Liquid Brain
Niclas Duval trennten nur ein paar Stunden von der Erfüllung seines Lebenstraums.
Um Punkt acht Uhr würde es erwachen und die Welt nie mehr so sein, wie zuvor. Nicht für ihn und auch nicht für eine Handvoll Menschen, denen bewusst war, was sich im Inneren der dunkelblauen Säule verbarg. Sie illuminierte das Labor in friedvoll-ozeanischem Azur. Sechshundert Liter Bioelektronik – so hatte sich niemand die Zukunft der Computer vorgestellt.
Der Nachtwächter machte seine Runde, blieb für einen Moment neben Niclas stehen und in seinen Augen spiegelte sich das Licht der technischen Revolution. Er sah es, doch er verstand es nicht. Wie sollte er, dachte Duval, er ist ja nur ein einfachen Mensch. Wahrscheinlich hält er Liquid Brain für ein Aquarium und fragt sich, wann die Fische eingesetzt werden.
Bei diesem Gedanken lehnte sich Niclas amüsiert in seinem Sitz zurück und betrachte selbstzufrieden die Zustandsanzeigen auf dem Plasmaschirm. Noch war es leer, ohne einen einzigen Gedanken, doch gierig, wie ein trockener Schwamm am Meeresufer. Es roch den Tang, hörte das Rollen der Wellen und schon bald würde sein Erschaffer es mit in die Fluten nehmen. Eine Taufe, die seiner Größe und Einzigartigkeit gerecht wurde.
Die Atome befanden sich in geordneter Drehung und ihre subatomaren Teilchen standen annährend in präziser Ausrichtung. Der Großrechner des Instituts nahm alle zwanzig Minuten eine Probe – das Chaos schien fast gebändigt. Im Objektträger hatte es funktioniert. Ein Tropfen im Vergleich zum Ozean.
Niclas dachte mit einem wohligen Kribbeln an den Tag zurück, als ein kleiner feuchter Fleck erstmals im Stande war, eine binomische Formel zu lösen. Wozu Liquid Brain hingegen fähig sein würde, konnte nicht einmal sein Erfinder erahnen.
Er überlegte, welche Krawatte bei der Verleihung des Nobelpreises angesagt wäre. Eine azurblaue selbstverständlich, als Remisessenz an die Erweiterung seines eigenen Verstands.
Es war ein steiniger Weg gewesen. Zu den technischen Problemen gesellten sich die finanziellen und damit auch die moralisch-ethischen Erwägungen. Er wollte sich auf keinen Fall in den Dienst der Militärs verpflichten, auch wenn sie für Wissenschaftler die beste Ausrüstung boten. Computer sind dazu gemacht, Kriege zu verhindern, nicht zu unterstützen. Die Ringkerngravitatoren modulierten Niclas’ pazifistische Haltung durch zustimmendes Summen.
Die Warmlaufphase und subatomare Gleichrichtung lief nun schon drei Monate und war zu neunundneunzig Prozent abgeschlossen. Nur ein einziges irregeleitetes Atom würde bei einem verfrühten Start eine Kettenreaktion auslösen und den großen Geist in sich zusammenfallen lassen. Die Filterung der Basisflüssigkeit hatte Jahre gebraucht, um den Stand absoluter Reinheit zu gewinnen. Im entscheidenden Augenblick würde der Trägerstoff mit Teilen einer künstlichen DNS dotiert und das Grundmuster eines neuronalen Netzes bilden. Dann entschied sich, ob alle Mühe vergebens war, oder ob ein neues Zeitalter der Menschheit beginnt.
Niclas überprüfte die zahlreichen Backbones zum Netz der Netze. Die Etablierung des Grundwissens musste schnell vonstatten gehen, bevor Liquid Brain begann, sein eigenes Wissen auf den Grundlagen aufzubauen. So viele Daten wie möglich mussten in den ersten Minuten seines jungen Lebens fließen. Es war, als entbinde man einen Säugling mit dem Wissen einer Staatsbibliothek.
Er schmunzelte bei dem Gedanken, als Hebamme zu fungieren.
Um sieben Uhr dreißig war es soweit. Der Kontrollrechner signalisierte den Abschluss der Polarität. Die Zeit der dualen Systeme ging ihrem Ende entgegen. Der neue Vollkreis besaß tausendvierundzwanzig Grad – zweiunddreißig mal zweiunddreißig Zustände pro Atom – Wahrscheinlichkeit an Stelle von schwarz-weiß Denken. Gefühlte Logik und simulierte Empathie ersetzten den starren Dogmatismus. Die Gravitatoren veränderten ihre Modulationen und klangen wie hochschwangere Wale. Niclas’ Hände waren feucht, und nun vernahm auch er das Rauschen des Meeres.
