Linie 13

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Wer lässt sich schon gern von Fremden anschreien? Und ich hasse sie nun einmal Menschenmassen, jene grauen, Einzelwesen verschlingenden Schlangen. Am wenigsten ertrage ich sie in Massenbeförderungsmitteln. Der muffige Straßenbahn-Geruch widert mich an und diese Düfte von Deos, der Gestank ordinären Fahrgastschweißes und die Berührung Fremder, obwohl ich für sympathische Frauen die Grenzen meiner Aura gern öffne.
Natürlich bin ich Realist und rechnete damit, dass mir in Straßenbahnen niemand zuhört. Dort werden morgens per Handy auch unverschämt laut Gespräche geführt, die ich nicht hören will. Diese unsäglichen Frühstücksgespräche, die vor Jahren Brauch waren bei Ei, Kaffee, Brötchen und hinter vorgehaltener Zeitung. Dafür scheint in heutigen Einfamilienhäusern offenbar kein Bedarf mehr zu bestehen.
Damals beim Frühstück habe ich mich wenigstens noch gestritten. Mit Elke. Zumeist um Geld. Als Einzelhändler waren meine Umsätze bescheiden. Aber es reichte für die Raten für unser Haus, ausreichend Essen und Trinken und für einen dreiwöchigen Urlaub pro Jahr an der holländischen Nordsee.
Elke fing bei mir als kaufmännischer Lehrling an. Im Lagerraum kamen wir uns näher. Vor dem Teigwaren-Regal.
24 Jahre später schrie sie mich beim Frühstück an, sie habe die ewige Streiterei satt. Als ich abends aus dem Laden kam, hatte sie ihre Sachen gepackt. 15 Jahre ist das jetzt her. Sie lebt schon lange bei ihrem Autohändler. BMW-Vertragswerkstatt. Teure Autos für Reiche. Sie arbeitet mit im Verkauf.
„Ich finde, überall zählen nur noch Geschäfte. Der Mensch, seine Zeit, seine Empfindungen, alles nur noch Ware, Ware, nichts als Ware. Die Erde ist ein riesiger Supermarkt“, schrie ich in den Straßenbahnwagen und schlug mir mit der geballten Faust auf die Oberschenkel.
Mir gegenüber saß eine von diesen total schwarz Gekleideten. An Ohren, Augenbrauen und Nase gepierct, die langen Haare zur schwarzen Wolke aufgetürmt, Augen schwarz umrandet, Lippen schwarz geschminkt. Obwohl sie älter aussah, schätzte ich sie auf höchstens 25. Ihr Handy hatte sie leise fluchend in ihre schwarze Lederhandtasche gesteckt. Vermutlich war der Akku leer.
Blinzelnd sah sie mir in die Augen.
„Is ja gut, Opa!“ meldete sich zwei Sitzreihen vor mir ein junger Schnösel und wandte sich sofort wieder seinem Handy zu. „Ach, hier spinnt gerade son Weltverbesserer-Opa. Der Jüngling, der die Form seiner zum Hahnenkamm gegelten Haare in regelmäßigen Abständen mit beiden Händen überprüfte, telefonierte mit seiner Liebsten. „Ich dich auch“, murmelte er. Das konnte nur die Antwort auf ein längeres Liebesgeständnis sein, denn das Lächeln des Typen war unübersehbar das eines genießenden Besitzers.
„Menschen sind keine Verkaufsobjekte. Sie brauchen Zeit, Zeit und Liebe, Liebe, Liebe!“ Peinlich war mir, dass sich meine Stimme beim dritten Mal Liebe überschlug. Ich verschluckte mich und heftiger Husten trieb mir Tränen in die Augen.
Die meisten Fahrgäste der voll besetzten Bahn stierten desinteressiert vor sich hin.
Zwei ältere Frauen, die neben meinem Sitz standen, blickten auf mich herab und tuschelten.
„Stimmt ja, was er sagt. Aber muss er das unbedingt hier rausposaunen. Und auch noch so laut. Dem hört wahrscheinlich sonst keiner zu. Ich hab mal gelesen, Leute, die grundlos in der Öffentlichkeit rumbrüllen, sind ziemlich einsam.“
„Menschen brauchen menschliche Anerkennung. Echte Anerkennung. Keine falschen Komplimente von Vertretern, die ihnen was andrehen wollen.“ Ich bemühte mich um einen seriöseren ruhigeren Ton.
„Mensch, kannste nich die Fresse halten!“ knurrte mich eine Männerstimme von hinten an und ihr Besitzer blies mir dabei seine Alkoholfahne über die Schulter.
Die schwarz Gekleidete mir gegenüber setzte sich plötzlich aufrecht hin. „Er sagt dir doch die Wahrheit. Aber das geht wohl nicht in deine besoffene Birne. Wa?“
