Liebesbriefe - Anfang einer Geschichte

3,70 Stern(e) 3 Bewertungen

Anonym

Gast
Meine Liebe,
erschrick nicht.
Ich habe nicht die leiseste Ahnung, ob du mich je gesehen hast, aber das ist auch nicht wichtig. Ich habe dich erblickt und ich habe mich verliebt. In deine roten Haare, die kupfern in der Sonne glänzen. Die Sommersprossen, die sich zart über dein Gesicht und deine Oberarme ziehen. Ich weiß sogar, dass deine Haut im Sommer immer leicht gerötet ist wegen der vielen Sonne. Sie ist so hell und empfindlich. Ich kenne den Duft deiner Sonnencreme. Du benutzt jedes Mal die herkömmliche aus der Drogerie, und jedes Mal wieder beklagst du dich darüber, dass sie so klebrig ist. Du denkst sicher, ich bin verrückt geworden. Möglicherweise hast du auch Angst, doch glaube mir: Wir werden uns bald sehen.
Gehe einfach in die Bücherei, hier im Ort, und halte Ausschau nach Büchern über die Anatomie des Menschen. In Ordnung?


Irritiert blicke ich auf. Vorsichtig schaue ich mich um, doch die Straße liegt in dem grellen Morgenlicht wie ausgestorben da. Erste braune Blätter fallen seufzend von den Bäumen und der laue Wind weht sie sanft durch die Luft. Aber ansonsten – nichts. Noch nicht einmal ein Jogger ist unterwegs.
Zögernd gucke ich wieder auf den Brief. Er ist auf normalem, weißen Papier geschrieben. Die Schrift ist geschwungen und ordentlich. Am Rand kann ich einen kleinen Tintenfleck entdecken. Bevor ich mich umdrehe, um endgültig zurück zum Haus zu laufen, sehe ich mich erneut um. Die Häuser werfen lange Schatten auf die gepflasterten Wege. Ich suche sie nach einem paar Augen ab. Will mich jemand veräppeln oder habe ich tatsächlich einen Verehrer? Verunsichert gehe ich zurück zu unserem Haus. Es ist aus rotem Backstein gefertigt und sehr groß. Wenn jemand durch unsere Siedlung fährt, meint er oft, hier würden nur Familien leben. Und meine Mutter und ich sind ja auch irgendwie eine Familie. Aber irgendwie eben doch nicht. Eine Familie besteht aus Mutter, Vater, Kind. Nicht aus Mutter, Kind. Die Stufen, die zur Treppe heraufführen, sind noch kalt.
Ich klingle. Eilige Schritte nähern sich und dann reißt meine Mutter die Tür auf. Ihre Mine ist unergründlich. Sie nimmt mir die Post aus der Hand, die ich ihr hinhalte, und geht wortlos zurück in die Küche. Ich kann den frischen Kaffee bis hier riechen und streife vorsichtig meine Pantoffeln von den Füßen. Danach werden sie ordentlich in die Ecke gestellt, in das kleine Schuhregal links neben der Tür. Meine Mutter ist ein sehr ordentlicher Mensch, deswegen hat sie das Regal gekauft. Damit alles seinen Platz hat – wie alles in unserem großen Haus. Das Telefon steht immer in der Diele auf einem kleinen Holztisch. Mom hat sich geweigert, ein schnurloses Telefon zu kaufen. Sie hat Angst gehabt, dass ich es in mein Zimmer verschleppen und nicht wieder zurück bringen könnte. Der Mixer liegt allzeit bereit im obersten Fach des Küchenschrankes. Die Bezüge für die Bettdecke und die Kissen packt sie jedes Mal wieder in die Schubladen der großen, dunklen Kommode, die oben im Flur steht. Alles hat hier seinen Platz.
Ich halte den Brief, den ich eben erhalten habe, fest in meiner Hand. Ich werfe erneut einen kleinen Blick darauf. Sofort füllt sich mein Kopf mit lauter Fragezeichen. Wer schreibt mir einen Brief? Wer schreibt mir einen Liebesbrief? Warum schreibt mir jemand so etwas Poetisches, statt mich einfach zu ragen, ob ich mal mit ihm ausgehen würde? Kenne ich diesen jemanden überhaupt? An dieser Stelle lehne ich mich gegen die Heizung und fummle den weißen Zettel noch einmal aus dem Umschlag. Ich überfliege kurz die ersten Worte. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, ob du mich je gesehen hast...
„Irene, kommst du mal langsam?“, höre ich Mom aus der Küche rufen.
Eilig verschließe ich den Brief und gehe frühstücken.
Meine Mutter hat Toast und Eier vorbereitet und stellt gerade den Kaffee und ein Glas Milch auf den Tisch, als ich hereinkomme. Ihr Blick bleibt auf der Stelle argwöhnisch an dem blütenweißen Umschlag in meiner Hand hängen. „Du hast Post bekommen?“
„Ja“, murmle ich und senke den Kopf. Hastig zwänge ich mich auf die Sitzbank, ohne dabei allerdings den Umschlag aus den Händen zu legen. Ich habe Angst, dass Mom mehr darüber wissen will, doch ich kann mich auf sie verlassen. Niemand ist so vorhersehbar wie sie. Mom tut, was sie immer tut: Sie geht ihrem geregelten Tagesablauf nach und bleibt dabei ruhig.
„Triffst du dich heute mit diesem Marc?“, fragt sie, während sie vorsichtig Butter auf ihr goldgelbes Toast schmiert.
„Er heißt Marcus“, korrigiere ich sie abermals.
Sie macht eine unwirsche Handbewegung.
„Nein, tue ich nicht.“ Sie fragt nicht nach dem Warum. Die Wahrheit ist: Er hat sich von mir getrennt. Gestern. Aus heiterem Himmel. Wir waren in dem nahegelegenen Park verabredet gewesen. Schon am Telefon hat er so reserviert geklungen, doch ich habe mir nichts dabei gedacht. Und dann hat er mir gestanden, er habe ein anderes Mädchen kennen gelernt. Bumms. Vorbei ist es mit uns beiden.
Als ich eben den Brief gelesen habe, hat mein Herz unkontrolliert gegen meinen Brustkorb geschlagen. Ich habe tatsächlich gehofft, dass er von Marcus wäre, obwohl ich im Grunde meines Herzens weiß, dass er so etwas wahrscheinlich nicht tun würde. Marcus schreibt keine Liebesbriefe und er kauft auch keine roten Rosen. Er nimmt keine Kassette mit seinen Lieblingsliedern für dich auf und er verfasst keine Gedichte. Dafür streicht er zärtlich über deine Wange und wickelt mit Bedacht deine Haarsträhnen liebevoll um seinen Finger. Er hat ein freches Grinsen und fragt danach, wie es dir in den letzten Stunden ergangen ist.
Ich höre mich jetzt furchtbar verliebt an, wenn ich so daherrede, aber um ehrlich zu sein: Ich musste weder ständig an ihn denken noch hatte ich ein Kribbeln oder Flattern im Bauch. Ich fühlte mich bloß vollständig mit ihm.
Manchmal glaube nämlich, mir fehlt ein Teil. Wie bei einem Puzzle: Ein Stück fehlt und ist nirgends zu entdecken. Zumindest kann ich es nirgendwo entdecken.
 

