Loser2001

mortisha

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Es ist total verrückt. Ich kann nicht schlafen. Ich kann seit drei Nächten nicht schlafen. Seit gestern Morgen habe ich vermieden, in den Spiegel zu sehen. Ich muss morgen früh um sechs zur Arbeit. Es ist jetzt halb zwei. Die Haustür ist schon abgeschlossen, als ich mich durchs Treppenhaus nach draußen schleiche. Ich muss keinen Kaffee trinken, ich bin fit. Ich fahre durch die dunkle, leere, freundliche Stadt, aus ihr heraus, zu dem einzigen Laden, der jetzt noch geöffnet hat, mitten in der Woche, und wo sie laute Musik spielen, bis im Morgengrauen die Frühschicht kommt. Ich bin froh, der morastige Parkplatz ist leer, das heißt, es werden nur wenige andere da sein, so ein paar Loser wie ich eben. Ich bestelle mir ein Wasser und gehe in den Nebenraum. Hier ist es dunkel, violettgrüne Lichtkegel einmal ausgenommen. Es ist angenehm dunkel und laut. Ich sitze im Schatten, zünde mir eine Zigarette an und spüre, wie mit jedem Akkord ein Teil meiner Unruhe von mir abfällt. Wie Regen tropft sie auf den Boden und umgibt meine Füße wie eine dunkle Lache. Jede Stunde, die ich nicht schlafe, spricht zu mir, bevor sie vergeht. Was für ein Versager, sieh dich einmal an. Wenn es sie wirklich gäbe, könnte sie lachen. Aber es gibt sie nicht, also lache ich. Sie sammeln sich alle dort zu meinen Füßen, jede Minute, jede Sekunde Schlaflosigkeit vergegenständlicht sich, wird sichtbar, wehrlos, stirbt. Das Pärchen links neben mir ist unangenehm glücklich, die Geräusche und Bewegungen sind so überflüssig, ich kann sie nicht gebrauchen. Es umgibt sie eine knisternde Aura. Sie macht aggressiv. Sie stehen auf und gehen.

Der Bass dröhnt tief im Darm, das ist richtig. Ich liege wie mein eigener Tod in der Ecke, es ist gut. Die Musik ist wie eine Injektion, ich fliege auf einer fetten Linie durch die Nacht, ich bin so surreal, aaaah. Bei Gelegenheit kommt der Kick. Es sind die ersten Takte eines Songs, die mich überwältigen. Meine Knie zittern und mein Herz flackert wie eine Kerze am offenen Fenster. Ich bin bewegungsunfähig, nur meine Knie zittern wie vor einem Sprung vom Zehn-Meter-Brett. Von den Haarspitzen bis zu den Nägeln meiner Zehen bin ich voll mit diesem Lied, jede meiner Zellen vibriert, und ich wünsche mir, ich könnte schreien, damit ich nicht meinen Kopf in die Luft sprengen muss. Ich. Bin. Verliebt. Man muss nicht verliebt sein, um das hier zu fühlen. Es ist mir egal, es ist mir scheißegal. Das hier hält nicht so lang wie eine neue Liebe. Aber es ist ehrlicher. Der Song verrät mir deutlich, dass er mich nicht liebt, sondern ich liebe ihn. Ich würde mein Leben geben, wenn er es wollte, aber er will es nicht. Er weiß nichts von mir, nichts weiß er. Er ist nur da und setzt diese oszillierenden Massen Chemie frei in mir. Das ist ehrlich. Damit kann ich leben. Der Rausch hält etwa bis kurz nach halb fünf. Meine Ausdauer lässt langsam nach. Um halb sechs fahre ich. Arbeiten. Mit einem Song im Kopf und etlichen Megahertz fremder Substanzen im Blut. Heute nacht werde ich schlafen.
 



 
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