Linie 2 - Endstation Tod

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Tagtraumreise durch eine versunkene Stadt...

Diese Stadt gibt es nicht mehr. Ihre Häuser sind abgerissen und an ihrer Stelle andere neu erbaut. Die Straßenbahn ist stillgelegt, die Identität der Stadt ausgewechselt.

HAUPTBAHNHOF: Ich steige in die Zwei. Sie ist eine von noch zwei Linien. Wir rollen in die Unterstadt und ohne Halt an einer Privatklinik vorbei. Oma Erna wird hier einmal sterben. Sie ist eine Oma zweiter Klasse, nicht vorzeigbar in ihren alten Röcken. Die Kinder rufen ihr "Hexe" nach. Mein Vater hat sie in einer Baracke abseits von unserem Haus untergebracht. Wenn sie sich für eine Konditorei fein macht, benutzt sie die Brennschere. Ich habe einmal gesehen, wie sie die Brennschere auf der glühend heißen Ofenplatte erhitzt. Wenn sie sie dann benutzt, riecht es nach versengtem Haar. Eines Tages wird Oma Erna auf die heiße Ofenplatte fallen und nachts allein in der Klinik sterben. Ich werde sie kaum gekannt haben.

HAUPTPOST: Hier fängt das Geschäftsviertel an. Hinter der Brücke steht das älteste Hochhaus der Stadt. Der Fluss stürzt neben der Brücke einen Katarakt hinunter. Auf und neben der Brücke ist es so laut, dass man kein Wort verstehen kann. Und es stinkt gewaltig: die Abwässer von Hütte und Stahlwerk.

DENKMAL: Er ist nicht der Gründer der Stadt, aber er schaut von seinem Sockel, als wäre er es. Ein Fürst in seinem Reich - Königreich Stumm. Ein Bankhaus steht im Schatten der dröhnenden Hochöfen auf dem Hügel. Zwischen den hohen runden Türmen mit ihren ewigen Feuern und dem Walzwerk auf der anderen Seite kommen langsam schmutzig gelbe Trolleybusse heruntergefahren. Es gibt nur ein Kaufhaus. Meine richtige Oma geht in ein kleines Haus mit einem Tabakladen. Sie führt daheim die Haushaltskasse und sagt zu Opa: "Ein Laster darfst du auch haben." Sie vergisst nie, Schnitttabak aus der Stadt mitzubringen. Sie sagt über den Tabakhändler und seine Leute: "Es sind Juden. Sie sind zurückgekommen." Wir fahren steil bergauf.

MARIENKIRCHE: Sie ist wuchtig, groß wie ein romanischer Dom, und ihre Fassade und das Dach starren vor Schmutz. Zentimeterdick der graubraune Eisenhüttenstaub. Der evangelische Dom ist genauso groß, steifleinen gotisch und steht unterhalb der Marienkirche. Die konfessionelle Kluft ist fast ein Abgrund, wie später in Nordirland, nur dass keine Bomben hochgehen. Wenn die Tagesschau beginnt, werden die Glocken der Marienkirche geläutet, mit Absicht so laut, dass keiner im Viertel die Nachrichten versteht. Es geht weiter bergauf.

OBERER MARKT: Auf dem freien Platz hat einmal die Synagoge gestanden. Das Rathaus hat eine blassblaue Steinfassade. Manchmal fallen kleine Steine heraus. Eines Tages stehen wir als Gymnasiasten davor und skandieren Parolen. Der OB kommt nicht heraus. Jahre später wird er an einer Mandeloperation sterben. Man stirbt doch nicht an einer Mandeloperation. Wir fahren wieder bergab.

STADTBAD: Dahinter liegt das Stadion. Der Verein spielt vorübergehend in der Bundesliga. Bei den Punktspielen wird er auch aufgestellt. Sein Schulfreund wohnt gegenüber vom Stadtbad, in einer der Mietskasernen. Einmal habe ich die beiden in einer Grünanlage liegen sehen, auf dem Rasen, die beiden Körper in entgegengesetzter Richtung lang ausgestreckt, jeder seinen Kopf auf einer Schulter des anderen gebettet. Sie haben in ihren Himmel gesehen. Für mich kein Platz. Das Bild in mir noch da.

