Lusche, Flasche, 1,2,3

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neonovalis

Mitglied
Lusche, Flasche, 1,2,3​

Er hockt nächtens vor seinem Computer. Der Roman muss bald fertig sein. Die Maloche der letzten zehn Monate soll nicht umsonst gewesen sein. Es kribbelt. Es muss heraus. Schöner als Sex.
Sabinchen hat er lange nicht mehr gesehen. Was soll`s! Wen Sascha später mal heiratet, weiß er jetzt noch nicht. Die ganze Energie geht für die Handlung drauf. Davon lässt er sich so anstecken, dass er in einem Rutsch durchschreibt! Sein Zimmer ist exact eingerichtet, mit Schreibtisch aus Teakholz, dunkelblauem Drehstuhl, dunkelbraunem japanischen Bett, hellem Kiefernholzschrank und einem niedrigen Tisch inmitten einer beigen Sitzgruppe. Sascha arbeitet noch drei Stunden konzentriert durch. Bringt das nächste Kapitel zum Abschluss. Dann geht er schlafen.-

Um sechs schrillt der Wecker. Vier Stunden Schlaf müssen reichen! Sascha flitzt ins Badezimmer. Mit der Morgentoilette ist er in fünfzehn Minuten fertig. Dann `runter in die Küche – seine Eltern sind nicht da.
Im Urlaub.
Den Kaffee hat er sich schnell aufgesetzt. Die grell-heiße braune Brühe kratzt ihn auf. Drei Minuten später hängt er am Handy:
„Sandra! Was machst du heute abend?“
„Weiß nicht. Was machst du?“
„Ich geh` in den Intershop. Kommst du mit?“
„Wann?“
„Um zwölf?“
„Alles klar! Ich bin dabei!“
„Bis dann!“
„Ja, bis dann!“
Während er noch ihre erfreute Stimme vernimmt, macht er schon den Jogging-Termin mit Thomas klar. Der ist sein Kumpel seit dem fünften Schuljahr. Sascha vereinbart noch schnell einen Termin mit Bettina, seiner Literaturagentin. Dann schlüpft seine große, drahtige Gestalt in seine Joggingklamotten. Um Punkt acht ist er mit seinem Freund auf der Piste. Sascha hängt ihn ab. Thomas kennt das schon. Sascha war immer der erste.
Im Deutschunterricht.
In Literatur.
Im Sport.
Bei den Mädels.
Sascha wartet am Parkplatz auf ihn.
„Na, Sportsfreund? Wieder Weltmeister?“
Sascha lacht.
„Du kennst mich ja.“
„Ja. Vor allem deine Unarten.“
Sie lachen beide. Nach dem Duschen gehen sie noch auf einen Kaffee ins „Treibsand“, einem kleinen Café am Bochumer Stadtpark.
„Und sonst so?“
„Läuft ganz gut. Ich bin jetzt im zweiten Lehrjahr in der Tischlerei. Viel Auslieferungen und so. Und selbst?“
„Bin zufrieden. Bettina hat einen Verlag an der Hand. In zwei Wochen wollen sie das Manuskript.“
„Und Sabine?“
Sascha schaut kurz zu Boden.
„Mit der hab´ ich vor drei Wochen das letzte Mal telefoniert.“
„Habt ihr Probleme?“
„Weiß ich nicht.“
Sascha will nicht drüber reden. Sie spielen dann noch etwas Schach – Sascha gewinnt natürlich! – verabreden sich zum nächsten Jogging-Termin und trennen sich.-

Grünlichblau schimmert die Nacht. Schreiendgelb erstrahlt die Neonreklame. Sascha nimmt es in sich auf. Eine schwarze Katze rennt fauchend über die Straße. Ab und an schleichen ein paar Autos vorbei. Sascha ist jetzt am Intershop. Er öffnet die Tür und geht `rein. Drinnen ist das Licht gedämpft. An der Wand hängt immer noch das Bild von Doktor Mabuse. Heute schaut er noch etwas strenger drein als sonst. Sandra ist schon da. Sie sitzt auf einem schwarzen Hocker an der Theke. Strahlt ihn an.
„Hallo!“
„Hallo!“
Er freut sich auch. Sie küssen sich auf die Wange.
„Schön, dich zu sehen!“
„Ganz meinerseits. Wie geht´s dir denn?“
„Gut. Ich bin jetzt fast mit der Schneiderlehre fertig.“
„Ist doch wunderbar. Und dann?“
„Geht`s auf die Modedesign-Schule in Düsseldorf.“
„Mann oh Mann! Du bist ja richtig zielstrebig.“
Sie beschließen, an einen der Tische am Fenster umzuziehen. Da ist die Atmosphäre auch vertrauter...

Sascha ist echt in Zeitdruck. Er muss das Manuskript in zwei Tagen abgegeben haben. Seine Literaturagentin ruft schon ständig an und fragt nach. Sascha schwitzt vor der Tastatur.
Haut sich die Tage und die Nächte um die Ohren.
Geht kaum noch ans Telefon.
Isst im Stehen.
Da klingelt es an der Tür. Er macht auf. Es ist Sabine. Sascha ist baff:
„Mit dir hätt´ ich jetzt gar nicht gerechnet. Was machst du denn hier?“
„Dich besuchen vielleicht?“
Er küsst sie flüchtig auf den Mund. Dreht sich um. Geht die Treppe `rauf in sein Zimmer. Sabine geht hinterher.
„Hallo? Redest du vielleicht mal mit mir?“
Sascha zögert.
„Warum meldest du dich nicht?“
„Keine Zeit.“
„Wie, keine Zeit?“
„Na, ich muss doch fertig werden. Das Manuskript muss in zwei Tagen abgegeben sein.“
Er wendet sich zum Schreibtisch.
Sabine fängt an zu heulen und geht.-

Bettina macht Druck. Sascha wird fertig. Auf den letzten Drücker. Er gibt das Manuskript bei ihr ab und wartet.-

Die Herbstbäume stehen in flammendem Rot. Sie schmiegen sich an den sanft ansteigenden Hang. Von unten schimmert silbrigblau der See hinauf. Der Bochumer Stadtpark ist im Herbst das Paradies auf Erden. Sascha und Sandra gehen spazieren. Sie unterhalten sich angeregt. Sie lachen viel. Schmieden Pläne. Nie war`n sie sich so vertraut.
„Du bist wirklich meine beste Freundin. Du bist immer da, wenn ich dich brauche.“
„Ja, danke. Dito.“
Er schaut sie an.
Küsst sie.-

Das Telefon reißt ihn aus dem Schlaf. Schlaftrunken nimmt er den Hörer ab.
„Dein Roman kommt `raus.“
„Was?“
Sascha begreift es erst gar nicht.
„Veröffentlichungstermin ist der fünfzehnte November. Wir haben heute nachmittag einen Termin mit dem Lektor.“
Sie nennt ihm noch die Uhrzeit, legt dann auf. Sascha muss sich erst mal setzen. Sacken lassen.
Dann steht er auf. Geht ans Fenster. Guckt ´raus. Draußen wird es gerade hell.
Sascha brüllt nicht vor Freude. Er muss jetzt `raus. Zieht seinen Jogging-Anzug an. Geht aus dem Haus und läuft los.
Er sprintet. Ist richtig schnell.
Da er nicht weit vom Ruhrstadion wohnt, ist er bald da. Auf dem Trainingsplatz ist noch keiner. Er rennt quer über den Platz. Zurück. Wieder hin. Spürt die Kraft in sich. Gibt nochmal Gas. Dann bleibt er endlich stehen. Er hört seinen Atem.-

Zwei Wochen später. Sascha sitzt in der Buchhandlung „Strecker“. Er sitzt am Pult. Hat seinen Roman vor sich. Und zwanzig Leute. Er liest.
„Carl zog sich langsam die Treppen hoch.“
Und so weiter. Sascha wirkt gar nicht aufgeregt dabei, eher routiniert. Er schaut selten hoch. Nach einer Stunde ist alles vorbei. Das Publikum applaudiert. Sascha lehnt sich etwas entspannt zurück. Er genießt den Applaus, steht auf und bedankt sich artig beim Publikum. Da kommt sogar eine junge Frau daher und will ein Autogramm. Sascha signiert gerne auf der Innenseite des Buchdeckels. Dann ist der literarische Abend beendet.-

Bettina kommt vorbei. In der Hand hat sie ein Stück Papier, auf dem die bisherigen Verkaufszahlen des Romans verzeichnet sind. Sie sind enorm gut. Sascha wirft einen Blick auf die Zahlen. Er wird euphorisch. Fällt Bettina um den Hals.
„Du hast etwas sehr Gutes geschrieben. Mach` weiter so!“
Und Sascha macht weiter so. Hält eine Lesung nach der anderen, in einer Stadt nach der anderen. Er kommt in den Bestsellerlisten nach oben. Irgendwann ist er auf Platz eins.-

Sascha wird herumgereicht. Er ist mal auf einer Literaturpreisverleihung, mal auf einer Buchmesse, mal bei der Eröffnung einer größeren Buchhandlung dabei. Hier ein paar Häppchen, da ein paar Häppchen. Seine schmale Gestalt wird immer schmaler. Sandra sieht er kaum noch, Sabinchen noch seltener. Eines Abends wird auf einer Verlegerparty ein kleines weißes Pulver kredenzt.-

