Lina in der Fremde

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Karinina

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Lina in der Fremde
An der berühmt-berüchtigten Staatsstraße im damaligen Bühlau, einem nordöstlichen Vorort von Dresden, auf der der gesamte Verkehr zwischen der Residenstadt Dresden, der Lausitz, dem damaligen Schlesien und Polen abrollte, befand sich vor 1900 eine weithin bekannte Schmiede Die vielen Reiter, Kaleschen und schweren Fuhrwerke, die die Straße passierten, kamen oft hierher, um sich für ihre weitere Reise auszustatten und die Beschläge der Pferde und Kutschen nachsehen und erneuern zu lassen. Nebenbei betrieb die Frau des Schmiedes eine kleine Ausspanne und bediente die hohen Herren, ihre Damen oder auch die hübschen Fräuleins mit Imbiss und Getränken.
Die Schmiede kam um das Jahr 1998 wegen eines Ereignisses ins Gerede, das mit der Schmiedetochter Lina zusammen hing, die trotz ihres jugendlichen Alters schon über eine bemerkenswerte exotische Schönheit verfügte.
Lina war zwölf Jahre alt, als sie einem jungen adligen Herrn, der sein Pferd gerade bei ihrem Vater beschlagen ließ, eine Erfrischung darbot. Wahrscheinlich hatte das Exotische des Mädchens damals noch zusätzlich die Weichheit der Kindlichkeit. Sie muss für den jungen Mann wie eine magische Erscheinung gewesen sein.
„Sie trat aus dem Schatten der verrußten Schmiede. Sie lächelte nicht, aber sie sah mich an. Es war ein scheuer Blick, als wollte sie um Hilfe bitten. Ich mietete mir ein Zimmer nicht weit von der Schmiede und ich ging von da an jeden Tag dorthin und wartete, bis sie aus der Schmiede trat...“ Das schrieb der junge Mann an seinen Freund. Es ist anzunehmen, dass es zumindest der Mutter aufgefallen sein muss. Vielleicht hat es ihr zu Anfang sogar Spaß gemacht, zu beobachten, wie sich der junge Mann ihrer kindlichen Tochter näherte. Möglicherweise kam ihr aber nicht in den Sinn, welche Folgen dass alles haben könnte.
Lina schien genau zu wissen, wann sie aus der Schmiede treten musste. Es war auch, so schildert es der junge Mann an seinen Freund, ein bestimmtes Licht, dass auf ihr Gesicht zu fallen schien, wenn sie aus dem Dunkel heraustrat. Manchmal, wenn es regnete, stellte er sich gegenüber unter ein Vordach und wartete.
Es wurde Herbst und es wurde Winter und das Leben des jungen Mannes hatte sich von Grund auf geändert. Seinen Dienst hatte er quittiert, sein Vermögen schmolz. Inzwischen hatte sich sein Freund das Mädchen angesehen. Er fand sie zwar tatsächlich schön, aber das war es auch. Etwas Magisches ging für ihn von ihrem scheuen Blick nicht aus. Eben ein Mädchenblick, na und? Schließlich besuchte er die Schmiedemeistersfrau und bot ihr an, Lina als Hausmädchen in seinen Dienst zu nehmen, damit sein Freund wieder in die Stadt zurückkehren konnte. Die Schmiedin lehnte ab. Und Lina wurde 13.
Wenige Tage später waren Lina und der junge Mann verschwunden.
Damals, in den letzten Sommern vor der Jahrhundertwende, war die niedere Bergwelt vor der Tatra, die Mala Fatra, noch kaum für Touristen erschlossen und die meisten Täler an den schnellfliesenden Flüssen unbewohnt. Tannenwälder rauschten, dazwischen lagen weite Kräuterwiesen und hoch oben kreisten kleinere und manchmal auch größere Raubvögel.
Hin und wieder standen mit Schindeln gedeckte Blockhütten sehr versteckt zwischen niederen Wacholderbüschen, meistens waren es Schäferhütten, in denen Schafskäse angesetzt , geräuchert und zum Reifen aufgehängt wurde.
Auf dem Markt in Zilina bot ein junges Mädchen mehrere Sommer lang diese gereiften Schafskäse zu billigen Preisen an. Ihr Stand war immer umlagert, denn dieses Mädchen hatte eine Art, ihr von einem dunklen Strohhut beschattetes Gesicht ins Licht zu halten, dass man von ihren Blicken angezogen wurde und nicht mehr los kam. Sie sprach kein Wort. Sie breitete ihre geräucherten Käselaibe aus, legte die Preisliste dazu und nahm mit einem ernsten Nicken das Geld entgegen. Ein junger Mann, der sie morgens an ihrem Stand absetzte, holte sie am frühen Nachmittag wieder ab. Niemand wusste, wohin sie danach verschwanden, und niemand folgte ihnen.
Welches Leben sie führten ist nicht bekannt. Bei den Schafherden sah man das Mädchen nicht. Der junge Mann kaufte die Milch auf und ließ sie bis zu den Wegen bringen, die in die Klüfte hinunter führten, zwischen denen die einzelnen Hütten standen. Rauch stieg zwischen den Hütten auf und kräuselte in den blauen Himmel oder breitete sich flach über die Täler aus. In großen Kesseln wurde die Milch erhitzt bis sie ausflockte, dann wurden die sauren großen Stücke in Tüchern gesammelt und die grünliche Molke ausgegossen, bis auf weniges, was man zum eigenen Gebrauch übrig behielt. Die gefüllten Tücher wurden zwischen Holzrahmen gepresst und die halbwegs trockene Masse zu Laibe geformt, mit Lederriemen umwunden und in einer Darre aufgehängt. Ein Teil wurde geräuchert, ein anderer eingesalzen und ein dritter luftgetrocknet. Es war ein guter Käse, der aus den Tälern der kleinen Fatra kam, es war der Kräutergeschmack von den vielen Wiesen, auf denen die Schafherden weideten und auch der leichte Geruch nach Wacholderholz, mit dem die Käselaibe geräuchert wurden.