Sue Lynn

Mitglied
Stalker oder Normalo?

Hallo,

ehrlich gestanden habe ich beim Lesen dieses Liebesbriefes eher an einen Stalker gedacht als an einen "normalen" Verehrer.
Ich finde den Brief etwas zu abgehoben, teilweise bedrohlich.
Außerdem klingt es merkwürdig, dass er nicht weiß, ob sie ihn je gesehen hat, andererseits aber weiß, wie ihre Sonnencreme riecht und dass sie sich darüber beklagt, dass sie klebt. Das spricht ja dafür, dass er ihr schon recht nahe gekommen sein muss und das nicht nur einmal.

Gruß Sue
 

Josie

Mitglied
Hallo

Wenn auch dein Schreibstil durch die vielen kurzen Sätze ein bißchen atemlos daherkommt, so finde ich deine Erzählung denoch interessant und spannend. Dieser Anfang macht neugierig auf mehr.

Hier hast du ein `ich´ vergessen
*" Manchmal glaube nämlich, mir fehlt ein Teil. "*

LG Josie
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Klingt nett, der Stil ist sicher ausbaufähig – im Moment schwebt er recht gleichmäßig dahin. Beim Lesen hatte ich die "innere Stimme" immer oben, als wär's ein langer langer Satz. Aber das nur nebenbei.

Wichtig erscheint mir erstens, dass unbedingt das Alter der Heldin eingegrenzt werden muss – Schülerin, in der Berufsausbildung oder doch schon älter?
Zweitens ist mir aufgefallen, dass der angeblich so große Ordnungssinn der Mutter nicht "rüberkommt". Bei mir liegen auch die Bettwäsche und der Mixer immer an der selben Stelle, "ordentlich" ist trotzdem nicht unbedingt meine hervorstechendste Eigenschaft. Die Abneigung gegen das schnurlose Telefon geht in die richtige Richtung ...
 

revilo

Mitglied
Wow, was für eine Perle habe ich da beim Stöbern entdeckt. Eine feinsinnige Erzählung, die überhaupt nicht atemlos ist. Mir gefällt Dein Stil. Ist wesentlich besser als Bandwurmsätze, die Qualität und Intellekt vortäuschen! Mach´weiter so wünscht sich revilo
 



 
Oben Unten