Die Lesungen werden weniger. Stattdessen feiert man auf Cocktailpartys sich selbst. Sascha immer mittendrin. Ab und zu verschwindet er mit ein paar Tänzerinnen. Sie haben ihren Spaß, ziehen eine Line. Und noch eine. Nach drei Monaten weniger Lesungen und ausgiebigen Feierns ist er zu einem Zeitungsinterview eingeladen.
Sascha! Wie geht es Ihnen heute?“
„Wunderbar! Ich fang´ schon den nächsten Roman an.“
„Toll! Ihr Erstling ist eingeschlagen wie eine Rakete. Wie lange haben Sie eigentlich gebraucht?“
„Für den Roman?“
„Ja.“
„Zehn Monate!“
„Zehn Monate für sechshundert Seiten! Enorm!“
„Ja.“
„Spielen Sie in dem Roman auch mit?“
„Dem ersten oder dem zweiten?“
Der Reporter lacht.
„Dem ersten.“
„Ja. Aber-“
Der Satz reißt ab.
Sascha? Spielen Sie-? Sascha!
Sascha will noch antworten.
Er kriegt indes keinen Ton heraus.
Bricht zusammen.-

Am nächsten Tag steht er in den Zeitungen.
Jungschriftsteller bricht zusammen!
Gefeierter Jungstar drogensüchtig?
Nimmt Sascha Kokain?
So und ähnlich lauten die Schlagzeilen. Sascha liest es von seinem Krankenbett aus. Er spürt ein gewisses Kribbeln. Die Krankenschwester kommt ´rein und wechselt bei seinem Zimmernachbarn den Verband.
„Guten Morgen, Herr Müller“, sagt sie währenddessen freundlich zu Sascha.
„Wie geht es Ihnen heute?“
„Ganz gut. Wann komm´ ich ´raus?“
„Mal langsam, Herr Müller! Heut` noch nicht.“
Sascha ärgert sich. Eigentlich wollte er heute an seinem neuen Roman weiterschreiben. Er liegt verdrießlich in seinem Bett. Das Krankenzimmer ist in heller, weißer Farbe gestrichen. Die Betten lassen einen Durchgang
von circa einen Meter fünfzig. Sascha wartet, bis die Krankenschwester weg ist. Steht dann auf. Er taumelt etwas, hält sich am Bett fest. Dann geht er im Krankenhausnachthemd langsam den Flur entlang. Zwischendurch setzt er sich immer mal hin. Im Bochumer Bergmannsheil war Sascha das letzte Mal als Kind. Da sieht er Sabinchen den Flur `runterkommen.-

„Hallo.“
Es klingt etwas tonlos.
„Hallo. Wie geht´s dir?“
Sascha fragt tatsächlich mit einem gewissen Interesse.
„Nicht gut. Du hattest einen Zusammenbruch.
Sascha sagt nichts. Er zieht sie zu sich hin und küsst sie. Sie freut sich nicht unbedingt darüber.
„Warum hast du nicht angerufen?“
„Ich hatte viel zu tun.“
Es klingt fast entschuldigend.
„Man hört so einiges über dich. Du wärst der Partykönig.“
Sascha schweigt.
Die berühmten drei Worte kommen ihm einfach nicht über die Lippen.
Sabine dreht sich um und geht.-

Sascha ist beim Packen. Er wird fertig, verabschiedet sich von seinem Nachbarn. Dann verlässt er das Zimmer. Auf dem Flur begegnet er noch einmal der Krankenschwester.
„Herr Müller! Wo wollen Sie denn hin?
„Nach Hause.“
„Wie, nach Hause?“
„Ja, nach Hause eben!“
„Das geht aber nicht!“
„Sehen Sie doch!“
„Moment, Herr Müller! Da müssen Sie erst noch mit zum Arzt!“
„Wieso das denn?“
„Die Entlassungspapiere fertig machen!“
Sascha geht widerwillig mit. Der Arzt sieht nur kurz auf.
„Kreislaufzusammenbruch. Entlassen auf eigene Gefahr.“-

Sascha sitzt endlich wieder zuhause am Schreibtisch. Der neue Roman ist erst zwei Seiten alt. Als er die dritte Seite anfangen will, klingelt das Telefon.
„Hallo, Sascha! Hier ist dein alter Freund Thomas!“
„Hallo.“
„Auf welchem Planeten hast du dich denn versteckt?“
„Sehr witzig. Ich war im Krankenhaus.“
„Hab` schon gehört. Hast zuviel gefeiert, was?“
„Ja.“
Sascha ist etwas kleinlaut.
„Ich hatte einen Zusammenbruch.“
„Wie, Zusammenbruch?“
„Na, ja.“
Sascha druckst `rum.
„Kokain halt.“
Am anderen Ende der Leitung entsteht eine Pause.
„Bist du bescheuert?“
„Ja, hast du das denn nicht in der Zeitung gelesen?“
„Nee, Sascha. Ich war im Urlaub.“
„Sabine hat auch Schluss gemacht.“
Wieder Pause.
„Das wundert mich nicht. Bist ja auch ´n ziemlicher Arsch geworden in letzter Zeit.“
„Warum das denn?“
„Ja, weil das halt so ist. Egoistisch ohne Ende. Meldest dich nicht. Kein Verlass mehr.“
„Was soll das denn jetzt?“
„Ja, Sascha. Ich hab` dir immer schon gesagt, wie`s ist. Und früher hat das auch funktioniert.“
„Und jetzt nicht mehr, oder was?“
„Jetzt nicht mehr.“
Sascha knallt wutentbrannt den Hörer auf.-

„Hey, Sascha! Lange nicht gesehen! Wo warst du denn so lange, altes Haus?“
Karl-Heinz, der Verleger, begrüßt ihn mit gewohnter Vertrautheit.
„Im Krankenhaus.“
Sascha ist es fast peinlich.
„Ach, Junge, Kopf hoch! Hier hast du ´nen Cocktail.“
Er gibt ihm einen Blue Curacao. Sascha schmeckt`s.-

Er ist dann doch wieder fleißig, und sitzt an den Seiten dreißig bis vierzig. Es fließt ihm aus den Fingern. Er baut Spannung auf und findet sich grad´ sehr unterhaltsam, als es schellt. Er öffnet die Tür. Es ist Natascha, die schöne Tänzerin. Sie möchte etwas mit ihm feiern. Das kleine weiße Pulver hat sie auch dabei. Nachdem sie die erste Line gezogen haben, passiert es. Sascha bricht zusammen.
„Oh Darling! What happened?“
Sascha schreit.
„Ich kann nicht mehr!“
Dann fällt er in Ohnmacht.-

Als er erwacht, ist niemand da. Sein Körper schmerzt an jeder Stelle. Das Krankenzimmer sieht grau aus. Sascha dreht den Kopf nach links. Es tut weh. Das Bett neben ihm ist leer. Als er aus dem Fenster schaut, sieht er in einen verregneten grauen Himmel. Sascha will nicht drüber nachdenken. Nach einer langen Zeit quälenden Wartens öffnet sich endlich die Tür. Eine Krankenschwester erscheint.
So, Herr Müller. Setzen Sie sich mal bitte auf!
Er quält sich in sitzende Haltung. Die Krankenschwester misst den Puls. Dann sticht sie ihm eine Nadel in den Arm.
Sascha schreit fast.
Er sieht, wie sein Blut durch den dünnen Plastikschlauch fließt. Endlich ist die Krankenschwester fertig und geht wieder. Erneut zieht sich die Zeit wie Kaugummi. Sascha hat Durst. Er klingelt. Nach einer Weile erscheint erneut die Krankenschwester.
„Sie wünschen?“
Es klingt unfreundlich.
„Hätten Sie vielleicht ein Glas Wasser?“, fragt er matt.
„Moment.“
Sie verschwindet und erscheint kurze Zeit später wieder. Stellt das Glas Wasser auf das Beistelltischchen und geht. Sascha sinniert. Zum ersten Mal im Leben zweifelt er an sich. Mit zitternder Hand nimmt er das Glas Wasser. Er bringt zwei hastige Schlückchen fertig. Dann stellt er es schnell ab.
Er will lesen.
Es ist nichts zum Lesen da.-

Zwei Wochen später ist Sascha zuhause. Er sitzt vor dem Computer.
Schreibt.
Hat keinen zum Reden.
Schreibt.
Dann ruft er Bettina an:
„Hallo Bettina,“ sagt er freundlich.
„Wie geht es dir?“
Schiebt er noch nach. Zögern am anderen Ende der Leitung.
„Wie immer. Lange nichts gehört.“
„Ja, Entschuldigung. Ich hab`s etwas übertrieben.“
„Nicht zum ersten Mal.“
„Ja. Tut mir leid.“
„Und? Wie geht`s jetzt weiter?“
„Ich hab` wieder angefangen zu schreiben.“
„Aha.“
Bettina klingt wenig begeistert.
„An meinem neuen Roman.“
Sascha wartet auf eine Antwort.
Vergeblich.-