In den Wintermonaten muss das Leben in den Schindelhütten karg gewesen sein. Schnee fiel hier im Übermaß und meist waren sie von der Außenwelt abgeschlossen.
Ich weiß nicht, ob Lina das alles aus Liebe auf sich genommen hat, davon stand nichts in den Briefen. Nachts lag sie auf einer Schütte Stroh, hörte die Tannen rauschen und die Nachtvögel über die Schindeln tapfen und ihre unheimlichen Rufe ausstoßen. Vielleicht waren Mäuse und Ratten in ihrer Hütte und sie hörte sie nagen und rascheln.
Und dann die anderen Tiere. Luchse gab es und Füchse, weiter in den Klüften auch Bären. Im Abenddämmer kamen die Rehe zum Äsen auf die Lichtungen und, an anderen Stellen, auch das Rotwild.
Der Fluss, der neben ihren Hütten hinunter ins Tal sich stürzte, floss in den Gebirgsstrom Vach, die Vach wiederum in die Donau. Die Flüsse waren fischreich.
13 Jahre war sie alt. Es schien nichts gegeben zu haben, was sie erschüttert hat.
Du fragst dich sicher, warum ich Lina , ein Kind noch, damals mitgenommen habe, schrieb der junge Mann an seinen Freund, das wollte ich eigentlich nicht... Er sei am Abend zuvor an der Schmiede gewesen, um sich zu verabschieden. Lina habe seine Hand weggeschlagen und sei fortgerannt. Das habe ihm leid getan, er hätte gerne von ihr gehört, dass sie auf ihn warten würde, denn er wollte nach dem Sommer wiederkommen. Ich wusste, schrieb er, ich konnte ohne dieses Gesicht und das Licht in ihren Augen nicht leben... Am nächsten Morgen, es sei noch dunkel gewesen, habe er sein Pferd holen wollen und da habe sie gestanden, ein Bündel mit Sachen am Arm. Sie habe gesagt, entweder er lasse sie auf sein Pferd, oder sie ginge in den Fluss. Erst habe er gezögert, aber dann ihren Blick gesehen und er sei sicher gewesen, sie hätte das wirklich getan. Er habe gedacht, nun gut, wollen wir ein Stück zusammen gehen, dann wird sie vernünftig werden.
Nein, schrieb er, sie wurde es nicht. Ich musste ein zweites Pferd kaufen. Ich sagte ihr, wenn man uns fände, dann würden sie mich verurteilen und einsperren. Da sagte sie: Dann töt ich uns beide.
Glaub mir, sie würde es tun, jetzt immer noch...
Sie hat alle Strapazen der langen Reise hingenommen ohne zu klagen, schrieb der junge Mann. Es war oft nicht einfach, die Straßen und Unterkünfte miserabel und sie war das Reiten nicht gewohnt...
Und, schrieb der junge Mann seinem Freund: Das Glück ist ihr Blick. Ich kann nicht wegsehn. Sie sitzt abends neben unseren Käsekesseln und sieht mich an. Mehr brauch ich nicht, aber was sie braucht, dass weiß ich leider immer noch nicht...
Einmal schrieb er: Heut war ein Eichkater im Aschekasten, da hab ich zum ersten Mal gehört, wie sie gejucht hat und in die Hände klatschte. Sie spricht wenig. Aber manchmal sagt sie, sie mag die Kräuterluft unter den Tannen...
Die Vach durchfloss zwischen Martin und Zilina ein enges Tal, dass die kleine Fatra von der großen Fatra trennte. An der engsten Stelle lagen beidseitig zwei Burgen, die eine, „Stary Hrad“, fast unzugänglich hoch oben als längst zerfallene Ruine, die andere auf weithin weiß leuchtendem Kalkgestein noch immer mächtig und sehenswert, die Burg „Strecno“. Oberhalb des Flusses und unterhalb der weißen Burg schlängelte sich eine holprige Bergstrasse , von Zilina kommend, nach Martin und von da aus weiter in die Ebene unterhalb der Tatra, über Poprad hinaus bis über die Grenze in die Ukraine, oder südlicher über Banska Bistritze und Kosice nach Ungarn. Unterhalb der weißen Burg führte ein Tunnel unter der Straße bis zum Fluß und hier an einer Furt konnte man die Vach mit einer breiten Compa überqueren.
Auf der gegenüberliegenden Vachseite, dort, wo in der Jarowina die Schäferhütten standen, erstreckten sich bis Varin kleine Bauernblockhäuser wie überall in den Dörfern. Anders als in Deutschland bildeten sie keine Dreiseithöfe, sondern hatten ihre Ställe, Scheunen und Schuppen hinter dem Wohnteil bis in die Gärten und Felder hinaus als längliche Hauszeile gebaut.
Wenn der junge Mann mit seinem Pferd von oben aus der Jarowina kam, dann hörte er die Frauen aus dem Orte an der Compa singen. Er konnte an der Furt die Frauen beim Wäschewaschen beobachten. Er schrieb seinem Freund, was für ein hinreißender Anblick das für ihn war: Vom jungen Mädchen bis zur uralten Frau standen sie mit ihren zu einem Bausch hochgebundenen Röcken bis zu den bloßen Oberschenkeln im Wasser, die Brusttücher abgelegt, schlugen mit breiten Holzklopfern die auf den weißen Kalksteinen ausgebreiteten Wäschestücke, schwenkten sie mit kräftigen Zügen im Wasser und legten sie dann auf das Gras am Ufer zum Bleichen aus. Wenn er am Wasser stand und auf die Fähre wartete, dann lachten sie, winkten ihm und zeigten ihm mit sichtlichem Vergnügen ihre großzügig bloßgelegten Hinter- und Vorderansichten. Was für ein Anblick, schrieb er seinem Freund, aber wie wenig hatte ich davon, denn, weiter im Berg, waren es Linas Blicke, die mir allezeit gegenwärtig waren...