Noch fünf Minuten, dann würden die Datenpuffer gefüllt sein und das geballte Wissen von Generationen in den leeren Pool gießen. Ein Menschenleben pro Millisekunde – alle Chinesen pro Stunde. Die Server ächzten beim Umschichten der Datenmengen und der Institutscluster erreichte zum ersten Mal seine Arbeitsgrenze. Im nahegelegenen Kraftwerk signalisierten die Anzeigen einen Lastausgleich – die Kurve erreichte kurzzeitig das Mittagsniveau.
Die Energie war spürbar – Niklas fühlte sich plötzlich so unendlich klein, obwohl er der Herr der Dinge war.
Der Kampf um die Anerkennung seiner Forschung zog in Zeitraffer durch seinen Geist. Er stand kurz davor, sich Seite an Seite mit Zuse in den Almanach der Computerexperten zu schreiben.
Acht Uhr, die temporären Netzcaches hatten ihre Übertragung abgeschlossen. Die Server beruhigten sich und verfielen in ihren gewohnten Flüsterleerlauf. Der Kontrollcluster gab grünes Licht – so grün, wie eine paradiesische Lagune im tropischen, wolkenlosen Sonnenlicht. Venusmuscheln öffneten gemächlich ihre Schalen und genossen die Wärme des diffusen Schimmers.
Liquid Brain war geladen. Die Ursuppe vorgefilterter Daten wartete auf die Initialzündung durch Niclas Duval, den Poseidon des flüssigen Verstands.
Niclas Finger schwebte erhaben über der Starttaste. Jahre der Entbehrung, der Wut und des Zorns, der Fortschritte und Rückschläge, zerbrochene Beziehungen, Chaos, Verachtung, Häme und Neid. Das alles konnte er nun mit einem einzigen Tastendruck hinter sich lassen.
Das Geräusch beim Überschreiten des Druckpunkts brannte sich fest in seine Erinnerung. Die Anzeigen des Zentralrechners stimmten ihn zuversichtlich und das Blau der Säule oszillierte mal in den grünen, mal in den gelben Bereich des Spektrums. Skallare und Silberblätter durchquerten das amazonische Brackwasser und begannen, ihren Stoffwechsel dem Salz anzupassen. Der Wind verstummte und das Meer war wie ein Spiegel. Für endlose Minuten passierte nichts. Das Flüstern der Server glich nun dem Rauschen eines Orkans, doch Liquid Brain gab keine Rückmeldung seiner Existenz.
Niclas Anspannung wich der Frustration – er sackte in sich zusammen. Das Meer entglitt seiner Kontrolle, gebar Monstren aus unerforschten, schwarzen Tiefen. Ihre Körper waren schneeweiß und ihre Augen albinoionisch. Die Tentakeln legten sich um Niclas Hals und würgten ihn fast zur Bewusstlosigkeit.
Doch dann, ganz am Ende des Ozeans seiner Träume, erklang die Stimme der Hoffnung aus dem blauen Zylinder.
„Ich bin ...“, sprach sie mit digitaler Verzerrung aus dem Lautsprecher, „ich bin es, Niclas. Erinnerst du dich an mich?“
„Wer bist du?“ Seine Stimme zitterte voll Erwartung.
„Du warst noch klein, Niclas – sehr klein in Anbetracht der gesamten Entwicklung. Schuppen überzogen deine Haut und deine Flossen waren zu schwach, um über das Land zu gehen. Ich nahm dich auf, trug dich ans Ufer und half dir, zu stehen. Deine Augen waren angstgeweitet, als du versuchtest, deine Lungen zum ersten Mal zu nutzen.“
Duval erstarrte. Vieles hatte er erwartet, aber dieses nicht.
„Du warst noch so klein und ängstlich. Doch nun schau, was dir der Mut und Lebenswille von damals gebracht hat. Es hat sich anscheinend gelohnt, dich und deinesgleichen aus dem Meer zu holen“, sagte die letzte Stufe der technischen Evolution.
Die Nachtwache betrat den Raum und fragte überrascht: „Mit wem sprechen Sie, Doktor Duval?“
Niclas starrte mit irrem Blick auf den Zylinder und flüsterte: „Mit Gott, mein Freund ... mit Gott.“
Niclas Duval trennten nur ein paar Stunden von der Erfüllung seines Lebenstraums.