Sascha hockt mal wieder zuhause. Vergeblich hat er auf einen Anruf seines Verlegers gewartet. Wie er in letzter Zeit auf so viele Anrufe gewartet hat. Der Anruf, der jetzt kommt, entpuppt sich als echte Scheiße:
„Hi Sascha. This is Natascha speaking. Ich will mal wieder was probieren! Hast du was da?“
Sascha muss bald kotzen!
„Ach, Natascha! Leck` mich doch am Arsch!“
Damit ist das Telefonat beendet. Er sitzt wieder da. Er ist melancholisch. Keiner ruft an. Und er selbst? Sascha hat eine unbestimmte Ahnung, dass es nicht mehr weitergeht.-

Nach drei Wochen weiterer Lethargie klingelt dann doch einmal das Telefon.
„Hallo Sascha! Eigentlich wollte ich dich nie wieder anrufen!“
„Wer ist denn da?“
„Erkennst du mich nicht?“
„Nein.“
„Hier ist Bettina.“
„Ach, Bettina. Wie geht´s?“
„Gut! Und selbst?“
„Geht so.“
„Schreibst du noch?“
„Joah. So zwei, drei Zeilen am Tag.“
„Bisschen wenig, oder?“
„Findest du?“
„Ja. Tust dir auch selber leid, oder?!“
Sascha schweigt.
Sascha!
„Ja.“
Sascha ist müde.
Hat keine Lust zu reden.
„Warum soll ich schreiben? Interessiert doch sowieso keinen!“
Mich interessiert es.“
Sascha schweigt.
„Wirklich?“
„Ja.“
„Na, dann.“
„Pass mal auf. Ich bin sowieso grad` in Essen. In `ner halben Stunde kann ich in Bochum sein. Lass uns doch irgendwo in der Stadt treffen.“
„Keine Lust.“
„Warum nicht?“
„Zuhause ist es schöner.“
Bettina legt auf.-

Sascha schreit `rum. Nix klappt. Warum auch? Ist doch sowieso alles Mist. Die Freundin – weg. Die andere Freundin – weg. Sein bester Kumpel – weg. Was ist ihm geblieben?-

Ganz kurz überlegt er, bei seinen Eltern in Marbella anzurufen. Die sind da schon seit drei Monaten. Seine Hand geht zum Hörer. Er tippt mit den Fingern drauf. Überlegt. Lässt es dann.
Der Spiegel im Badezimmer zeigt eine hagere, bleiche Gestalt mit strähnigem Haar und roten Augen. Er ist jetzt den dritten Tag nicht draußen.
Plötzlich schellt´s.
Sascha ist nicht da.
Es schellt noch einmal.
Sascha schlurft zur Haustür `runter.
Er macht auf.
Es ist Thomas.
„Ach. Das ist ja ´ne Überraschung.“
„Hallo Sascha. Wie geht´s dir?“
„Geht so.“
Sascha bittet ihn nicht `rein.
„Hm hm.“
Sascha macht die Tür zu.
Einige Momente passiert nichts.
Dann schellt es wieder. Sascha zögert.
„Was willst du?“
Sascha fragt durch die geschlossene Tür.
„Mit dir reden.“
„Wozu?“
„Weil `s dir beschissen geht.“
„Das geht dich `n Scheißdreck an.“
„Wieso das denn?“
„Weil du mich hast hängen lassen. Jetzt brauchst du auch nicht mehr kommen.“
„Komm´ mal klar. Du hast den Partykönig gemimt.“
Sascha schweigt.
Er zögert noch einen Augenblick.
Dann öffnet er die Tür.
„Dann komm` halt `rein.“
Sie geh´n ins Wohnzimmer und setzen sich jeder in einen Sessel. Eine Zeitlang sagt keiner was.
„Willst du was trinken?“
Saschas Stimme klingt immer noch unfreundlich.
„Vielleicht ein Wasser?
Sascha holt eine Flasche und zwei Gläser. Er schenkt erst sich ein, dann Thomas. Thomas nimmt einen Schluck.
„Sascha, das geht so nicht weiter mit dir. Du musst was tun. Geh´ doch mal wieder joggen.“
Erzähl` du mir nicht, was ich tun soll!
Sascha sitzt da wie ein Häufchen Elend, zusammengesunken in seinem Sessel. Er stiert aus roten Augen vor sich hin.
„Es wäre schade um dein Talent.“
Thomas lässt nicht locker.
„Mein Talent ist mir scheißegal.“
„Was ist denn mit Sandra?“
„Weg.“
„Wie, weg?“
„In Düsseldorf. Zum Studieren.“
„Ach so.“
„Und Sabine?“
„Weg. Hat Schluss gemacht.“
Sascha schaut betreten zu Boden.
„Erst zwei Frauen, dann gar keine mehr.“
Thomas` Stimme klingt bedauernd.
„Und der Roman?
„Mir fällt nichts ein. Außerdem hab` ich auch kein Bock.“
„Hm hm.“
Sascha sitzt zusammengesunken in seinem Sessel. Eine Zeitlang geht nichts.
Dann schellt es erneut.
Sascha schlurft zur Tür.
Macht auf.
Bettina ist da.
„Darf ich `reinkommen?“
„Meinetwegen.“
Sie geh`n ins Wohnzimmer. Nachdem Bettina und Thomas sich bekannt gemacht haben, setzt sich Bettina auch in einen Sessel. Eine Zeitlang herrscht betretene Stille.
„Sascha. So kann`s nicht weitergeh´n. Du gehst jetzt mit Thomas zum Joggen.“
„Nein.“
Lusche, Flasche, eins, zwei, drei. Hoch!
Sascha will gar nicht. Bettina und Thomas gehen zu ihm hin. Und ziehen ihn hoch. Er sträubt sich.
Bettina haut ihm eine `runter.
Sascha schreit:
„Bist du bescheuert!“
„Nein, Sascha, du bist bescheuert. Du kommst jetzt mit.“
Sie geh`n mit ihm ins Kinderzimmer. Da lassen sie ihn mit seinem Jogginganzug allein.
Nach zehn Minuten kommt er umgekleidet wieder `raus.
Er wirkt bei weitem nicht so fit wie früher.
Man erkennt aber in Ansätzen den früheren Sportler.-

- Ende -​
 

neonovalis

Mitglied
Lusche, Flasche,1,2,3​

Er hockt nächtens vor seinem Computer. Der Roman muss bald fertig sein. Die Maloche der letzten zehn Monate soll nicht umsonst gewesen sein. Es kribbelt. Es muss heraus. Schöner als Sex.
Sabinchen hat er lange nicht mehr gesehen. Was soll`s! Wen Sascha später mal heiratet, weiß er jetzt noch nicht. Die ganze Energie geht für die Handlung drauf. Davon lässt er sich so anstecken, dass er in einem Rutsch durchschreibt! Sein Zimmer ist exact eingerichtet, mit Schreibtisch aus Teakholz, dunkelblauem Drehstuhl, dunkelbraunem japanischen Bett, hellem Kiefernholzschrank und einem niedrigen Tisch inmitten einer beigen Sitzgruppe. Sascha arbeitet noch drei Stunden konzentriert durch. Bringt das nächste Kapitel zum Abschluss. Dann geht er schlafen.-

Um sechs schrillt der Wecker. Vier Stunden Schlaf müssen reichen! Sascha flitzt ins Badezimmer. Mit der Morgentoilette ist er in fünfzehn Minuten fertig. Dann `runter in die Küche – seine Eltern sind nicht da.
Im Urlaub.
Den Kaffee hat er sich schnell aufgesetzt. Die grell-heiße braune Brühe kratzt ihn auf. Drei Minuten später hängt er am Handy:
„Sandra! Was machst du heute abend?“
„Weiß nicht. Was machst du?“
„Ich geh` in den Intershop. Kommst du mit?“
„Wann?“
„Um zwölf?“
„Alles klar! Ich bin dabei!“
„Bis dann!“
„Ja, bis dann!“
Während er noch ihre erfreute Stimme vernimmt, macht er schon den Jogging-Termin mit Thomas klar. Der ist sein Kumpel seit dem fünften Schuljahr. Sascha vereinbart noch schnell einen Termin mit Bettina, seiner Literaturagentin. Dann schlüpft seine große, drahtige Gestalt in seine Joggingklamotten. Um Punkt acht ist er mit seinem Freund auf der Piste. Sascha hängt ihn ab. Thomas kennt das schon. Sascha war immer der erste.
Im Deutschunterricht.
In Literatur.
Im Sport.
Bei den Mädels.
Sascha wartet am Parkplatz auf ihn.
„Na, Sportsfreund? Wieder Weltmeister?“
Sascha lacht.
„Du kennst mich ja.“
„Ja. Vor allem deine Unarten.“
Sie lachen beide. Nach dem Duschen gehen sie noch auf einen Kaffee ins „Treibsand“, einem kleinen Café am Bochumer Stadtpark.
„Und sonst so?“
„Läuft ganz gut. Ich bin jetzt im zweiten Lehrjahr in der Tischlerei. Viel Auslieferungen und so. Und selbst?“
„Bin zufrieden. Bettina hat einen Verlag an der Hand. In zwei Wochen wollen sie das Manuskript.“
„Und Sabine?“
Sascha schaut kurz zu Boden.
„Mit der hab´ ich vor drei Wochen das letzte Mal telefoniert.“
„Habt ihr Probleme?“
„Weiß ich nicht.“
Sascha will nicht drüber reden. Sie spielen dann noch etwas Schach – Sascha gewinnt natürlich! – verabreden sich zum nächsten Jogging-Termin und trennen sich.-

