Löschpapier

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Tiefgang

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Löschpapier

Am Hinterhof steht ein Sandkasten in dem Kinder Burgen bauen. Mein kleiner Bruder sieht glücklich aus. Er schaufelt Sand in den Nacken von Sara und grinst stolz. Erst heult sie, dann lachen beide. Mein Blick bleibt ernst und fern, während ich meine Geschichte im Schnelldurchlauf rückspule. Es sind nur Brandlöcher erkennbar. Nur Bruchteile lang. Vereinzelt lache ich.

An mir rauscht ein Stück altes Zeitungspapier vorbei, ein Fetzen, getragen vom Wind, vorbeigeweht. Alles geht so schnell vorbei, ich muss weiter, denke ich; weitermachen, irgendwie. Ich hebe den Schnipsel auf, schiebe ihn in die Tasche neben dem Revers und mich in den knattrigen Opel Kadett. Mein Motor verbrennt uralten Treibstoff, es flimmert in der Körpermitte.

Ich habe mich extra aufgehübscht. Ich will besser als der zerkratzte Weißlack des Opels aussehen. Ein neues Hemd habe ich gekauft, der Grauschleier war durch kein Mittel der Welt mehr zu beseitigen. Leider, denke ich, leider kann man nicht alles einfach so ersetzen. Währenddessen mischt das Autoradio seine eigenen melancholischen Töne in meinen Blick.
Ernst und fern.

Am Hinterhof des Spitals werden Bahren rein- und rausgeschoben. Wie Pakete am Fließband, defekte Menschenware mit Restlaufzeit rein und unter Garantie wieder raus, ohne Zustandsgewährleistung. Ich schüttle dem Mann in Weiß, der für dich zuständig ist, die Hand. 3. Stock, an der Aufnahme vorbei, Tür 324, sagt er. Das Ding in meiner Brust beginnt zu brennen.

Ich habe mich extra auf diesen Moment vorbereitet, ich wollte gefasst sein. Bevor ich noch Hallo sagen kann, stößt ein schmerzverzerrtes Stöhnen zu mir vor. Du liegst da, in Embryonalstellung. Und ich erinnere mich an unsere Beziehung zueinander. Am liebsten würde ich mich jetzt auch zusammenkauern. Ich muss stark sein und denke dabei an meinen Bruder. Du musst stark sein, sagst du und blickst mich an.
Ernst und nah.

Vorsichtig greife ich deine dünn gewordene Hand. Aus Angst sie zu zerbrechen drücke ich nur schwach. Am liebsten würde ich mich jetzt fest daran klammern. Du siehst blass aus im Neonlicht. Deine Gesichtszüge sind klarer geworden, die Wangenknochen flankieren die schwarzen Gräben um deine Augen wie zwei Wachtürme, die wissen, dass sie dem näher rückenden Feind nichts mehr entgegenzusetzen haben.

Ich setze mich auf dein Bett und verkrampfe innerlich. Deine Hand krampft die meine. Wir strengen uns beide an. An den weiß glasierten Keramikfliesen kondensieren Schweißtropfen. Bitte heul nicht, denke ich, bitte. Das bisschen Wasser hilft doch auch nicht gegen die vielen Brandherde im Zimmer. Mir stockt der Atem. Ich werde nie wieder frei durchziehen können – die Luftzufuhr würde den Brand beschleunigen, denke ich.

Alles wird relativer: Der Sand im Stundenglas, der Brocken formt, das stechende Licht, das Lücken in die milchige Eisschicht zwischen Illusion und Tatsachen schmilzt, die letzten Wochen, die sich zu einer Linie falten, der Punkt, der übrig bleibt. Mir wird warm, in meiner Hand und meiner Körpermitte.
Mir wird wärmer.

Alles geht in Flammen auf. Mein Blick leuchtet. Er reflektiert bloß. Als ich das Zimmer verlasse, bin ich geknickt und gebrandmarkt. Im Wagen greife ich den Fetzen Papier und beginne zu schreiben, um das Brennen zu lindern.
 



 
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