ENDSTATION: Wir sind noch einmal bergauf gefahren. Da ist der Waldrand, da ist die Rotkreuzsiedlung. Die kleinen Häuser sind für die Überlebenden einer Gasometerexplosion erbaut, darunter meine Großtante und meine Uroma. Ich sehe die Uroma jetzt bei der Hochzeit der Großtante. Als Fünfzigerin verheiratet sie sich ein zweites Mal und bekommt einen Stiefsohn. Er will mir die Bundeswehr schmackhaft machen, aber ich weiß schon: So ein Kerl wie er will ich nicht werden. Die Uroma ist der früheste Mensch, den ich je kennen lerne. Sie ist vom Leben erschöpft. Sie sagt fast nie etwas und sitzt still auf dem Sofa. Nimmt sie mich überhaupt als Einzelwesen wahr? Wir sind so viele. Die Großtante sagt: "Sie hat Krebs. Ich lasse sie nicht mehr operieren."


Die ewigen Feuer sind längst erloschen.
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

ein sehr schöner Text. Mir gefallen diese Parallelen von Beschreibungen der realen Stationen und den Erinnerungen, als bekäme die reale Situation einen Zoom verpasst und man kann hinter die Fassaden und in die Vergangenheit schauen - selbst bevor sie passiert ist.

Als Titel scheint mir '...Endstation Tod' ein bisschen bemüht, da kommt eine Schwere rein, wo der Text doch eher leichtfüßig melancholisch anmutet. Es geht ja nicht um Tod in Deinem Stück, eher ums Sterben, und das ist ein immerwährender Vorgang - das Vergehen. Wir selbst vergehen, während wir uns erinnern und am Ende wird alles vergangen sein. Aber das ist ein Prozess, der Tod hingegen ist so 'statisch'.

Was willst Du hiermit sagen:

Die ewigen Feuer sind längst erloschen.
?

Es klingt, als wolltest Du mit diesem Satz die Bedeutung des Gelesenen erweitern oder festzurren in die Richtung, wie Du den Text gemeint hast. Für meine Begriffe braucht es das nicht.

Liebe Grüße
Petra
 
Liebe Petra,

vielen Dank für deine Beschäftigung mit dem Text und deine Bemerkungen, die ich recht passend finde. Ja, der Titel ... Ich schrieb den Text vor bald zehn Jahren für eine inzwischen untergegangene Plattform, der ich mich in der etwas marktschreierischen Überschrift wohl angepasst haben dürfte. Immerhin könnte ich mich damit herauszureden versuchen, dass so gut wie alle im Text Vorkommenden inzwischen tatsächlich tot sind.

Die "ewigen Feuer" sind die Hochöfen, die während meiner Kindheit und Jugend dort nie ausgingen, einige Jahre nach meinem Weggang jedoch stillgelegt wurden. Sie sollen stellvertretend für das Abgebrochene und das Ins-Leere-Laufen stehen, das im Rückblick vielleicht nicht nur diese Biographie charakterisiert. Ich stimme dir jetzt zu: Unbedingt nötig ist dieser Schlusssatz nicht.

Freundlichen Abendgruß
Arno
 

anbas

Mitglied
Hallo Arno,

auch ich bin über den Schlusssatz gestolpert. Mit Deiner Erklärung ergibt er durchaus Sinn. Für mich könnte er stehen bleiben, wenn die ewigen Feuer am Anfang schon mal erwähnt werden. Dann wäre es ein nahezu perfekter Abschluss.

Insgesamt gefällt mir der Texte richtig gut!

Liebe Grüße

Andreas
 
Tagtraumreise durch eine versunkene Stadt...

Diese Stadt gibt es nicht mehr. Ihre Häuser sind abgerissen und an ihrer Stelle andere neu erbaut. Die Hochöfen sind demontiert, die Straßenbahn ist eingestellt, die Identität der Stadt ausgewechselt.

HAUPTBAHNHOF: Ich steige in die Zwei. Sie ist eine von noch zwei Linien. Wir rollen in die Unterstadt und ohne Halt an einer Privatklinik vorbei. Oma Erna wird hier einmal sterben. Sie ist eine Oma zweiter Klasse, nicht vorzeigbar in ihren alten Röcken. Die Kinder rufen ihr "Hexe" nach. Mein Vater hat sie in einer Baracke abseits von unserem Haus untergebracht. Wenn sie sich für eine Konditorei fein macht, benutzt sie die Brennschere. Ich habe einmal gesehen, wie sie die Brennschere auf der glühend heißen Ofenplatte erhitzt. Wenn sie sie dann benutzt, riecht es nach versengtem Haar. Eines Tages wird Oma Erna auf die heiße Ofenplatte fallen und nachts allein in der Klinik sterben. Ich werde sie kaum gekannt haben.