Grünlichblau schimmert die Nacht. Schreiendgelb erstrahlt die Neonreklame. Sascha nimmt es in sich auf. Eine schwarze Katze rennt fauchend über die Straße. Ab und an schleichen ein paar Autos vorbei. Sascha ist jetzt am Intershop. Er öffnet die Tür und geht `rein. Drinnen ist das Licht gedämpft. An der Wand hängt immer noch das Bild von Doktor Mabuse. Heute schaut er noch etwas strenger drein als sonst. Sandra ist schon da. Sie sitzt auf einem schwarzen Hocker an der Theke. Strahlt ihn an.
„Hallo!“
„Hallo!“
Er freut sich auch. Sie küssen sich auf die Wange.
„Schön, dich zu sehen!“
„Ganz meinerseits. Wie geht´s dir denn?“
„Gut. Ich bin jetzt fast mit der Schneiderlehre fertig.“
„Ist doch wunderbar. Und dann?“
„Geht`s auf die Modedesign-Schule in Düsseldorf.“
„Mann oh Mann! Du bist ja richtig zielstrebig.“
Sie beschließen, an einen der Tische am Fenster umzuziehen. Da ist die Atmosphäre auch vertrauter...

Sascha ist echt in Zeitdruck. Er muss das Manuskript in zwei Tagen abgegeben haben. Seine Literaturagentin ruft schon ständig an und fragt nach. Sascha schwitzt vor der Tastatur.
Haut sich die Tage und die Nächte um die Ohren.
Geht kaum noch ans Telefon.
Isst im Stehen.
Da klingelt es an der Tür. Er macht auf. Es ist Sabine. Sascha ist baff:
„Mit dir hätt´ ich jetzt gar nicht gerechnet. Was machst du denn hier?“
„Dich besuchen vielleicht?“
Er küsst sie flüchtig auf den Mund. Dreht sich um. Geht die Treppe `rauf in sein Zimmer. Sabine geht hinterher.
„Hallo? Redest du vielleicht mal mit mir?“
Sascha zögert.
„Warum meldest du dich nicht?“
„Keine Zeit.“
„Wie, keine Zeit?“
„Na, ich muss doch fertig werden. Das Manuskript muss in zwei Tagen abgegeben sein.“
Er wendet sich zum Schreibtisch.
Sabine fängt an zu heulen und geht.-

Bettina macht Druck. Sascha wird fertig. Auf den letzten Drücker. Er gibt das Manuskript bei ihr ab und wartet.-

Die Herbstbäume stehen in flammendem Rot. Sie schmiegen sich an den sanft ansteigenden Hang. Von unten schimmert silbrigblau der See hinauf. Der Bochumer Stadtpark ist im Herbst das Paradies auf Erden. Sascha und Sandra gehen spazieren. Sie unterhalten sich angeregt. Sie lachen viel. Schmieden Pläne. Nie war`n sie sich so vertraut.
„Du bist wirklich meine beste Freundin. Du bist immer da, wenn ich dich brauche.“
„Ja, danke. Dito.“
Er schaut sie an.
Küsst sie.-

Das Telefon reißt ihn aus dem Schlaf. Schlaftrunken nimmt er den Hörer ab.
„Dein Roman kommt `raus.“
„Was?“
Sascha begreift es erst gar nicht.
„Veröffentlichungstermin ist der fünfzehnte November. Wir haben heute nachmittag einen Termin mit dem Lektor.“
Sie nennt ihm noch die Uhrzeit, legt dann auf. Sascha muss sich erst mal setzen. Sacken lassen.
Dann steht er auf. Geht ans Fenster. Guckt ´raus. Draußen wird es gerade hell.
Sascha brüllt nicht vor Freude. Er muss jetzt `raus. Zieht seinen Jogging-Anzug an. Geht aus dem Haus und läuft los.
Er sprintet. Ist richtig schnell.
Da er nicht weit vom Ruhrstadion wohnt, ist er bald da. Auf dem Trainingsplatz ist noch keiner. Er rennt quer über den Platz. Zurück. Wieder hin. Spürt die Kraft in sich. Gibt nochmal Gas. Dann bleibt er endlich stehen. Er hört seinen Atem.-

Zwei Wochen später. Sascha sitzt in der Buchhandlung „Strecker“. Er sitzt am Pult. Hat seinen Roman vor sich. Und zwanzig Leute. Er liest.
„Carl zog sich langsam die Treppen hoch.“
Und so weiter. Sascha wirkt gar nicht aufgeregt dabei, eher routiniert. Er schaut selten hoch. Nach einer Stunde ist alles vorbei. Das Publikum applaudiert. Sascha lehnt sich etwas entspannt zurück. Er genießt den Applaus, steht auf und bedankt sich artig beim Publikum. Da kommt sogar eine junge Frau daher und will ein Autogramm. Sascha signiert gerne auf der Innenseite des Buchdeckels. Dann ist der literarische Abend beendet.-

Bettina kommt vorbei. In der Hand hat sie ein Stück Papier, auf dem die bisherigen Verkaufszahlen des Romans verzeichnet sind. Sie sind enorm gut. Sascha wirft einen Blick auf die Zahlen. Er wird euphorisch. Fällt Bettina um den Hals.
„Du hast etwas sehr Gutes geschrieben. Mach` weiter so!“
Und Sascha macht weiter so. Hält eine Lesung nach der anderen, in einer Stadt nach der anderen. Er kommt in den Bestsellerlisten nach oben. Irgendwann ist er auf Platz eins.-

Sascha wird herumgereicht. Er ist mal auf einer Literaturpreisverleihung, mal auf einer Buchmesse, mal bei der Eröffnung einer größeren Buchhandlung dabei. Hier ein paar Häppchen, da ein paar Häppchen. Seine schmale Gestalt wird immer schmaler. Sandra sieht er kaum noch, Sabinchen noch seltener. Eines Abends wird auf einer Verlegerparty ein kleines weißes Pulver kredenzt.-

Die Lesungen werden weniger. Stattdessen feiert man auf Cocktailpartys sich selbst. Sascha immer mittendrin. Ab und zu verschwindet er mit ein paar Tänzerinnen. Sie haben ihren Spaß, ziehen eine Line. Und noch eine. Nach drei Monaten weniger Lesungen und ausgiebigen Feierns ist er zu einem Zeitungsinterview eingeladen.
„Sascha! Wie geht es Ihnen heute?“
„Wunderbar! Ich fang´ schon den nächsten Roman an.“
„Toll! Ihr Erstling ist eingeschlagen wie eine Rakete. Wie lange haben Sie eigentlich gebraucht?“
„Für den Roman?“
„Ja.“
„Zehn Monate!“
„Zehn Monate für sechshundert Seiten! Enorm!“
„Ja.“
„Spielen Sie in dem Roman auch mit?“
„Dem ersten oder dem zweiten?“
Der Reporter lacht.
„Dem ersten.“
„Ja. Aber-“
Der Satz reißt ab.
„Sascha? Spielen Sie-? Sascha!“
Sascha will noch antworten.
Er kriegt indes keinen Ton heraus.
Bricht zusammen.-

Am nächsten Tag steht er in den Zeitungen.
„Jungschriftsteller bricht zusammen!“
„Gefeierter Jungstar drogensüchtig?“
„Nimmt Sascha Kokain?“
So und ähnlich lauten die Schlagzeilen. Sascha liest es von seinem Krankenbett aus. Er spürt ein gewisses Kribbeln. Die Krankenschwester kommt ´rein und wechselt bei seinem Zimmernachbarn den Verband.
„Guten Morgen, Herr Müller“, sagt sie währenddessen freundlich zu Sascha.
„Wie geht es Ihnen heute?“
„Ganz gut. Wann komm´ ich ´raus?“
„Mal langsam, Herr Müller! Heut` noch nicht.“
Sascha ärgert sich. Eigentlich wollte er heute an seinem neuen Roman weiterschreiben. Er liegt verdrießlich in seinem Bett. Das Krankenzimmer ist in heller, weißer Farbe gestrichen. Die Betten lassen einen Durchgang
von circa einen Meter fünfzig. Sascha wartet, bis die Krankenschwester weg ist. Steht dann auf. Er taumelt etwas, hält sich am Bett fest. Dann geht er im Krankenhausnachthemd langsam den Flur entlang. Zwischendurch setzt er sich immer mal hin. Im Bochumer Bergmannsheil war Sascha das letzte Mal als Kind. Da sieht er Sabinchen den Flur `runterkommen.-

