festgemauert in der Erden, wie die Form in Schillers Glocke. Und wie bei Schiller sollte aus dieser Form wohl ein Klangkörper werden, der seinen Ruf in die Welt schickt.
Als Alarm? Als Wecksignal? Als immerwährendes Echo? Zur Unterhaltung? – Oder doch nur als verlorenen Ruf?
Die grünen Anzüge der Männer, die sich über dich beugten, die Kameras, die dein Lachen einfingen, die grellen Strahler, die weißlich die Szene ausleuchteten, das kleine Gebläse für die Warmluft, die Presslufthämmer, die schweren Räumgeräte, - all das machte als Beiwerk das Bild komplett.
Und nur du warst – zwangsläufig wohl – der ruhende Punkt, auf den sich alle konzentrierten. Dann sah ich deine Augen, – junge Augen – die mich wach machten. Du bist, wenn ich es richtig behalten habe, gerade einmal sechzehn Jahre alt. Stimmt´s?
Als ich so alt war wie du, und daran musste ich sofort denken, schrieben wir das Jahr 1956. Wir litten noch unter den Folgen des großen Krieges und hatten zu kämpfen; das heißt, wir kämpften primär für uns und unser Wohlergehen. Ich sage wir, weil es wohl das allgemeine Tun und Empfinden meiner Generation war, was ich hier in den Vergleich einbeziehe.
Also, für uns standen Ausbildung, ausreichende Arbeiten, Geld verdienen, das erste Moped, die Auseinandersetzung mit den Altnazis, der Zweifel an den neuen Wegen, die Angst vor der Zukunft, wichtige Freundschaften und die erste Liebe im Vordergrund.
Sieh das nicht als die Aufzählung durch einen, der Dank der Geburt in früher Stunde, alles besser weiß! Nein, es war nur anders; wir hatten soviel mit uns zu tun und uns fehlten die Perspektiven, die Ideale - und auch wohl die Zeit.
Warum hat es so viele Jahre gebraucht, bis mir der Unterschied zwischen unserer und dieser Generation so brutal bewusst wurde? Der Unterschied zwischen dem Handeln pro domo und dem für ein globales Ziel, der ist es, der mir an dem Abend auffiel, als ich die Bilder sah.
Dann dachte ich, ich möchte neben dir sitzen – ohne Kameras und Zuhörer. Ich hätte dich gerne gefragt, in einem ungestörten Plaudern abgefragt. Ich hätte sicher keine Zweifel in dir wecken wollen. – Mit welcher Berechtigung?
Aber als mir klar wurde, dass du nicht in das Muster passtest, das man mir gemacht hat, als man mir die vermummten, bedrohlich aussehenden, Knüppel und Steine schwingenden Menschen als Protagonisten eines Widersandes zeigte, da wollte ich dich kennen lernen.
Es ging natürlich nicht; und so frage ich dich mit diesem Brief. Ich weiß nicht, ob du inzwischen deine Sicht, deine Motive und dein Handeln überdacht hast. Vielleicht hättest du unter dem Eindruck der monströsen Abläufe ganz anders geantwortet, als du es jetzt tun wirst. Jetzt wo du die Folgen kennst und Gespräche dich vielleicht verändert haben.
Ich wollte dich fragen, ob du Angst hast: ob du geweint hast; ob du dir gewünscht hast, es ungeschehen zu machen; ob du dann doch stolz warst; ob du in den langen Stunden über alle Folgen nachgedacht hast; ob du geträumt hast von denen, die dich mögen und von denen, die dich verachten.
Ihr wart zu viert, aber du warst doch ziemlich alleine. Es lag wohl daran, dass die Kameras immer dich rauspickten; weil sie dich zum Muster, zum Teil des Ganzen machten.
Und dann habe ich endlich über dein Ziel nachgedacht. Komisch! Das, wofür du deine Gesundheit, deine Zukunft, dein Vermögen in dieser Aktion eingesetzt hast, das wurde bei mir erst spät Gegenstand des Nachdenkens. Woran lag das? Kannst du das erklären?
Meine eigene Schlussfolgerung kann falsch sein. Ihr – und hauptsächlich wieder du – wart der Mittelpunkt, eure Tat wurde vom Weg zum Ziel. Da fehlte die Brücke zur ursprünglichen Absicht; alles verschwand in einem Nebel aus Erfolgsmeldungen über angekommene und weggepackte Castoren. Das, was ihr verhindern wolltet – oder wolltet ihr es gar nicht? – war geschehen und Geschichte.
In meinem Kopf bist du geblieben, - aus verschiedenen Gründen. Nicht der Zug, der fast unsichtbar geblieben ist, nicht der dicke Betonbrocken, nicht das Geratter der Presslufthämmer; auch nicht die unzähligen Menschen, die wie bei einer Theateraufführung die Leistung der Schauspieler bewerteten.
Vielleicht war es deine Aussage, dass du weitermachen willst, die mich unruhig machte. Ich hab mir deine Gedanken vorgestellt, mit denen du dein Leben und damit deine Zukunft planst. Und da sind wir wieder beim Vergleich!
Wir hatten auch Ziele; ja, es ist wohl wahr, sie waren selbstsüchtig. Aber waren sie unvernünftig? Und du? Bleibt dir noch Hoffnung? Bleibt dir noch ein persönliches Ziel, ein Wünschen, wie bei einem unruhigen Kind, das auf die Geschenke zum Geburtstag wartet? Mit sechzehn hat man noch Träume? Stimmt das? Persönliche Träume?
Lass dich nicht missbrauchen! Lass dir nicht deinen Freiraum wegnehmen! Bleib dir bewusst, dass du ein Recht hast – auf ein selbstbestimmtes Leben. Sie vergessen so schnell! Morgen bist du Geschichte, vergessene Geschichte. Und du lebst doch noch!
Mit vielen nachdenklichen Grüßen
Eduard Breimann
 



 
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