Auf der Vachseite der Jarowina , schon in der Ebene, lag Varin, ein etwas größerer Ort mit einem Schlößchen, einer Kirche und einstöckigen Steinhäusern. Auch hier führte eine steinige Straße durch mehrere kleine Ortschaften bis nach Zilina mit der Burg Budusin, ein dicker weißer runder Turm mit einer langen Geschichte. In einem der kleinen Orte gab es in der Kirche eine Mumie zu sehen: In einem Glaskasten lag eine winzige Frau in wunderschönen Kleidern und eine Beschriftung erklärte, sie sei eine Herrscherin auf der Burg Strecno gewesen und man habe sie so mumifiziert aus der dortigen Gruft geborgen. Einmal im Jahr würden ihre Kleider gewechselt und verschiedene Kräuter in den Glaskasten gelegt. Der junge Mann kannte sich mit Mumien nicht aus, aber er fürchtete, das das Kleiderwechseln und die Kräuter nicht gerade zum Erhalt dieser Attraktion beitragen würden. Im Ort Gbebelina nisteten soviele Störche, dass im Sommer die Wiesen bis zur Vach voll von ihnen waren und wenn er mit Lina vom Markt aus Zilina kam, machten sie Halt und bewunderten ihr weißes Gefieder mit dem schwarzen Rand und ihren merkwürdig stakenden Gang.
So ging ihr Leben in gemächlicher Ruhe dahin. Selbst die mächtigen Gewitter, die sommers manchmal über die Jarowina und ihre Täler zogen, brachten außer aufgerissenen Wegen von den Sturzbächen aus den Bergen keine große Abwechslung.
Einmal, schrieb der junge Mann an seinen Freund, fragte ich Lina, warum sie unbedingt hatte mit mir mitkommen wollen, erst sagte sie nichts, dann aber schluchzte sie plötzlich auf, presste ihr Gesicht an meine Brust und sagte, sie hätte sich ohne mich so allein gefühlt. Was sagst du dazu?
Ich bin mit Lina alle unsere alten Wege gewandert, wenn die Sonntage schön waren, schrieb der junge Mann, die Wege, die du ja noch kennst aus unserer Kinderzeit. Ich hab sie in eine meiner Reithosen gesteckt, und sie sah sehr erwachsen darin aus...
Oben im Gebirge, dort wo die Schafe nicht weiden, waren die Wege fast zugewachsen und sie mussten sich mit ihren Wanderäxten bis zum Grat hinauf durch wildgewachsenes Gebüsch schlagen. Am Grat entlang wanderten sie zum kleinen Kriwan und über die ausgedehnten Matten. Sie waren mit Flechten bewachsen, die unter ihren Tritten splitterten wie Glas. Auf dem schmalen Weg am Grat bis zum großen Kriwan saßen sie in der Sonne und sahen in die nach Südosten liegenden Täler hinein. Auf dieser Seite reichten die Matten steil hinab und über die darunterliegenden Wälder wurden manchmal Glockentöne aus den Niederungen herauf getragen.
Einmal auch ritten sie unten am Gebirge entlang bis Stefanova , stiegen in das weiße und kahle Kalkgestein des Rozsutez hinauf und drüben in der wilden Klamm wieder hinunter, immer am stürzenden Wasser entlang, über feuchte, mossbewachsene Felsstücke hinweg, um schließlich weiter unten direkt im eisigkalten Wasserlauf bis zum Ort zu waten.
Weißt du, Leonard, Lina hat weder gezögert noch Angst gezeigt, schrieb der junge Mann, ich konnte sie nicht genug bewundern, nur manchmal kommt mir das doch sonderbar vor, ich kann nicht ergründen, was sie empfindet...
Zu Anfang des dritten Sommers erhielt der junge Mann Nachricht von seinem Bruder, der ihm mitteilte, dass sich ein Käufer für das Anwesen ihrer Mutter an der Orava gefunden habe und er solle das Geschäft an Ort und Stelle abwickeln. Die Mutter stammte aus einem böhmischen Adelsgeschlecht und hatte das kleine Schlösschen geerbt. Sie hatte es einige Jahre als Sommerhaus genutzt und für den jungen Mann, seinen Bruder und ihre Freunde war es immer eine schöne Zeit in ihrer Kindheit an der Orava gewesen. Vor einigen Jahren, als ihre Mutter verstorben war, hatte das Schlösschen eine weitläufige Cousine übernommen, die vor einiger Zeit ebenfalls verstorben war.
So ritten sie beide, Lina und der junge Mann, an einem Sonntage über Terchova die steile Bergstraße hinauf zur Orava , immer durch die prächtigen Laubwälder hinan, die er seit seiner Kindheit kannte und liebte.
Das aus Stein gebaute Herrenhaus am Ende einer mit Nussbäumen gesäumten Allee hatte buntbemalte Holzgiebel und zum Wasser zu eine Terrasse, die mit starkblühenden Pelargonien eingefasst war. Es war kein großes Anwesen, aber man hätte sicher gut darin leben können. Lina lehnte es ab, und so wurde es verkauft.
Sie sagte zu mir, es würden zu viele Menschen drum herum laufen, und vor allem wolle sie kein offenes Feuer mehr in einem Haus und nichts, was eng macht, denn dann hätte sie doch bei ihrem Vater bleiben können. Erinnerst Du Dich an den großen offenen Kamin in der Diele, an dem wir uns abends die schaurigsten Geschichten erzählt haben, Leonard? Der Kamin hat sie erschreckt, verstehst Du das?
Von einem Teil des Geldes wollte er Lina auf der Bank von Zilina ein Konto einrichten. Vorher lies er Lina im besten Modehaus einkleiden. Sie bekam ein enges schwarzes Kleid mit einem ausgestellten Rock und cremefarbenen Spitzen am Halsausschnitt und an den Manschetten und einen breitkrempigen schwarzen Hut mit einer cremefarbenen Schleife.
Als wir über den Markt schritten, dort, wo sie sonst die Käselaibe verkauft, da gab es einen Auflauf wie bei einem Staatsbesuch, schrieb der junge Mann. Überall, wohin wir kamen, erregten wir das allergrößte Aufsehen...