„Hallo.“
Es klingt etwas tonlos.
„Hallo. Wie geht´s dir?“
Sascha fragt tatsächlich mit einem gewissen Interesse.
„Nicht gut. Du hattest einen Zusammenbruch.“
Sascha sagt nichts. Er zieht sie zu sich hin und küsst sie. Sie freut sich nicht unbedingt darüber.
„Warum hast du nicht angerufen?“
„Ich hatte viel zu tun.“
Es klingt fast entschuldigend.
„Man hört so einiges über dich. Du wärst der Partykönig.“
Sascha schweigt.
Die berühmten drei Worte kommen ihm einfach nicht über die Lippen.
Sabine dreht sich um und geht.-

Sascha ist beim Packen. Er wird fertig, verabschiedet sich von seinem Nachbarn. Dann verlässt er das Zimmer. Auf dem Flur begegnet er noch einmal der Krankenschwester.
„Herr Müller! Wo wollen Sie denn hin?“
„Nach Hause.“
„Wie, nach Hause?“
„Ja, nach Hause eben!“
„Das geht aber nicht!“
„Sehen Sie doch!“
„Moment, Herr Müller! Da müssen Sie erst noch mit zum Arzt!“
„Wieso das denn?“
„Die Entlassungspapiere fertig machen!“
Sascha geht widerwillig mit. Der Arzt sieht nur kurz auf.
„Kreislaufzusammenbruch. Entlassen auf eigene Gefahr.“-

Sascha sitzt endlich wieder zuhause am Schreibtisch. Der neue Roman ist erst zwei Seiten alt. Als er die dritte Seite anfangen will, klingelt das Telefon.
„Hallo, Sascha! Hier ist dein alter Freund Thomas!“
„Hallo.“
„Auf welchem Planeten hast du dich denn versteckt?“
„Sehr witzig. Ich war im Krankenhaus.“
„Hab` schon gehört. Hast zuviel gefeiert, was?“
„Ja.“
Sascha ist etwas kleinlaut.
„Ich hatte einen Zusammenbruch.“
„Wie, Zusammenbruch?“
„Na, ja.“
Sascha druckst `rum.
„Kokain halt.“
Am anderen Ende der Leitung entsteht eine Pause.
„Bist du bescheuert?“
„Ja, hast du das denn nicht in der Zeitung gelesen?“
„Nee, Sascha. Ich war im Urlaub.“
„Sabine hat auch Schluss gemacht.“
Wieder Pause.
„Das wundert mich nicht. Bist ja auch ´n ziemlicher Arsch geworden in letzter Zeit.“
„Warum das denn?“
„Ja, weil das halt so ist. Egoistisch ohne Ende. Meldest dich nicht. Kein Verlass mehr.“
„Was soll das denn jetzt?“
„Ja, Sascha. Ich hab` dir immer schon gesagt, wie`s ist. Und früher hat das auch funktioniert.“
„Und jetzt nicht mehr, oder was?“
„Jetzt nicht mehr.“
Sascha knallt wutentbrannt den Hörer auf.-

„Hey, Sascha! Lange nicht gesehen! Wo warst du denn so lange, altes Haus?“
Karl-Heinz, der Verleger, begrüßt ihn mit gewohnter Vertrautheit.
„Im Krankenhaus.“
Sascha ist es fast peinlich.
„Ach, Junge, Kopf hoch! Hier hast du ´nen Cocktail.“
Er gibt ihm einen Blue Curacao. Sascha schmeckt`s.-

Er ist dann doch wieder fleißig, und sitzt an den Seiten dreißig bis vierzig. Es fließt ihm aus den Fingern. Er baut Spannung auf und findet sich grad´ sehr unterhaltsam, als es schellt. Er öffnet die Tür. Es ist Natascha, die schöne Tänzerin. Sie möchte etwas mit ihm feiern. Das kleine weiße Pulver hat sie auch dabei. Nachdem sie die erste Line gezogen haben, passiert es. Sascha bricht zusammen.
„Oh Darling! What happened?“
Sascha schreit.
„Ich kann nicht mehr!“
Dann fällt er in Ohnmacht.-

Als er erwacht, ist niemand da. Sein Körper schmerzt an jeder Stelle. Das Krankenzimmer sieht grau aus. Sascha dreht den Kopf nach links. Es tut weh. Das Bett neben ihm ist leer. Als er aus dem Fenster schaut, sieht er in einen verregneten grauen Himmel. Sascha will nicht drüber nachdenken. Nach einer langen Zeit quälenden Wartens öffnet sich endlich die Tür. Eine Krankenschwester erscheint.
„So, Herr Müller. Setzen Sie sich mal bitte auf!“
Er quält sich in sitzende Haltung. Die Krankenschwester misst den Puls. Dann sticht sie ihm eine Nadel in den Arm.
Sascha schreit fast.
Er sieht, wie sein Blut durch den dünnen Plastikschlauch fließt. Endlich ist die Krankenschwester fertig und geht wieder. Erneut zieht sich die Zeit wie Kaugummi. Sascha hat Durst. Er klingelt. Nach einer Weile erscheint erneut die Krankenschwester.
„Sie wünschen?“
Es klingt unfreundlich.
„Hätten Sie vielleicht ein Glas Wasser?“, fragt er matt.
„Moment.“
Sie verschwindet und erscheint kurze Zeit später wieder. Stellt das Glas Wasser auf das Beistelltischchen und geht. Sascha sinniert. Zum ersten Mal im Leben zweifelt er an sich. Mit zitternder Hand nimmt er das Glas Wasser. Er bringt zwei hastige Schlückchen fertig. Dann stellt er es schnell ab.
Er will lesen.
Es ist nichts zum Lesen da.-

Zwei Wochen später ist Sascha zuhause. Er sitzt vor dem Computer.
Schreibt.
Hat keinen zum Reden.
Schreibt.
Dann ruft er Bettina an:
„Hallo Bettina,“ sagt er freundlich.
„Wie geht es dir?“
Schiebt er noch nach. Zögern am anderen Ende der Leitung.
„Wie immer. Lange nichts gehört.“
„Ja, Entschuldigung. Ich hab`s etwas übertrieben.“
„Nicht zum ersten Mal.“
„Ja. Tut mir leid.“
„Und? Wie geht`s jetzt weiter?“
„Ich hab` wieder angefangen zu schreiben.“
„Aha.“
Bettina klingt wenig begeistert.
„An meinem neuen Roman.“
Sascha wartet auf eine Antwort.
Vergeblich.-

Sascha hockt mal wieder zuhause. Vergeblich hat er auf einen Anruf seines Verlegers gewartet. Wie er in letzter Zeit auf so viele Anrufe gewartet hat. Der Anruf, der jetzt kommt, entpuppt sich als echte Scheiße:
„Hi Sascha. This is Natascha speaking. Ich will mal wieder was probieren! Hast du was da?“
Sascha muss bald kotzen!
„Ach, Natascha! Leck` mich doch am Arsch!“
Damit ist das Telefonat beendet. Er sitzt wieder da. Er ist melancholisch. Keiner ruft an. Und er selbst? Sascha hat eine unbestimmte Ahnung, dass es nicht mehr weitergeht.-

Nach drei Wochen weiterer Lethargie klingelt dann doch einmal das Telefon.
„Hallo Sascha! Eigentlich wollte ich dich nie wieder anrufen!“
„Wer ist denn da?“
„Erkennst du mich nicht?“
„Nein.“
„Hier ist Bettina.“
„Ach, Bettina. Wie geht´s?“
„Gut! Und selbst?“
„Geht so.“
„Schreibst du noch?“
„Joah. So zwei, drei Zeilen am Tag.“
„Bisschen wenig, oder?“
„Findest du?“
„Ja. Tust dir auch selber leid, oder?!“
Sascha schweigt.
„Sascha!“
„Ja.“
Sascha ist müde.
Hat keine Lust zu reden.
„Warum soll ich schreiben? Interessiert doch sowieso keinen!“
„Mich interessiert es.“
Sascha schweigt.
„Wirklich?“
„Ja.“
„Na, dann.“
„Pass mal auf. Ich bin sowieso grad` in Essen. In `ner halben Stunde kann ich in Bochum sein. Lass uns doch irgendwo in der Stadt treffen.“
„Keine Lust.“
„Warum nicht?“
„Zuhause ist es schöner.“
Bettina legt auf.-

Sascha schreit `rum. Nix klappt. Warum auch? Ist doch sowieso alles Mist. Die Freundin – weg. Die andere Freundin – weg. Sein bester Kumpel – weg. Was ist ihm geblieben?-