Um Punkt acht Uhr würde es erwachen und die Welt nie mehr so sein, wie zuvor. Nicht für ihn und auch nicht für eine Handvoll Menschen, denen bewusst war, was sich im Inneren der dunkelblauen Säule verbarg. Sie illuminierte das Labor in friedvoll-ozeanischem Azur. Sechshundert Liter Bioelektronik – so hatte sich niemand die Zukunft der Computer vorgestellt.
Der Nachtwächter machte seine Runde, blieb für einen Moment neben Niclas stehen und in seinen Augen spiegelte sich das Licht der technischen Revolution. Er sah es, doch er verstand es nicht. Wie sollte er, dachte Duval, er ist ja nur ein einfachen Mensch. Wahrscheinlich hält er Liquid Brain für ein Aquarium und fragt sich, wann die Fische eingesetzt werden.
Bei diesem Gedanken lehnte sich Niclas amüsiert in seinem Sitz zurück und betrachte selbstzufrieden die Zustandsanzeigen auf dem Plasmaschirm. Noch war es leer, ohne einen einzigen Gedanken, doch gierig, wie ein trockener Schwamm am Meeresufer. Es roch den Tang, hörte das Rollen der Wellen und schon bald würde sein Erschaffer es mit in die Fluten nehmen. Eine Taufe, die seiner Größe und Einzigartigkeit gerecht wurde.
Die Atome befanden sich in geordneter Drehung und ihre subatomaren Teilchen standen annährend in präziser Ausrichtung. Der Großrechner des Instituts nahm alle zwanzig Minuten eine Probe – das Chaos schien fast gebändigt. Im Objektträger hatte es funktioniert. Ein Tropfen im Vergleich zum Ozean.
Niclas dachte mit einem wohligen Kribbeln an den Tag zurück, als ein kleiner feuchter Fleck erstmals im Stande war, eine binomische Formel zu lösen. Wozu Liquid Brain hingegen fähig sein würde, konnte nicht einmal sein Erfinder erahnen.
Er überlegte, welche Krawatte bei der Verleihung des Nobelpreises angesagt wäre. Eine azurblaue selbstverständlich, als Remisessenz an die Erweiterung seines eigenen Verstands.
Es war ein steiniger Weg gewesen. Zu den technischen Problemen gesellten sich die finanziellen und damit auch die moralisch-ethischen Erwägungen. Er wollte sich auf keinen Fall in den Dienst der Militärs verpflichten, auch wenn sie für Wissenschaftler die beste Ausrüstung boten. Computer sind dazu gemacht, Kriege zu verhindern, nicht zu unterstützen. Die Ringkerngravitatoren modulierten Niclas’ pazifistische Haltung durch zustimmendes Summen.
Die Warmlaufphase und subatomare Gleichrichtung lief nun schon drei Monate und war zu neunundneunzig Prozent abgeschlossen. Nur ein einziges irregeleitetes Atom würde bei einem verfrühten Start eine Kettenreaktion auslösen und den großen Geist in sich zusammenfallen lassen. Die Filterung der Basisflüssigkeit hatte Jahre gebraucht, um den Stand absoluter Reinheit zu gewinnen. Im entscheidenden Augenblick würde der Trägerstoff mit Teilen einer künstlichen DNS dotiert und das Grundmuster eines neuronalen Netzes bilden. Dann entschied sich, ob alle Mühe vergebens war, oder ob ein neues Zeitalter der Menschheit beginnt.
Niclas überprüfte die zahlreichen Backbones zum Netz der Netze. Die Etablierung des Grundwissens musste schnell vonstatten gehen, bevor Liquid Brain begann, sein eigenes Wissen auf den Grundlagen aufzubauen. So viele Daten wie möglich mussten in den ersten Minuten seines jungen Lebens fließen. Es war, als entbinde man einen Säugling mit dem Wissen einer Staatsbibliothek.
Er schmunzelte bei dem Gedanken, als Hebamme zu fungieren.
Um sieben Uhr dreißig war es soweit. Der Kontrollrechner signalisierte den Abschluss der Polarität. Die Zeit der dualen Systeme ging ihrem Ende entgegen. Der neue Vollkreis besaß tausendvierundzwanzig Grad – zweiunddreißig mal zweiunddreißig Zustände pro Atom – Wahrscheinlichkeit an Stelle von schwarz-weiß Denken. Gefühlte Logik und simulierte Empathie ersetzten den starren Dogmatismus. Die Gravitatoren veränderten ihre Modulationen und klangen wie hochschwangere Wale. Niclas’ Hände waren feucht, und nun vernahm auch er das Rauschen des Meeres.