An dem Sonntag darauf zog Lina ihr schönes Kleid nochmals an, nahm den jungen Mann an der Hand und sagte ihm, sie wolle seine Frau werden. Er war bestürzt aber auch hocherfreut über ihren Wunsch. Als sie durch das Portal der Kirche in Varin schritten, trieb es die Kirchgänger von ihren Bänken, ein großes Ah und Oh lief durch die Reihen. Lina zog den jungen Mann bis zum Priester, der sie anstaunte und nicht gleich verstand, was dieses außergewöhnlich schöne Mädchen von ihm wollte. Schließlich umwand er ihrer beider Hände mit seiner Scherbe und segnete sie.
Lina tat etwas sehr eigenartiges: Sie küsste mich, schrieb der junge Mann, und das im Angesicht der vielen Leute. Lina sagte, sie wolle nun ein Bettgestell für sich und mich. Ich sagte ihr, sie sei doch noch ein Kind und wir könnten warten, bis sie erwachsen sei. Nein, sagte sie zu mir, jetzt wolle sie leben wie eine Frau, ihre Zeit sei gekommen, und jetzt sei es richtig so. Ich hatte große Angst, Leonard, solange haben wir wie Geschwister gelebt, wie konnte das jetzt gut gehen?... Und außerdem, weißt du, es ist dieses Endgültige, nun können wir nicht mehr zurück...
Gestern hat Lina mich überrascht, schrieb er etwas später, einer der Schäfer sei angerannt gekommen und habe geschrien, dass seine Frau Hilfe brauche. Da sei Lina hinauf gelaufen zu der Schafherde, habe sich zu der stark blutenden Frau gebeugt und verlangt, dass ich nach Varin reite und die weiße Frau holen solle, die Frau sei unter der Geburt. Als ich mit der weißen Frau zurück kam, da lag die Frau in Decken gewickelt und in ihren Armen das Neugeborene. Oh Martin sagte Lina zu mir, oh Martin, und weiter nichts. Es ist so sonderbar, sie ist so wortkarg...
Lina muss 16 gewesen sein, als sie schwanger wurde. Wenn er jetzt von seinen Streifzügen, die er manchmal wieder bis zur Orava ausdehnte, nach Hause kam, dann saß Lina vor der Hütte und blickte ihn an. Sie war etwas schwach geworden vom morgendlichen Übelsein, aber sie klagte nicht. Er fragte sie jetzt öfter, ob sie nach Hause wolle, oder vielleicht lieber in Zilina bleiben möchte. Oder unten, in einem der Bauernhäuser an der Comba. Sie lehnte ab.
Noch lag ein schöner ruhiger Herbst über den Ebenen im Tal , aber in den Nächten wurde es jetzt schon empfindlich kalt und wenn er morgens zum Waschen an den Brunnen ging, dann lag schon eine Eisschicht auf dem Waschtrog.
Was soll ich nur tun? schrieb er seinem Freund, ich bin unruhig...
Es ist ein Junge, schrieb er später. Lina habe ihn gestillt, aber er habe immerzu geschrien. Da habe Lina das Kind in Schafwolle gewickelt und in feste Tücher und ihm dann mit einer Decke vor die Brust gebunden, damit er es in Varin zur weißen Frau bringen konnte.
Von da an blieben die Briefe aus.
Im kommenden Sommer kam Leonard nach Zilina und Varin und suchte seinen Freund. Er fand ihn nicht und auch die Lina nicht. In den Hütten der Jarowina lebte jetzt die Schäferfamilie mit ihrem Kind.
Dann erzählte man ihm in einer Gaststätte in Varin, wenn er die junge Frau meine, die oben in der Jarowina gelebt habe, dann hätte man sie vor nicht langer Zeit auf der Sandbank gefunden, dort, wo der Fluß aus dem Gebirge in die Vach fließe. Sie habe dieses schwarze Kleid getragen und sei unglaublich schön gewesen. Man habe sie zu den Nonnen gebracht und sie lebe jetzt in dem Schwesternstift in Varin. Von dem jungen Mann, den sie selbstverständlich kannten, wussten sie nichts. Allerdings sei eines Tages im Frühjahr sein Pferd aufgetaucht, herrenlos. Es stünde jetzt im Pferdestall des Schlossherrn. Vielleicht sei er auch in den Fluss gestürzt? Wenn er in die Vach gestürzt sei, dann würde man ihn niemals finden, sagten die Leute, man habe noch nie jemanden hier aus der Vach geborgen, vielleicht weiter unten, Richtung Donau, wo der Fluss zwar tiefer, aber nicht so reißend sei.
Auf der langen Fahrt nach Dresden sprach Lina so gut wie kein Wort. Leonard brachte sie zu zu ihren Eltern zurück und diese siedelten mit ihr nach Ottendorf über. Die stark befahrene Straße in Bühlau war ihnen für Lina zu gefährlich. Wenn sie sich irgendwo gezeigt hatte, waren die Leute stehen geblieben und hatten sie angestarrt oder versucht, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Außerdem wussten die Leute rings um die Schmiede von ihrem damaligen Verschwinden und waren natürlich neugierig. Wegziehen schien den Eltern das einzig Vernünftige zu sein. In Ottendorf kauften sie die Schmiede unterhalb der Wachberghöhe, und wenn meine Großmutter, ja , Lina war meine Großmutter, aus ihrem Fenster sah, dann schweifte ihr Blick über die weiten Wiesen bis hinauf in den Wald auf der Höhe, und vielleicht spürte sie dabei so etwas wie Sehnsucht...
Eines Abends, etwa sechzig jahre später,kam meine Großmutter an mein Bett, sie setzte sich zu mir, nahm meine Hand zwischen ihre Hände und sagte zu mir:
„Es war ein Knabe. Ich warte immer noch, das beide nach Hause kommen...“
Nun wusste ich, sie hatte mich an ihrem geheimen Fach am Nähschrank gesehen, vielleicht hatte sie auch gewollt, dass ich die Briefe des jungen Mannes an Leonard fand...
Wenige Tage später starb meine Großmutter. Vielleicht fragen Sie sich, ob eine ihrer Töchter oder Enkeltöchter ihre Schönheit geerbt hat. Nein, keine von uns. Ob wir es bedauern? Ich jedenfalls nicht...
 