Ganz kurz überlegt er, bei seinen Eltern in Marbella anzurufen. Die sind da schon seit drei Monaten. Seine Hand geht zum Hörer. Er tippt mit den Fingern drauf. Überlegt. Lässt es dann.
Der Spiegel im Badezimmer zeigt eine hagere, bleiche Gestalt mit strähnigem Haar und roten Augen. Er ist jetzt den dritten Tag nicht draußen.
Plötzlich schellt´s.
Sascha ist nicht da.
Es schellt noch einmal.
Sascha schlurft zur Haustür `runter.
Er macht auf.
Es ist Thomas.
„Ach. Das ist ja ´ne Überraschung.“
„Hallo Sascha. Wie geht´s dir?“
„Geht so.“
Sascha bittet ihn nicht `rein.
„Hm hm.“
Sascha macht die Tür zu.
Einige Momente passiert nichts.
Dann schellt es wieder. Sascha zögert.
„Was willst du?“
Sascha fragt durch die geschlossene Tür.
„Mit dir reden.“
„Wozu?“
„Weil `s dir beschissen geht.“
„Das geht dich `n Scheißdreck an.“
„Wieso das denn?“
„Weil du mich hast hängen lassen. Jetzt brauchst du auch nicht mehr kommen.“
„Komm´ mal klar. Du hast den Partykönig gemimt.“
Sascha schweigt.
Er zögert noch einen Augenblick.
Dann öffnet er die Tür.
„Dann komm` halt `rein.“
Sie geh´n ins Wohnzimmer und setzen sich jeder in einen Sessel. Eine Zeitlang sagt keiner was.
„Willst du was trinken?“
Saschas Stimme klingt immer noch unfreundlich.
„Vielleicht ein Wasser?“
Sascha holt eine Flasche und zwei Gläser. Er schenkt erst sich ein, dann Thomas. Thomas nimmt einen Schluck.
„Sascha, das geht so nicht weiter mit dir. Du musst was tun. Geh´ doch mal wieder joggen.“
„Erzähl` du mir nicht, was ich tun soll!“
Sascha sitzt da wie ein Häufchen Elend, zusammengesunken in seinem Sessel. Er stiert aus roten Augen vor sich hin.
„Es wäre schade um dein Talent.“
Thomas lässt nicht locker.
„Mein Talent ist mir scheißegal.“
„Was ist denn mit Sandra?“
„Weg.“
„Wie, weg?“
„In Düsseldorf. Zum Studieren.“
„Ach so.“
„Und Sabine?“
„Weg. Hat Schluss gemacht.“
Sascha schaut betreten zu Boden.
„Erst zwei Frauen, dann gar keine mehr.“
Thomas` Stimme klingt bedauernd.
„Und der Roman?“
„Mir fällt nichts ein. Außerdem hab` ich auch kein Bock.“
„Hm hm.“
Sascha sitzt zusammengesunken in seinem Sessel. Eine Zeitlang geht nichts.
Dann schellt es erneut.
Sascha schlurft zur Tür.
Macht auf.
Bettina ist da.
„Darf ich `reinkommen?“
„Meinetwegen.“
Sie geh`n ins Wohnzimmer. Nachdem Bettina und Thomas sich bekannt gemacht haben, setzt sich Bettina auch in einen Sessel. Eine Zeitlang herrscht betretene Stille.
„Sascha. So kann`s nicht weitergeh´n. Du gehst jetzt mit Thomas zum Joggen.“
„Nein.“
„Lusche, Flasche, eins, zwei, drei. Hoch!“
Sascha will gar nicht. Bettina und Thomas gehen zu ihm hin. Und ziehen ihn hoch. Er sträubt sich.
Bettina haut ihm eine `runter.
Sascha schreit:
„Bist du bescheuert!“
„Nein, Sascha, du bist bescheuert. Du kommst jetzt mit.“
Sie geh`n mit ihm ins Kinderzimmer. Da lassen sie ihn mit seinem Jogginganzug allein.
Nach zehn Minuten kommt er umgekleidet wieder `raus.
Er wirkt bei weitem nicht so fit wie früher.
Man erkennt aber in Ansätzen den früheren Sportler.-

- Ende -
 
P

Pikolaus

Gast
Eher ein Drehbuch

Ein junger Debütant der Literatur stürzt ab, kapselt sich ab und verliert Freunde. Aus dem einstigen Sportler wird eine Lusche. Der zweite Roman will Sascha nicht gelingen. Am Ende versuchen ehemalige Freunde, ihn aus seiner Höhle zu holen. So habe ich den Text verstanden.
Für mich ist es eher ein Drehbuch mit Regieanweisungen, Beschreibung der Sets und der zu sprechenden Dialoge (denen fehlt dann aber jeweils der Name davor) als eine Erzählung.

Die Erzählperspektive ist nicht eindeutig: mal neutral beschreibend aus der Sicht des Beobachters, mittendrin dann plötzlich subjektive Begriffe und Empfindungen von Sascha. Aus der Ich-Sicht wäre der Text auf Anhieb viel packender. Ersetze einfach alle 'er' und 'Sascha' durch ich, Verben noch anpassen und dann mal lesen.
Viele Sprünge in Zeit und Ort, viele Namen irgendwo. In den Dialogen wird oft erst am Ende klar, wer die Beteiligten sind (Sabine, Bettina, Sandra, Natascha) und wo es sich abspielt. Das verwirrt. Mache am Beginn einer jeden Szene klar, wo sie spielt und wer dabei ist.

Das war es von mir - eine gute Story, viel Dialog, aber zu wenig athmosphärische Erzählung und zu viel Beschreibung. Jede einzelne Szene hat das Zeug zu einem Kapitel oder einer Kurzgeschichte, wenn mehr gehandelt als beschrieben wird.
Viel Spaß noch.
 

neonovalis

Mitglied
Lusche, Flasche,1,2,3​

Ich hocke nächtens vor meinem Computer. Der Roman muss bald fertig sein. Die Maloche der letzten zehn Monate soll nicht umsonst gewesen sein. Es kribbelt. Es muss heraus. Schöner als Sex.
Sabinchen habe ich lange nicht mehr gesehen. Was soll`s! Wen ich später mal heirate, weiß ich jetzt noch nicht. Die ganze Energie geht für die Handlung drauf. Davon lasse ich mich so anstecken, dass ich in einem Rutsch durchschreibe! Mein Zimmer ist exact eingerichtet, mit Schreibtisch aus Teakholz, dunkelblauem Drehstuhl, dunkelbraunem japanischen Bett, hellem Kiefernholzschrank und einem niedrigen Tisch inmitten einer beigen Sitzgruppe. Ich arbeite noch drei Stunden konzentriert durch. Bringe das nächste Kapitel zum Abschluss. Dann gehe ich schlafen.-

Um sechs schrillt der Wecker. Vier Stunden Schlaf müssen reichen! Ich flitze ins Badezimmer. Mit der Morgentoilette bin ich in fünfzehn Minuten fertig. Dann `runter in die Küche – meine Eltern sind nicht da.
Im Urlaub.
Den Kaffee habe ich mir schnell aufgesetzt. Die grell-heiße braune Brühe kratzt mich auf. Drei Minuten später hänge ich am Handy:
„Sandra! Was machst du heute abend?“
„Weiß nicht. Was machst du?“
„Ich geh` in den Intershop. Kommst du mit?“
„Wann?“
„Um zwölf?“
„Alles klar! Ich bin dabei!“
„Bis dann!“
„Ja, bis dann!“
Während ich noch ihre erfreute Stimme vernehme, mache ich schon den Jogging-Termin mit Thomas klar. Der ist mein Kumpel seit dem fünften Schuljahr. Ich vereinbare noch schnell einen Termin mit Bettina, meiner Literaturagentin. Dann schlüpft meine große, drahtige Gestalt in meine Joggingklamotten. Um Punkt acht bin ich mit meinem Freund auf der Piste. Ich hänge ihn ab. Thomas kennt das schon. Ich war immer der erste.
Im Deutschunterricht.
In Literatur.
Im Sport.
Bei den Mädels.
Ich warte am Parkplatz auf ihn.
„Na, Sportsfreund? Wieder Weltmeister?“
Ich lache.
„Du kennst mich ja.“
„Ja. Vor allem deine Unarten.“
Wir lachen beide. Nach dem Duschen gehen wir noch auf einen Kaffee ins „Treibsand“, einem kleinen Café am Bochumer Stadtpark.
„Und sonst so?“
„Läuft ganz gut. Ich bin jetzt im zweiten Lehrjahr in der Tischlerei. Viel Auslieferungen und so. Und selbst?“
„Bin zufrieden. Bettina hat einen Verlag an der Hand. In zwei Wochen wollen sie das Manuskript.“
„Und Sabine?“
Ich schaue kurz zu Boden.
„Mit der hab´ ich vor drei Wochen das letzte Mal telefoniert.“
„Habt ihr Probleme?“
„Weiß ich nicht.“
Ich will nicht drüber reden. Wir spielen dann noch etwas Schach – ich gewinne natürlich! – verabreden uns zum nächsten Jogging-Termin und trennen uns.-

Grünlichblau schimmert die Nacht. Schreiendgelb erstrahlt die Neonreklame. Ich nehme es in mich auf. Eine schwarze Katze rennt fauchend über die Straße. Ab und an schleichen ein paar Autos vorbei. Ich bin jetzt am Intershop. Ich öffne die Tür und gehe `rein. Drinnen ist das Licht gedämpft. An der Wand hängt immer noch das Bild von Doktor Mabuse. Heute schaut er noch etwas strenger drein als sonst. Sandra ist schon da. Sie sitzt auf einem schwarzen Hocker an der Theke. Strahlt mich an.
„Hallo!“
„Hallo!“
Ich freue mich auch. Wir küssen uns auf die Wange.
„Schön, dich zu sehen!“
„Ganz meinerseits. Wie geht´s dir denn?“
„Gut. Ich bin jetzt fast mit der Schneiderlehre fertig.“
„Ist doch wunderbar. Und dann?“
„Geht`s auf die Modedesign-Schule in Düsseldorf.“
„Mann oh Mann! Du bist ja richtig zielstrebig.“
Wir beschließen, an einen der Tische am Fenster umzuziehen. Da ist die Atmosphäre auch vertrauter...