Unwillkürlich nickte ich. Und die Schwarze beugte sich vor, tätschelte mir den Oberschenkel und gewährte Einblicke in den weiten Ausschnitt ihres T-Shirts.
„Die meisten hier denken nur ans Geld. Wie sie es verdienen oder klauen und ausgeben können.“ Raunte ich ihr verschwörerisch zu.
Sie lächelte. „Wärste jünger, könntest du mit in der Wohngemeinschaft wohnen. Bei uns gehen nicht alle in Schwarz. Neh, sind ein ziemlich bunter Haufen. Bin mit 26 die Älteste. Könnten nen Handwerker brauchen.“
„Neh, tut mir Leid. Ich war Einzelhändler. Hatte einen Tante-Emma-Laden, obwohl ich Onkel bin. Die Kinder, die bei mir Süßigkeiten kauften, nannten mich immer Onkel Kurt. Kurt Käsbach ist mein Name.“
„Waltraud, genannt Walli. Muss jetzt aber aussteigen.“
„Ich auch“, log ich.
Seitdem ich von Rente lebe, fuhr ich jeden zweiten Donnerstag wenigstens zweimal mit der 13 von Endstation zu Endstation. Am Freitag nahm ich die Linie 14. Mehr als 14 Linien gibt es in der Stadt nicht. Jeden zweiten Samstag begann ich wieder mit Linie 1.
Die Bahn hielt. Ich stieg aus und stellte mich Waltraud in den Weg. „Sollen wir irgendwo einen Kaffee trinken?“
„Von mir aus. Im Chaoseck? Is gleich hier, ne Straße weiter.“
In der kleinen dunklen Eckkneipe, roch es nach Zigaretten-Qualm und Kaffee. Die wenigen Gäste und die Frau hinter der Theke trugen schwarze Klamotten und Piercings an Ohren, Augenbrauen, Nase und vermutlich auch an intimeren Stellen.
Mit meiner senioren-beigen Hose und dem gleichfarbigen Hemd kam ich mir vor wie ein Exot. Dabei wurde ich weder angestarrt noch belächelt.
„Zwei Kaffee!“ rief Waltraud, ging an einen der schwarz gelackten Stehtische, nahm ein Päckchen Tabak aus der Handtasche und begann sich eine dünne Zigarette zu drehen. Ich stellte mich zu ihr. Als die Barfrau uns zwei Becher Kaffee auf den Tisch schob, versicherte ich hastig: „Die zahl ich!“
Die Barfrau nickte kurz. „Soll ich ein bisschen Licht machen?“
Waltraud zuckte mit den Achseln. „Von mir aus.“
Die Barfrau ging zum Fenster und zog ein verstaubtes Rollo halb hoch.
Das Mobiliar und die schwarz getünchten Wände sahen jetzt nur noch schmutzig grau aus.
Waltraud räusperte sich lange. „Weißte, ich hatte auch nen Onkel. Onkel Klaus. Der is mit mir immer aufn Spielplatz gegangen. War auch Rentner und wohnte oben unterm Dach in unserm Haus im sechsten Stock. War gar nicht mein richtiger Onkel. Tischler war er und hat meiner Mutter oft was in der Wohnung repariert. Umsonst.“
„Und dein Vater?“
„Abgehaun, als meine Mutter mit mir im achten Monat schwanger war. Fühlte sich nicht, sagt meine Mutter, erwachsen genug, um richtig Vater zu sein. Hab ihn ein bis zwei Mal im Jahr gesehn. Lebt nich mehr in Deutschland.“
Waltrauds leiernde Stimme fiel mir jetzt erst auf. Sie drückte ihre halb aufgerauchte Zigarette im Aschenbecher aus, legte die Hand auf meine und fragte leise, warum ich denn in der Bahn so schreie.
„Na, vor allem, weil der Mensch mehr ist als einer, mit dem man nur Geschäfte macht.“
Waltraud kam um den Tisch herum, stellte sich neben mich, legte mir einen Arm um die Schulter, drückte mich an sich und streichelte behutsam meinen Arm.
Dann schüttelte sie den Kopf, ließ mich plötzlich los, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und ging langsam zurück auf die andere Seite des Tisches.
„Oh, du hast deine ganze Schminke verschmiert!“
„Macht nix.“ Sie nahm einen Bierdeckel, schrieb ihre Anschrift darauf und schob ihn mir über den Tisch.

Heute sitze ich schweigend auf meinem Platz in der Bahn und lasse mich nicht von Leuten stören, die lauthals mit dem Handy telefonieren. Eigentlich wäre an diesem Samstagmorgen die Linie 1 wieder dran. Aber die hält nicht vor Waltrauds Wohnung.
 



 
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