Karinina

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Lina in der Fremde
An der berühmt-berüchtigten Staatsstraße im damaligen Bühlau, einem nordöstlichen Vorort von Dresden, auf der der gesamte Verkehr zwischen der Residenstadt Dresden, der Lausitz, dem damaligen Schlesien und Polen abrollte, befand sich vor 1900 eine weithin bekannte Schmiede Die vielen Reiter, Kaleschen und schweren Fuhrwerke, die die Straße passierten, kamen oft hierher, um sich für ihre weitere Reise auszustatten und die Beschläge der Pferde und Kutschen nachsehen und erneuern zu lassen. Nebenbei betrieb die Frau des Schmiedes eine kleine Ausspanne und bediente die hohen Herren, ihre Damen oder auch die hübschen Fräuleins mit Imbiss und Getränken.
Die Schmiede kam um das Jahr 1898 wegen eines Ereignisses ins Gerede, das mit der Schmiedetochter Lina zusammen hing, die trotz ihres jugendlichen Alters schon über eine bemerkenswerte exotische Schönheit verfügte.
Lina war zwölf Jahre alt, als sie einem jungen adligen Herrn, der sein Pferd gerade bei ihrem Vater beschlagen ließ, eine Erfrischung darbot. Wahrscheinlich hatte das Exotische des Mädchens damals noch zusätzlich die Weichheit der Kindlichkeit. Sie muss für den jungen Mann wie eine magische Erscheinung gewesen sein.
„Sie trat aus dem Schatten der verrußten Schmiede. Sie lächelte nicht, aber sie sah mich an. Es war ein scheuer Blick, als wollte sie um Hilfe bitten. Ich mietete mir ein Zimmer nicht weit von der Schmiede und ich ging von da an jeden Tag dorthin und wartete, bis sie aus der Schmiede trat...“ Das schrieb der junge Mann an seinen Freund. Es ist anzunehmen, dass es zumindest der Mutter aufgefallen sein muss. Vielleicht hat es ihr zu Anfang sogar Spaß gemacht, zu beobachten, wie sich der junge Mann ihrer kindlichen Tochter näherte. Möglicherweise kam ihr aber nicht in den Sinn, welche Folgen dass alles haben könnte.
Lina schien genau zu wissen, wann sie aus der Schmiede treten musste. Es war auch, so schildert es der junge Mann an seinen Freund, ein bestimmtes Licht, dass auf ihr Gesicht zu fallen schien, wenn sie aus dem Dunkel heraustrat. Manchmal, wenn es regnete, stellte er sich gegenüber unter ein Vordach und wartete.
Es wurde Herbst und es wurde Winter und das Leben des jungen Mannes hatte sich von Grund auf geändert. Seinen Dienst hatte er quittiert, sein Vermögen schmolz. Inzwischen hatte sich sein Freund das Mädchen angesehen. Er fand sie zwar tatsächlich schön, aber das war es auch. Etwas Magisches ging für ihn von ihrem scheuen Blick nicht aus. Eben ein Mädchenblick, na und? Schließlich besuchte er die Schmiedemeistersfrau und bot ihr an, Lina als Hausmädchen in seinen Dienst zu nehmen, damit sein Freund wieder in die Stadt zurückkehren konnte. Die Schmiedin lehnte ab. Und Lina wurde 13.
Wenige Tage später waren Lina und der junge Mann verschwunden.
Damals, in den letzten Sommern vor der Jahrhundertwende, war die niedere Bergwelt vor der Tatra, die Mala Fatra, noch kaum für Touristen erschlossen und die meisten Täler an den schnellfliesenden Flüssen unbewohnt. Tannenwälder rauschten, dazwischen lagen weite Kräuterwiesen und hoch oben kreisten kleinere und manchmal auch größere Raubvögel.
Hin und wieder standen mit Schindeln gedeckte Blockhütten sehr versteckt zwischen niederen Wacholderbüschen, meistens waren es Schäferhütten, in denen Schafskäse angesetzt , geräuchert und zum Reifen aufgehängt wurde.
Auf dem Markt in Zilina bot ein junges Mädchen mehrere Sommer lang diese gereiften Schafskäse zu billigen Preisen an. Ihr Stand war immer umlagert, denn dieses Mädchen hatte eine Art, ihr von einem dunklen Strohhut beschattetes Gesicht ins Licht zu halten, dass man von ihren Blicken angezogen wurde und nicht mehr los kam. Sie sprach kein Wort. Sie breitete ihre geräucherten Käselaibe aus, legte die Preisliste dazu und nahm mit einem ernsten Nicken das Geld entgegen. Ein junger Mann, der sie morgens an ihrem Stand absetzte, holte sie am frühen Nachmittag wieder ab. Niemand wusste, wohin sie danach verschwanden, und niemand folgte ihnen.
Welches Leben sie führten ist nicht bekannt. Bei den Schafherden sah man das Mädchen nicht. Der junge Mann kaufte die Milch auf und ließ sie bis zu den Wegen bringen, die in die Klüfte hinunter führten, zwischen denen die einzelnen Hütten standen. Rauch stieg zwischen den Hütten auf und kräuselte in den blauen Himmel oder breitete sich flach über die Täler aus. In großen Kesseln wurde die Milch erhitzt bis sie ausflockte, dann wurden die sauren großen Stücke in Tüchern gesammelt und die grünliche Molke ausgegossen, bis auf weniges, was man zum eigenen Gebrauch übrig behielt. Die gefüllten Tücher wurden zwischen Holzrahmen gepresst und die halbwegs trockene Masse zu Laibe geformt, mit Lederriemen umwunden und in einer Darre aufgehängt. Ein Teil wurde geräuchert, ein anderer eingesalzen und ein dritter luftgetrocknet. Es war ein guter Käse, der aus den Tälern der kleinen Fatra kam, es war der Kräutergeschmack von den vielen Wiesen, auf denen die Schafherden weideten und auch der leichte Geruch nach Wacholderholz, mit dem die Käselaibe geräuchert wurden.
In den Wintermonaten muss das Leben in den Schindelhütten karg gewesen sein. Schnee fiel hier im Übermaß und meist waren sie von der Außenwelt abgeschlossen.
Ich weiß nicht, ob Lina das alles aus Liebe auf sich genommen hat, davon stand nichts in den Briefen. Nachts lag sie auf einer Schütte Stroh, hörte die Tannen rauschen und die Nachtvögel über die Schindeln tapfen und ihre unheimlichen Rufe ausstoßen. Vielleicht waren Mäuse und Ratten in ihrer Hütte und sie hörte sie nagen und rascheln.
Und dann die anderen Tiere. Luchse gab es und Füchse, weiter in den Klüften auch Bären. Im Abenddämmer kamen die Rehe zum Äsen auf die Lichtungen und, an anderen Stellen, auch das Rotwild.
Der Fluss, der neben ihren Hütten hinunter ins Tal sich stürzte, floss in den Gebirgsstrom Vach, die Vach wiederum in die Donau. Die Flüsse waren fischreich.
13 Jahre war sie alt. Es schien nichts gegeben zu haben, was sie erschüttert hat.
Du fragst dich sicher, warum ich Lina , ein Kind noch, damals mitgenommen habe, schrieb der junge Mann an seinen Freund, das wollte ich eigentlich nicht... Er sei am Abend zuvor an der Schmiede gewesen, um sich zu verabschieden. Lina habe seine Hand weggeschlagen und sei fortgerannt. Das habe ihm leid getan, er hätte gerne von ihr gehört, dass sie auf ihn warten würde, denn er wollte nach dem Sommer wiederkommen. Ich wusste, schrieb er, ich konnte ohne dieses Gesicht und das Licht in ihren Augen nicht leben... Am nächsten Morgen, es sei noch dunkel gewesen, habe er sein Pferd holen wollen und da habe sie gestanden, ein Bündel mit Sachen am Arm. Sie habe gesagt, entweder er lasse sie auf sein Pferd, oder sie ginge in den Fluss. Erst habe er gezögert, aber dann ihren Blick gesehen und er sei sicher gewesen, sie hätte das wirklich getan. Er habe gedacht, nun gut, wollen wir ein Stück zusammen gehen, dann wird sie vernünftig werden.