HAUPTPOST: Hier fängt das Geschäftsviertel an. Hinter der Brücke steht das älteste Hochhaus der Stadt. Der Fluss stürzt neben der Brücke einen Katarakt hinunter. Auf und neben der Brücke ist es so laut, dass man kein Wort verstehen kann. Und es stinkt gewaltig: die Abwässer von Hütte und Stahlwerk.

DENKMAL: Er ist nicht der Gründer der Stadt, aber er schaut von seinem Sockel, als wäre er es. Ein Fürst in seinem Reich - Königreich Stumm. Ein Bankhaus steht im Schatten der dröhnenden Hochöfen auf dem Hügel. Zwischen den hohen runden Türmen mit ihren ewigen Feuern und dem Walzwerk auf der anderen Seite kommen langsam schmutzig gelbe Trolleybusse heruntergefahren. Es gibt nur ein Kaufhaus. Meine richtige Oma geht in ein kleines Haus mit einem Tabakladen. Sie führt daheim die Haushaltskasse und sagt zu Opa: "Ein Laster darfst du auch haben." Sie vergisst nie, Schnitttabak aus der Stadt mitzubringen. Sie sagt über den Tabakhändler und seine Leute: "Es sind Juden. Sie sind zurückgekommen." Wir fahren steil bergauf.

MARIENKIRCHE: Sie ist wuchtig, groß wie ein romanischer Dom, und ihre Fassade und das Dach starren vor Schmutz. Zentimeterdick der graubraune Eisenhüttenstaub. Der evangelische Dom ist genauso groß, steifleinen gotisch und steht unterhalb der Marienkirche. Die konfessionelle Kluft ist fast ein Abgrund, wie später in Nordirland, nur dass keine Bomben hochgehen. Wenn die Tagesschau beginnt, werden die Glocken der Marienkirche geläutet, mit Absicht so laut, dass keiner im Viertel die Nachrichten versteht. Es geht weiter bergauf.

OBERER MARKT: Auf dem freien Platz hat einmal die Synagoge gestanden. Das Rathaus hat eine blassblaue Steinfassade. Manchmal fallen kleine Steine heraus. Eines Tages stehen wir als Gymnasiasten davor und skandieren Parolen. Der OB kommt nicht heraus. Jahre später wird er an einer Mandeloperation sterben. Man stirbt doch nicht an einer Mandeloperation. Wir fahren wieder bergab.

STADTBAD: Dahinter liegt das Stadion. Der Verein spielt vorübergehend in der Bundesliga. Bei den Punktspielen wird er auch aufgestellt. Sein Schulfreund wohnt gegenüber vom Stadtbad, in einer der Mietskasernen. Einmal habe ich die beiden in einer Grünanlage liegen sehen, auf dem Rasen, die beiden Körper in entgegengesetzter Richtung lang ausgestreckt, jeder seinen Kopf auf einer Schulter des anderen gebettet. Sie haben in ihren Himmel gesehen. Für mich kein Platz. Das Bild in mir noch da.

ENDSTATION: Wir sind noch einmal bergauf gefahren. Da ist der Waldrand, da ist die Rotkreuzsiedlung. Die kleinen Häuser sind für die Überlebenden einer Gasometerexplosion erbaut, darunter meine Großtante und meine Uroma. Ich sehe die Uroma jetzt bei der Hochzeit der Großtante. Als Fünfzigerin verheiratet sie sich ein zweites Mal und bekommt einen Stiefsohn. Er will mir die Bundeswehr schmackhaft machen, aber ich weiß schon: So ein Kerl wie er will ich nicht werden. Die Uroma ist der früheste Mensch, den ich je kennen lerne. Sie ist vom Leben erschöpft. Sie sagt fast nie etwas und sitzt still auf dem Sofa. Nimmt sie mich überhaupt als Einzelwesen wahr? Wir sind so viele. Die Großtante sagt: "Sie hat Krebs. Ich lasse sie nicht mehr operieren."


Die ewigen Feuer sind längst erloschen.
 
Vielen Dank, Andreas. Dein Rat ist auf fruchtbaren Boden gefallen, ich habe die Hochöfen jetzt auch eingangs erwähnt.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 



 
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