Luisa

Anna

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Luisa stapfte durch den Schnee. Sie ging hinter einer Freundin, die oben auf dem Berg, den man noch fast hätte Hügel nennen müssen, wohnte. Luisa wusste immer noch nicht genau, weshalb sie eigentlich zu Silvy nach Hause ging. Oder weshalb sie das ausgerechnet an jenem Tag tat, denn es schneite anhaltend, was den Aufstieg durch die tiefe Schneedecke nicht gerade erleichterte.
Schweigend gingen sie weiter. Luisa dachte nach. Sie waren von der Schule gekommen. Aber weder Luisa noch Silvy trugen ihren Rucksack. Das war seltsam. Noch seltsamer war, dass Luisa sich gar nicht erinnern konnte, dass sie wirklich von der Schule gekommen waren. Sie hatte das einfach angenommen, als sie beim Blick auf ihre Armbanduhr feststellte, dass es acht Minuten vor ein Uhr Mittags war. Aber sie konnte sich an nichts von dem erinnern, was sie in der Schule gemacht hatten. Als sie Silvy danach fragte, konnte diese sich auch nicht erinnern.

Schweigend gingen sie weiter. Einfach immer weiter und weiter. Luisa hatte das Gefühl, überhaupt nicht vorwärts zu kommen. Sie kannte dieses Gefühl aus Träumen, wenn sie vor jemandem oder etwas davon rennen musste und es ihr vorkam, als würde sie auf einem Laufband rennen. Der kleine Unterschied war nur, dass sie nicht träumte und sie vor nichts flüchten musste.

Nachdem weiter unten der Schnee eher nass und schwer gewesen war, schien er mit zunehmender Höhe leichter zu werden. Luisa hatte nicht gewusst, dass man so etwas bemerken kann, während man auf einen Berg steigt. Man legt ja schon einige hundert Höhenmeter zurück, aber doch nicht senkrecht hinauf!
Aus irgendeinem Grund wunderte sich Luisa nicht sehr über die scheinbare Verwandlung der Umgebung.
Auch mit ihr schien etwas zu passieren. Anfänglich war sie eher widerwillig hinter ihrer Freundin her gestapft, jetzt aber begann sie, sich über die Wanderung durch die winterlich verzauberte Landschaft zu freuen. Sie bemerkte, wie ihre Schritte leichter wurden und dass sie überhaupt nicht tief in den leichten Pulverschnee einsank. Das wäre eigentlich auch noch etwas gewesen, worüber sie sich hätte wundern müssen...
Sie gingen.

Als Luisa das nächste Mal auf die Uhr sah, zeigte diese halb zwei Uhr an. Halb zwei Uhr Nachmittags. Obwohl mindestens eine Stunde vergangen sein musste, seit sie losgegangen waren. Eher waren es sogar zwei. Silvy setzte sich. Luisa tat es ihr nach, ohne zu überlegen, dass sie gar keine schneedichte Kleidung trug.
Der Anblick war überwältigend. Tausende von glitzernden Schneekristallen, überall verteilt. Es lagen mindestens anderthalb Meter Schnee. Für diese Region war das nicht üblich und bis vor einer Woche hatte es noch gar keinen Schnee gehabt.

Zwei Rehe tauchten bei einer Baumgruppe auf, ging langsam zu einer anderen und verschwand wieder im Dickicht. Luisa schaute sich um. Sie sah nur tief verschneite Tannen und einfach eine Riesenmenge Schnee überall. Ins Tal hinunter sah sie nicht, das mochte daran liegen, dass es noch immer stark schneite – obwohl , es war eigentlich nicht dunkel, nur oben unten, wo eigentlich Anzeichen von Häusern und Dörfern hätten sein müssen, sah sie einfach nur weiss. – oder auch daran, dass sie dort ganz einfach nichts sehen sollte. Oder dass dort einfach gar nichts war...

Sie machte sich keine Gedanken darüber, ob sie ihr Dorf je wieder sehen würde; ob es unter den Unmengen von Schnee lag oder ob es gar nicht mehr existierte.
Silvy war wieder aufgestanden und weitergegangen und Luisa bemühte sich, ihr nachzukommen.
Aus dem Nichts war plötzlich eine Strasse vor ihnen, zwar auch tief verschneit, aber trotzdem als Strasse zu erkennen. Langsam konnte Luisa die Umrisse eines Dörfchens erkennen. Ein Kirchturm zuerst, dann immer mehr Häuser, aber alles immer nur als Umriss, durch den noch immer fallenden Schnee wie in eine Daunendecke gehüllt.

Sie folgten der Strasse. Minutenlang, eine Viertelstunde, eine halbe Stunde. Und das Dorf war immer gleich weit weg. Es war einfach nur unheimlich, und noch unheimlicher wurde das Ganze als Luisa bemerkte, dass Silvy allmählich zu verschwinden schien. Wie auf einem schlechten Foto verschwammen ihre Umrisse, wie auf einem überbelichteten Film verblasste ihre Figur immer mehr und mehr bis am Schluss nicht mal mehr ihre Fussspuren zu sehen waren. Luisa bekam nun doch langsam Angst. Der Rest, das „unsichbare“ Dorf unten im Tal, das einfach nicht näherkommende Dorf oben auf dem Berg, dass liess sich ja vielleicht noch mit dem starken Schneefall erklären. Aber das Verschwinden ihrer Freundin konnte sie sich nicht erklären.
Sie setzte sich in den Schnee und überlegte. Runter wollte sie nicht, ihre Fussspuren waren längst zugeschneit, sie den Weg nie gefunden. Also rauf. Dort war das Dorf, das konnte sie sehen. Luisa erhob sich und ging weiter. Sie sah auf ihre Armbanduhr, die aber nicht mehr funktionierte.

Das Mädchen wurde müde. Sie konnte kaum mehr die Augen offen halten, geschweige denn die Beine heben. Sie liess sich in den Schnee fallen und schlief ein. Kurz bevor sie in einen tiefen Schlaf fiel, fuhr es ihr durch den Kopf: „Ich werde das Dorf nie erreichen.“

Nein. Sie sollte das Dorf nie erreichen.
Im Frühling, als der Schnee zu schmelzen begann und die Strasse wieder befahrbar war, fand ein Autofahrer die tiefgefrorene Leiche eines jungen Mädchens einige Meter neben Strasse. Der Schnee hatte sie erst jetzt freigegeben, sie war in ihrer liebsten Jahreszeit gestorben.
 



 
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