Nein, schrieb er, sie wurde es nicht. Ich musste ein zweites Pferd kaufen. Ich sagte ihr, wenn man uns fände, dann würden sie mich verurteilen und einsperren. Da sagte sie: Dann töt ich uns beide.
Glaub mir, sie würde es tun, jetzt immer noch...
Sie hat alle Strapazen der langen Reise hingenommen ohne zu klagen, schrieb der junge Mann. Es war oft nicht einfach, die Straßen und Unterkünfte miserabel und sie war das Reiten nicht gewohnt...
Und, schrieb der junge Mann seinem Freund: Das Glück ist ihr Blick. Ich kann nicht wegsehn. Sie sitzt abends neben unseren Käsekesseln und sieht mich an. Mehr brauch ich nicht, aber was sie braucht, dass weiß ich leider immer noch nicht...
Einmal schrieb er: Heut war ein Eichkater im Aschekasten, da hab ich zum ersten Mal gehört, wie sie gejucht hat und in die Hände klatschte. Sie spricht wenig. Aber manchmal sagt sie, sie mag die Kräuterluft unter den Tannen...
Die Vach durchfloss zwischen Martin und Zilina ein enges Tal, dass die kleine Fatra von der großen Fatra trennte. An der engsten Stelle lagen beidseitig zwei Burgen, die eine, „Stary Hrad“, fast unzugänglich hoch oben als längst zerfallene Ruine, die andere auf weithin weiß leuchtendem Kalkgestein noch immer mächtig und sehenswert, die Burg „Strecno“. Oberhalb des Flusses und unterhalb der weißen Burg schlängelte sich eine holprige Bergstrasse , von Zilina kommend, nach Martin und von da aus weiter in die Ebene unterhalb der Tatra, über Poprad hinaus bis über die Grenze in die Ukraine, oder südlicher über Banska Bistritze und Kosice nach Ungarn. Unterhalb der weißen Burg führte ein Tunnel unter der Straße bis zum Fluß und hier an einer Furt konnte man die Vach mit einer breiten Compa überqueren.
Auf der gegenüberliegenden Vachseite, dort, wo in der Jarowina die Schäferhütten standen, erstreckten sich bis Varin kleine Bauernblockhäuser wie überall in den Dörfern. Anders als in Deutschland bildeten sie keine Dreiseithöfe, sondern hatten ihre Ställe, Scheunen und Schuppen hinter dem Wohnteil bis in die Gärten und Felder hinaus als längliche Hauszeile gebaut.
Wenn der junge Mann mit seinem Pferd von oben aus der Jarowina kam, dann hörte er die Frauen aus dem Orte an der Compa singen. Er konnte an der Furt die Frauen beim Wäschewaschen beobachten. Er schrieb seinem Freund, was für ein hinreißender Anblick das für ihn war: Vom jungen Mädchen bis zur uralten Frau standen sie mit ihren zu einem Bausch hochgebundenen Röcken bis zu den bloßen Oberschenkeln im Wasser, die Brusttücher abgelegt, schlugen mit breiten Holzklopfern die auf den weißen Kalksteinen ausgebreiteten Wäschestücke, schwenkten sie mit kräftigen Zügen im Wasser und legten sie dann auf das Gras am Ufer zum Bleichen aus. Wenn er am Wasser stand und auf die Fähre wartete, dann lachten sie, winkten ihm und zeigten ihm mit sichtlichem Vergnügen ihre großzügig bloßgelegten Hinter- und Vorderansichten. Was für ein Anblick, schrieb er seinem Freund, aber wie wenig hatte ich davon, denn, weiter im Berg, waren es Linas Blicke, die mir allezeit gegenwärtig waren...
Auf der Vachseite der Jarowina , schon in der Ebene, lag Varin, ein etwas größerer Ort mit einem Schlößchen, einer Kirche und einstöckigen Steinhäusern. Auch hier führte eine steinige Straße durch mehrere kleine Ortschaften bis nach Zilina mit der Burg Budusin, ein dicker weißer runder Turm mit einer langen Geschichte. In einem der kleinen Orte gab es in der Kirche eine Mumie zu sehen: In einem Glaskasten lag eine winzige Frau in wunderschönen Kleidern und eine Beschriftung erklärte, sie sei eine Herrscherin auf der Burg Strecno gewesen und man habe sie so mumifiziert aus der dortigen Gruft geborgen. Einmal im Jahr würden ihre Kleider gewechselt und verschiedene Kräuter in den Glaskasten gelegt. Der junge Mann kannte sich mit Mumien nicht aus, aber er fürchtete, das das Kleiderwechseln und die Kräuter nicht gerade zum Erhalt dieser Attraktion beitragen würden. Im Ort Gbebelina nisteten soviele Störche, dass im Sommer die Wiesen bis zur Vach voll von ihnen waren und wenn er mit Lina vom Markt aus Zilina kam, machten sie Halt und bewunderten ihr weißes Gefieder mit dem schwarzen Rand und ihren merkwürdig stakenden Gang.
So ging ihr Leben in gemächlicher Ruhe dahin. Selbst die mächtigen Gewitter, die sommers manchmal über die Jarowina und ihre Täler zogen, brachten außer aufgerissenen Wegen von den Sturzbächen aus den Bergen keine große Abwechslung.
Einmal, schrieb der junge Mann an seinen Freund, fragte ich Lina, warum sie unbedingt hatte mit mir mitkommen wollen, erst sagte sie nichts, dann aber schluchzte sie plötzlich auf, presste ihr Gesicht an meine Brust und sagte, sie hätte sich ohne mich so allein gefühlt. Was sagst du dazu?
Ich bin mit Lina alle unsere alten Wege gewandert, wenn die Sonntage schön waren, schrieb der junge Mann, die Wege, die du ja noch kennst aus unserer Kinderzeit. Ich hab sie in eine meiner Reithosen gesteckt, und sie sah sehr erwachsen darin aus...
Oben im Gebirge, dort wo die Schafe nicht weiden, waren die Wege fast zugewachsen und sie mussten sich mit ihren Wanderäxten bis zum Grat hinauf durch wildgewachsenes Gebüsch schlagen. Am Grat entlang wanderten sie zum kleinen Kriwan und über die ausgedehnten Matten. Sie waren mit Flechten bewachsen, die unter ihren Tritten splitterten wie Glas. Auf dem schmalen Weg am Grat bis zum großen Kriwan saßen sie in der Sonne und sahen in die nach Südosten liegenden Täler hinein. Auf dieser Seite reichten die Matten steil hinab und über die darunterliegenden Wälder wurden manchmal Glockentöne aus den Niederungen herauf getragen.
Einmal auch ritten sie unten am Gebirge entlang bis Stefanova , stiegen in das weiße und kahle Kalkgestein des Rozsutez hinauf und drüben in der wilden Klamm wieder hinunter, immer am stürzenden Wasser entlang, über feuchte, mossbewachsene Felsstücke hinweg, um schließlich weiter unten direkt im eisigkalten Wasserlauf bis zum Ort zu waten.
Weißt du, Leonard, Lina hat weder gezögert noch Angst gezeigt, schrieb der junge Mann, ich konnte sie nicht genug bewundern, nur manchmal kommt mir das doch sonderbar vor, ich kann nicht ergründen, was sie empfindet...
Zu Anfang des dritten Sommers erhielt der junge Mann Nachricht von seinem Bruder, der ihm mitteilte, dass sich ein Käufer für das Anwesen ihrer Mutter an der Orava gefunden habe und er solle das Geschäft an Ort und Stelle abwickeln. Die Mutter stammte aus einem böhmischen Adelsgeschlecht und hatte das kleine Schlösschen geerbt. Sie hatte es einige Jahre als Sommerhaus genutzt und für den jungen Mann, seinen Bruder und ihre Freunde war es immer eine schöne Zeit in ihrer Kindheit an der Orava gewesen. Vor einigen Jahren, als ihre Mutter verstorben war, hatte das Schlösschen eine weitläufige Cousine übernommen, die vor einiger Zeit ebenfalls verstorben war.