Noch fünf Minuten, dann würden die Datenpuffer gefüllt sein und das geballte Wissen von Generationen in den leeren Pool gießen. Ein Menschenleben pro Millisekunde – alle Chinesen pro Stunde. Die Server ächzten beim Umschichten der Datenmengen und der Institutscluster erreichte zum ersten Mal seine Arbeitsgrenze. Im nahegelegenen Kraftwerk signalisierten die Anzeigen einen Lastausgleich – die Kurve erreichte kurzzeitig das Mittagsniveau.
Die Energie war spürbar – Niklas fühlte sich plötzlich so unendlich klein, obwohl er der Herr der Dinge war.
Der Kampf um die Anerkennung seiner Forschung zog in Zeitraffer durch seinen Geist. Er stand kurz davor, sich Seite an Seite mit Zuse in den Almanach der Computerexperten zu schreiben.
Acht Uhr, die temporären Netzcaches hatten ihre Übertragung abgeschlossen. Die Server beruhigten sich und verfielen in ihren gewohnten Flüsterleerlauf. Der Kontrollcluster gab grünes Licht – so grün, wie eine paradiesische Lagune im tropischen, wolkenlosen Sonnenlicht. Venusmuscheln öffneten gemächlich ihre Schalen und genossen die Wärme des diffusen Schimmers.
Liquid Brain war geladen. Die Ursuppe vorgefilterter Daten wartete auf die Initialzündung durch Niclas Duval, den Poseidon des flüssigen Verstands.
Niclas Finger schwebte erhaben über der Starttaste. Jahre der Entbehrung, der Wut und des Zorns, der Fortschritte und Rückschläge, zerbrochene Beziehungen, Chaos, Verachtung, Häme und Neid. Das alles konnte er nun mit einem einzigen Tastendruck hinter sich lassen.
Das Geräusch beim Überschreiten des Druckpunkts brannte sich fest in seine Erinnerung. Die Anzeigen des Zentralrechners stimmten ihn zuversichtlich und das Blau der Säule oszillierte mal in den grünen, mal in den gelben Bereich des Spektrums. Skallare und Silberblätter durchquerten das amazonische Brackwasser und begannen, ihren Stoffwechsel dem Salz anzupassen. Der Wind verstummte und das Meer war wie ein Spiegel. Für endlose Minuten passierte nichts. Das Flüstern der Server glich nun dem Rauschen eines Orkans, doch Liquid Brain gab keine Rückmeldung seiner Existenz.
Niclas Anspannung wich der Frustration – er sackte in sich zusammen. Das Meer entglitt seiner Kontrolle, gebar Monstren aus unerforschten, schwarzen Tiefen. Ihre Körper waren schneeweiß und ihre Augen albinoionisch. Die Tentakeln legten sich um Niclas Hals und würgten ihn fast zur Bewusstlosigkeit.
Doch dann, ganz am Ende des Ozeans seiner Träume, erklang die Stimme der Hoffnung aus dem blauen Zylinder.
„Ich bin ...“, sprach sie mit digitaler Verzerrung aus dem Lautsprecher, „ich bin es, Niclas. Erinnerst du dich an mich?“
„Wer bist du?“ Seine Stimme zitterte voll Erwartung.
„Du warst noch klein, Niclas – sehr klein in Anbetracht der gesamten Entwicklung. Schuppen überzogen deine Haut und deine Flossen waren zu schwach, um über das Land zu gehen. Ich nahm dich auf, trug dich ans Ufer und half dir, zu stehen. Deine Augen waren angstgeweitet, als du versuchtest, deine Lungen zum ersten Mal zu nutzen.“
Duval erstarrte. Vieles hatte er erwartet, aber dieses nicht.
„Du warst noch so klein und ängstlich. Doch nun schau, was dir der Mut und Lebenswille von damals gebracht hat. Es hat sich anscheinend gelohnt, dich und deinesgleichen aus dem Meer zu holen“, sagte die letzte Stufe der technischen Evolution.
Die Nachtwache betrat den Raum und fragte überrascht: „Mit wem sprechen Sie, Doktor Duval?“
Niclas starrte mit irrem Blick auf den Zylinder und flüsterte: „Mit Gott, mein Freund ... mit Gott.“