Ich bin echt in Zeitdruck. Ich muss das Manuskript in zwei Tagen abgegeben haben. Meine Literaturagentin ruft schon ständig an und fragt nach. Ich schwitze vor der Tastatur.
Haue mir die Tage und die Nächte um die Ohren.
Gehe kaum noch ans Telefon.
Esse im Stehen.
Da klingelt es an der Tür. Ich mache auf. Es ist Sabine. Ich bin baff:
„Mit dir hätt´ ich jetzt gar nicht gerechnet. Was machst du denn hier?“
„Dich besuchen vielleicht?“
Ich küsse sie flüchtig auf den Mund. Drehe mich um. Gehe die Treppe `rauf in mein Zimmer. Sabine geht hinterher.
„Hallo? Redest du vielleicht mal mit mir?“
Ich zögere.
„Warum meldest du dich nicht?“
„Keine Zeit.“
„Wie, keine Zeit?“
„Na, ich muss doch fertig werden. Das Manuskript muss in zwei Tagen abgegeben sein.“
Ich wende mich zum Schreibtisch.
Sabine fängt an zu heulen und geht.-

Bettina macht Druck. Ich werde fertig. Auf den letzten Drücker. Ich gebe das Manuskript bei ihr ab und warte.-

Die Herbstbäume stehen in flammendem Rot. Sie schmiegen sich an den sanft ansteigenden Hang. Von unten schimmert silbrigblau der See hinauf. Der Bochumer Stadtpark ist im Herbst das Paradies auf Erden. Sandra und ich gehen spazieren. Wir unterhalten uns angeregt. Wir lachen viel. Schmieden Pläne. Nie war`n wir uns so vertraut.
„Du bist wirklich meine beste Freundin. Du bist immer da, wenn ich dich brauche.“
„Ja, danke. Dito.“
Ich schaue sie an.
Küsse sie.-

Das Telefon reißt mich aus dem Schlaf. Schlaftrunken nehme ich den Hörer ab.
„Dein Roman kommt `raus.“
„Was?“
Ich begreife es erst gar nicht.
„Veröffentlichungstermin ist der fünfzehnte November. Wir haben heute nachmittag einen Termin mit dem Lektor.“
Sie nennt mir noch die Uhrzeit, legt dann auf. Ich muss mich erst mal setzen. Sacken lassen.
Dann stehe ich auf. Gehe ans Fenster. Gucke ´raus. Draußen wird es gerade hell.
Ich brülle nicht vor Freude. Ich muss jetzt `raus. Ziehe meinen Jogging-Anzug an. Gehe aus dem Haus und laufe los.
Ich sprinte. Bin richtig schnell.
Da ich nicht weit vom Ruhrstadion wohne, bin ich bald da. Auf dem Trainingsplatz ist noch keiner. Ich renne quer über den Platz. Zurück. Wieder hin. Spüre die Kraft in mir. Gebe nochmal Gas. Dann bleibe ich endlich stehen. Ich höre meinen Atem.-

Zwei Wochen später. Ich sitze in der Buchhandlung „Strecker“. Am Pult. Habe meinen Roman vor mir. Und zwanzig Leute. Ich lese.
„Carl zog sich langsam die Treppen hoch.“
Und so weiter. Ich bin gar nicht aufgeregt dabei, eher routiniert. Ich schaue selten hoch. Nach einer Stunde ist alles vorbei. Das Publikum applaudiert. Ich lehne mich etwas entspannt zurück. Genieße den Applaus, stehe auf und bedanke mich artig beim Publikum. Da kommt sogar eine junge Frau daher und will ein Autogramm. Ich signiere gerne auf der Innenseite des Buchdeckels. Dann ist der literarische Abend beendet.-

Bettina kommt vorbei. In der Hand hat sie ein Stück Papier, auf dem die bisherigen Verkaufszahlen des Romans verzeichnet sind. Sie sind enorm gut. Ich werfe einen Blick auf die Zahlen. Ich werde euphorisch. Falle Bettina um den Hals.
„Du hast etwas sehr Gutes geschrieben. Mach` weiter so!“
Und ich mache weiter so. Halte eine Lesung nach der anderen, in einer Stadt nach der anderen. Ich komme in den Bestsellerlisten nach oben. Irgendwann bin ich auf Platz eins.-

Ich werde herumgereicht. Bin mal auf einer Literaturpreisverleihung, mal auf einer Buchmesse, mal bei der Eröffnung einer größeren Buchhandlung dabei. Hier ein paar Häppchen, da ein paar Häppchen. Meine schmale Gestalt wird immer schmaler. Sandra sehe ich kaum noch, Sabinchen noch seltener. Eines Abends wird auf einer Verlegerparty ein kleines weißes Pulver kredenzt.-

Die Lesungen werden weniger. Stattdessen feiert man auf Cocktailpartys sich selbst. Ich immer mittendrin. Ab und zu verschwinde ich mit ein paar Tänzerinnen. Wir haben unseren Spaß, ziehen eine Line. Und noch eine. Nach drei Monaten weniger Lesungen und ausgiebigen Feierns bin ich zu einem Zeitungsinterview eingeladen.
„Sascha! Wie geht es Ihnen heute?“
„Wunderbar! Ich fang´ schon den nächsten Roman an.“
„Toll! Ihr Erstling ist eingeschlagen wie eine Rakete. Wie lange haben Sie eigentlich gebraucht?“
„Für den Roman?“
„Ja.“
„Zehn Monate!“
„Zehn Monate für sechshundert Seiten! Enorm!“
„Ja.“
„Spielen Sie in dem Roman auch mit?“
„Dem ersten oder dem zweiten?“
Der Reporter lacht.
„Dem ersten.“
„Ja. Aber-“
Der Satz reißt ab.
„Sascha? Spielen Sie-? Sascha!“
Ich will noch antworten.
Kriege indes keinen Ton heraus.
Breche zusammen.-

Am nächsten Tag stehe ich in den Zeitungen.
„Jungschriftsteller bricht zusammen!“
„Gefeierter Jungstar drogensüchtig?“
„Nimmt Sascha Kokain?“
So oder ähnlich lauten die Schlagzeilen. Ich lese es von meinem Krankenbett aus. Spüre ein gewisses Kribbeln. Die Krankenschwester kommt ´rein und wechselt bei meinem Zimmernachbarn den Verband.
„Guten Morgen, Herr Müller“, sagt sie währenddessen freundlich zu mir.
„Wie geht es Ihnen heute?“
„Ganz gut. Wann komm´ ich ´raus?“
„Mal langsam, Herr Müller! Heut` noch nicht.“
Ich ärgere mich. Eigentlich wollte ich heute an meinem neuen Roman weiterschreiben. Ich liege verdrießlich in meinem Bett. Das Krankenzimmer ist in heller, weißer Farbe gestrichen. Die Betten lassen einen Durchgang
von circa einen Meter fünfzig. Ich warte, bis die Krankenschwester weg ist. Stehe dann auf. Ich taumele etwas, halte mich am Bett fest. Dann gehe ich im Krankenhausnachthemd langsam den Flur entlang. Zwischendurch setze ich mich immer mal hin. Im Bochumer Bergmannsheil war ich das letzte Mal als Kind. Da sehe ich Sabinchen den Flur `runterkommen.-

„Hallo.“
Es klingt etwas tonlos.
„Hallo. Wie geht´s dir?“
Ich frage tatsächlich mit einem gewissen Interesse.
"Nicht gut. Du hattest einen Zusammenbruch."
Ich sage nichts. Ich ziehe sie zu mir hin und küsse sie. Sie freut sich nicht unbedingt darüber.
„Warum hast du nicht angerufen?“
„Ich hatte viel zu tun.“
Es klingt fast entschuldigend.
„Man hört so einiges über dich. Du wärst der Partykönig.“
Ich schweige.
Die berühmten drei Worte kommen mir einfach nicht über die Lippen.
Sabine dreht sich um und geht.-

Ich bin beim Packen. Ich werde fertig, verabschiede mich von meinem Nachbarn. Dann verlasse ich das Zimmer. Auf dem Flur begegne ich noch einmal der Krankenschwester.
„Herr Müller! Wo wollen Sie denn hin?“
„Nach Hause.“
„Wie, nach Hause?“
„Ja, nach Hause eben!“
„Das geht aber nicht!“
„Sehen Sie doch!“
„Moment, Herr Müller! Da müssen Sie erst noch mit zum Arzt!“
„Wieso das denn?“
„Die Entlassungspapiere fertig machen!“
Ich gehe widerwillig mit. Der Arzt sieht nur kurz auf.
„Kreislaufzusammenbruch. Entlassen auf eigene Gefahr.“-