So ritten sie beide, Lina und der junge Mann, an einem Sonntage über Terchova die steile Bergstraße hinauf zur Orava , immer durch die prächtigen Laubwälder hinan, die er seit seiner Kindheit kannte und liebte.
Das aus Stein gebaute Herrenhaus am Ende einer mit Nussbäumen gesäumten Allee hatte buntbemalte Holzgiebel und zum Wasser zu eine Terrasse, die mit starkblühenden Pelargonien eingefasst war. Es war kein großes Anwesen, aber man hätte sicher gut darin leben können. Lina lehnte es ab, und so wurde es verkauft.
Sie sagte zu mir, es würden zu viele Menschen drum herum laufen, und vor allem wolle sie kein offenes Feuer mehr in einem Haus und nichts, was eng macht, denn dann hätte sie doch bei ihrem Vater bleiben können. Erinnerst Du Dich an den großen offenen Kamin in der Diele, an dem wir uns abends die schaurigsten Geschichten erzählt haben, Leonard? Der Kamin hat sie erschreckt, verstehst Du das?
Von einem Teil des Geldes wollte er Lina auf der Bank von Zilina ein Konto einrichten. Vorher lies er Lina im besten Modehaus einkleiden. Sie bekam ein enges schwarzes Kleid mit einem ausgestellten Rock und cremefarbenen Spitzen am Halsausschnitt und an den Manschetten und einen breitkrempigen schwarzen Hut mit einer cremefarbenen Schleife.
Als wir über den Markt schritten, dort, wo sie sonst die Käselaibe verkauft, da gab es einen Auflauf wie bei einem Staatsbesuch, schrieb der junge Mann. Überall, wohin wir kamen, erregten wir das allergrößte Aufsehen...
An dem Sonntag darauf zog Lina ihr schönes Kleid nochmals an, nahm den jungen Mann an der Hand und sagte ihm, sie wolle seine Frau werden. Er war bestürzt aber auch hocherfreut über ihren Wunsch. Als sie durch das Portal der Kirche in Varin schritten, trieb es die Kirchgänger von ihren Bänken, ein großes Ah und Oh lief durch die Reihen. Lina zog den jungen Mann bis zum Priester, der sie anstaunte und nicht gleich verstand, was dieses außergewöhnlich schöne Mädchen von ihm wollte. Schließlich umwand er ihrer beider Hände mit seiner Scherbe und segnete sie.
Lina tat etwas sehr eigenartiges: Sie küsste mich, schrieb der junge Mann, und das im Angesicht der vielen Leute. Lina sagte, sie wolle nun ein Bettgestell für sich und mich. Ich sagte ihr, sie sei doch noch ein Kind und wir könnten warten, bis sie erwachsen sei. Nein, sagte sie zu mir, jetzt wolle sie leben wie eine Frau, ihre Zeit sei gekommen, und jetzt sei es richtig so. Ich hatte große Angst, Leonard, solange haben wir wie Geschwister gelebt, wie konnte das jetzt gut gehen?... Und außerdem, weißt du, es ist dieses Endgültige, nun können wir nicht mehr zurück...
Gestern hat Lina mich überrascht, schrieb er etwas später, einer der Schäfer sei angerannt gekommen und habe geschrien, dass seine Frau Hilfe brauche. Da sei Lina hinauf gelaufen zu der Schafherde, habe sich zu der stark blutenden Frau gebeugt und verlangt, dass ich nach Varin reite und die weiße Frau holen solle, die Frau sei unter der Geburt. Als ich mit der weißen Frau zurück kam, da lag die Frau in Decken gewickelt und in ihren Armen das Neugeborene. Oh Martin sagte Lina zu mir, oh Martin, und weiter nichts. Es ist so sonderbar, sie ist so wortkarg...
Lina muss 16 gewesen sein, als sie schwanger wurde. Wenn er jetzt von seinen Streifzügen, die er manchmal wieder bis zur Orava ausdehnte, nach Hause kam, dann saß Lina vor der Hütte und blickte ihn an. Sie war etwas schwach geworden vom morgendlichen Übelsein, aber sie klagte nicht. Er fragte sie jetzt öfter, ob sie nach Hause wolle, oder vielleicht lieber in Zilina bleiben möchte. Oder unten, in einem der Bauernhäuser an der Comba. Sie lehnte ab.
Noch lag ein schöner ruhiger Herbst über den Ebenen im Tal , aber in den Nächten wurde es jetzt schon empfindlich kalt und wenn er morgens zum Waschen an den Brunnen ging, dann lag schon eine Eisschicht auf dem Waschtrog.
Was soll ich nur tun? schrieb er seinem Freund, ich bin unruhig...
Es ist ein Junge, schrieb er später. Lina habe ihn gestillt, aber er habe immerzu geschrien. Da habe Lina das Kind in Schafwolle gewickelt und in feste Tücher und ihm dann mit einer Decke vor die Brust gebunden, damit er es in Varin zur weißen Frau bringen konnte.
Von da an blieben die Briefe aus.
Im kommenden Sommer kam Leonard nach Zilina und Varin und suchte seinen Freund. Er fand ihn nicht und auch die Lina nicht. In den Hütten der Jarowina lebte jetzt die Schäferfamilie mit ihrem Kind.
Dann erzählte man ihm in einer Gaststätte in Varin, wenn er die junge Frau meine, die oben in der Jarowina gelebt habe, dann hätte man sie vor nicht langer Zeit auf der Sandbank gefunden, dort, wo der Fluß aus dem Gebirge in die Vach fließe. Sie habe dieses schwarze Kleid getragen und sei unglaublich schön gewesen. Man habe sie zu den Nonnen gebracht und sie lebe jetzt in dem Schwesternstift in Varin. Von dem jungen Mann, den sie selbstverständlich kannten, wussten sie nichts. Allerdings sei eines Tages im Frühjahr sein Pferd aufgetaucht, herrenlos. Es stünde jetzt im Pferdestall des Schlossherrn. Vielleicht sei er auch in den Fluss gestürzt? Wenn er in die Vach gestürzt sei, dann würde man ihn niemals finden, sagten die Leute, man habe noch nie jemanden hier aus der Vach geborgen, vielleicht weiter unten, Richtung Donau, wo der Fluss zwar tiefer, aber nicht so reißend sei.
Auf der langen Fahrt nach Dresden sprach Lina so gut wie kein Wort. Leonard brachte sie zu zu ihren Eltern zurück und diese siedelten mit ihr nach Ottendorf über. Die stark befahrene Straße in Bühlau war ihnen für Lina zu gefährlich. Wenn sie sich irgendwo gezeigt hatte, waren die Leute stehen geblieben und hatten sie angestarrt oder versucht, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Außerdem wussten die Leute rings um die Schmiede von ihrem damaligen Verschwinden und waren natürlich neugierig. Wegziehen schien den Eltern das einzig Vernünftige zu sein. In Ottendorf kauften sie die Schmiede unterhalb der Wachberghöhe, und wenn meine Großmutter, ja , Lina war meine Großmutter, aus ihrem Fenster sah, dann schweifte ihr Blick über die weiten Wiesen bis hinauf in den Wald auf der Höhe, und vielleicht spürte sie dabei so etwas wie Sehnsucht...
Eines Abends, etwa sechzig jahre später,kam meine Großmutter an mein Bett, sie setzte sich zu mir, nahm meine Hand zwischen ihre Hände und sagte zu mir:
„Es war ein Knabe. Ich warte immer noch, das beide nach Hause kommen...“
Nun wusste ich, sie hatte mich an ihrem geheimen Fach am Nähschrank gesehen, vielleicht hatte sie auch gewollt, dass ich die Briefe des jungen Mannes an Leonard fand...
Wenige Tage später starb meine Großmutter. Vielleicht fragen Sie sich, ob eine ihrer Töchter oder Enkeltöchter ihre Schönheit geerbt hat. Nein, keine von uns. Ob wir es bedauern? Ich jedenfalls nicht...
 
P

Pelikan

Gast
Erst habe ich nur einen Versuch gestartet, denn ich stehe nicht so sehr auf Prosa - aber dann konnte ich nicht aufhören
und habe diese Erzählung Wort für Wort gelesen und das soll bei mir schon was heißen. Und sie hat mir absolut gut gefallen :) Mit herzlichen Grüßen, Pelikan
 
Liebe Karinina,

ich habe deine Geschichte gelesen, in der Erwatung, dass ich hier etwas Besonderes zu lesen bekomme. Und ich wurde nicht enttäuscht. Du schreibst wunderbar, nur ganz wenige Fehler, oder Formulierungen, die ich nicht so passend fand. Einmal verlierst du dich zu sehr in den Beschreibungen der Landschaft.
Es ist eine sehr schöne Erzählung, aber auch mir fehlt hier eine Kleinigkeit. Du und ich, wir wissen beide von diesem Geheimnis. Nennen wir es die "Geste" oder das "Wort" der Erleuchtung.

Sehr gerne gelesen und verstanden.

liebe Grüße

Gernot
 

sapna

Mitglied
Hallo!
Mir ist der erste Satz gleich aufgefallen:
An der berühmt-berüchtigten Staatsstraße im damaligen Bühlau, einem nordöstlichen Vorort von Dresden, auf der der gesamte Verkehr zwischen der Residenstadt Dresden, der Lausitz, dem damaligen Schlesien und Polen abrollte, befand sich vor 1900 eine weithin bekannte Schmiede
Zum einen fehlt da der Punkt. Das aber nur als Hinweis. Zum anderen ist der ziemlich verschachtelt. Den würde ich aufsplitten. Aus jedem Schachtelsatz, kann man auch gut mehrere machen.

Wahrscheinlich hatte das Exotische des Mädchens damals noch zusätzlich die Weichheit der Kindlichkeit.

Und den hier finde ich etwas schief. Da stolpert man beim Lesen auch drüber.
Vielleicht: Damals hatte das exotische Aussehen des Mädchens, noch die weiche Ausstrahlung eines Kindes. Ihr Gesicht war noch runder, die Augen neugierig ... sowas in der Art.

Ich mietete mir ein Zimmer nicht weit von der Schmiede und ich ging von da an jeden Tag dorthin und wartete, bis sie aus der Schmiede trat...“

Hier kannst du das zweit ich streichen

lang diese gereiften Schafskäse

das diese ist ein unnötiges Füllwort

es war der Kräutergeschmack von den vielen Wiesen,

von den klingt etwas ungeschickt. Würde ich durch der Kräutergeschmack der Wiesen ersetzen


Ich habs jetzt nicht bis zu Ende gelesen, dafür fehlt mir jetzt die Geduld und Konzentration. Meine Tochter quält neben mir gerade die Gitarre. Aber, du kannst herrlich beschreiben. So gefühlvoll. Einfach schön.
 

Karinina

Mitglied
danke Euch, Gernot und Sapna, für Eure sehr freundlichen Worte. Ja, ich denke, für die LL ist die Geschichte viel zu lang, aber irgendwie ging sie auch nicht kürzer. Es reißt mich beim Schreiben meistens fort...
 



 
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