Ich sitze endlich wieder zuhause am Schreibtisch. Der neue Roman ist erst zwei Seiten alt. Als ich die dritte Seite anfangen will, klingelt das Telefon.
„Hallo, Sascha! Hier ist dein alter Freund Thomas!“
„Hallo.“
„Auf welchem Planeten hast du dich denn versteckt?“
„Sehr witzig. Ich war im Krankenhaus.“
„Hab` schon gehört. Hast zuviel gefeiert, was?“
„Ja.“
Ich bin etwas kleinlaut.
„Ich hatte einen Zusammenbruch.“
„Wie, Zusammenbruch?“
„Na, ja.“
Ich druckse `rum.
„Kokain halt.“
Am anderen Ende der Leitung entsteht eine Pause.
„Bist du bescheuert?“
„Ja, hast du das denn nicht in der Zeitung gelesen?“
„Nee, Sascha. Ich war im Urlaub.“
„Sabine hat auch Schluss gemacht.“
Wieder Pause.
„Das wundert mich nicht. Bist ja auch ´n ziemlicher Arsch geworden in letzter Zeit.“
„Warum das denn?“
„Ja, weil das halt so ist. Egoistisch ohne Ende. Meldest dich nicht. Kein Verlass mehr.“
„Was soll das denn jetzt?“
„Ja, Sascha. Ich hab` dir immer schon gesagt, wie`s ist. Und früher hat das auch funktioniert.“
„Und jetzt nicht mehr, oder was?“
„Jetzt nicht mehr.“
Ich knalle wutentbrannt den Hörer auf.-

„Hey, Sascha! Lange nicht gesehen! Wo warst du denn so lange, altes Haus?“
Karl-Heinz, der Verleger, begrüßt mich mit gewohnter Vertrautheit.
„Im Krankenhaus.“
Mir ist es fast peinlich.
„Ach, Junge, Kopf hoch! Hier hast du ´nen Cocktail.“
Er gibt mir einen Blue Curacao. Mir schmeckt`s.-

Ich bin dann doch wieder fleißig, und sitze an den Seiten dreißig bis vierzig. Es fließt mir aus den Fingern. Ich baue Spannung auf und finde mich grad´ sehr unterhaltsam, als es schellt. Ich öffne die Tür. Es ist Natascha, die schöne Tänzerin. Sie möchte etwas mit mir feiern. Das kleine weiße Pulver hat sie auch dabei. Nachdem wir die erste Line gezogen haben, passiert es. Ich breche zusammen.
„Oh Darling! What happened?“
Ich schreie.
„Ich kann nicht mehr!“
Dann falle ich in Ohnmacht.-

Als ich erwache, ist niemand da. Mein Körper schmerzt an jeder Stelle. Das Krankenzimmer sieht grau aus. Ich drehe den Kopf nach links. Es tut weh. Das Bett neben mir ist leer. Als ich aus dem Fenster schaue, sehe ich in einen verregneten grauen Himmel. Ich will nicht drüber nachdenken. Nach einer langen Zeit quälenden Wartens öffnet sich endlich die Tür. Eine Krankenschwester erscheint.
„So, Herr Müller. Setzen Sie sich mal bitte auf!“
Ich quäle mich in sitzende Haltung. Die Krankenschwester misst den Puls. Dann sticht sie mir eine Nadel in den Arm.
Ich schreie fast.
Ich sehe, wie mein Blut durch den dünnen Plastikschlauch fließt. Endlich ist die Krankenschwester fertig und geht wieder. Erneut zieht sich die Zeit wie Kaugummi. Ich habe Durst. Ich klingel. Nach einer Weile erscheint erneut die Krankenschwester.
„Sie wünschen?“
Es klingt unfreundlich.
„Hätten Sie vielleicht ein Glas Wasser?“, frage ich matt.
„Moment.“
Sie verschwindet und erscheint kurze Zeit später wieder. Stellt das Glas Wasser auf das Beistelltischchen und geht. Ich sinniere. Zum ersten Mal im Leben zweifel' ich an mir. Mit zitternder Hand nehme ich das Glas Wasser. Ich bringe zwei hastige Schlückchen fertig. Dann stelle ich es schnell ab.
Ich will lesen.
Es ist nichts zum Lesen da.-

Zwei Wochen später bin ich zuhause. Ich sitze vor dem Computer.
Schreibe.
Habe keinen zum Reden.
Schreibe.
Dann rufe ich Bettina an:
„Hallo Bettina,“ sage ich freundlich.
„Wie geht es dir?“
Schiebe ich noch nach. Zögern am anderen Ende der Leitung.
„Wie immer. Lange nichts gehört.“
„Ja, Entschuldigung. Ich hab`s etwas übertrieben.“
„Nicht zum ersten Mal.“
„Ja. Tut mir leid.“
„Und? Wie geht`s jetzt weiter?“
„Ich hab` wieder angefangen zu schreiben.“
„Aha.“
Bettina klingt wenig begeistert.
„An meinem neuen Roman.“
Ich warte auf eine Antwort.
Vergeblich.-

Ich hocke mal wieder zuhause. Vergeblich habe ich auf einen Anruf meines Verlegers gewartet. Wie ich in letzter Zeit auf so viele Anrufe gewartet habe. Der Anruf, der jetzt kommt, entpuppt sich als echte Scheiße:
„Hi Sascha. This is Natascha speaking. Ich will mal wieder was probieren! Hast du was da?“
Ich muss bald kotzen!
„Ach, Natascha! Leck` mich doch am Arsch!“
Damit ist das Telefonat beendet. Ich sitz' wieder da. Bin melancholisch. Keiner ruft an. Und ich selbst? Ich habe eine unbestimmte Ahnung, dass es nicht mehr weitergeht.-

Nach drei Wochen weiterer Lethargie klingelt dann doch einmal das Telefon.
„Hallo Sascha! Eigentlich wollte ich dich nie wieder anrufen!“
„Wer ist denn da?“
„Erkennst du mich nicht?“
„Nein.“
„Hier ist Bettina.“
„Ach, Bettina. Wie geht´s?“
„Gut! Und selbst?“
„Geht so.“
„Schreibst du noch?“
„Joah. So zwei, drei Zeilen am Tag.“
„Bisschen wenig, oder?“
„Findest du?“
„Ja. Tust dir auch selber leid, oder?!“
Ich schweige.
„Sascha!“
„Ja.“
Ich bin müde.
Habe keine Lust zu reden.
„Warum soll ich schreiben? Interessiert doch sowieso keinen!“
„Mich interessiert es.“
Ich schweige.
„Wirklich?“
„Ja.“
„Na, dann.“
„Pass mal auf. Ich bin sowieso grad` in Essen. In `ner halben Stunde kann ich in Bochum sein. Lass uns doch irgendwo in der Stadt treffen.“
„Keine Lust.“
„Warum nicht?“
„Zuhause ist es schöner.“
Bettina legt auf.-

Ich schreie `rum. Nix klappt. Warum auch? Ist doch sowieso alles Mist. Die Freundin – weg. Die andere Freundin – weg. Mein bester Kumpel – weg. Was ist mir geblieben?-

Ganz kurz überlege ich, bei meinen Eltern in Marbella anzurufen. Die sind da schon seit drei Monaten. Meine Hand geht zum Hörer. Ich tippe mit den Fingern drauf. Überlege. Lasse es dann.
Der Spiegel im Badezimmer zeigt eine hagere, bleiche Gestalt mit strähnigem Haar und roten Augen. Ich bin jetzt den dritten Tag nicht draußen.
Plötzlich schellt´s.
Ich bin nicht da.
Es schellt noch einmal.
Ich schlurfe zur Haustür `runter.
Mache auf.
Es ist Thomas.
„Ach. Das ist ja ´ne Überraschung.“
„Hallo Sascha. Wie geht´s dir?“
„Geht so.“
Ich bitte ihn nicht `rein.
„Hm hm.“
Ich mache die Tür zu.
Einige Momente passiert nichts.
Dann schellt es wieder. Ich zögere.
„Was willst du?“
Ich frage durch die geschlossene Tür.
„Mit dir reden.“
„Wozu?“
„Weil `s dir beschissen geht.“
„Das geht dich `n Scheißdreck an.“
„Wieso das denn?“
„Weil du mich hast hängen lassen. Jetzt brauchst du auch nicht mehr kommen.“
„Komm´ mal klar. Du hast den Partykönig gemimt.“
Ich schweige.
Zögere noch einen Augenblick.
Dann öffne ich die Tür.
„Dann komm` halt `rein.“
Wir geh´n ins Wohnzimmer und setzen uns jeder in einen Sessel. Eine Zeitlang sagt keiner was.
„Willst du was trinken?“
Meine Stimme klingt immer noch unfreundlich.
„Vielleicht ein Wasser?“
Ich hol' eine Flasche und zwei Gläser. Ich schenke erst mir ein, dann Thomas. Thomas nimmt einen Schluck.
„Sascha, das geht so nicht weiter mit dir. Du musst was tun. Geh´ doch mal wieder joggen.“
„Erzähl` du mir nicht, was ich tun soll!“
Ich sitze da wie ein Häufchen Elend, zusammengesunken in meinem Sessel. Stiere aus roten Augen vor mich hin.
„Es wäre schade um dein Talent.“
Thomas lässt nicht locker.
„Mein Talent ist mir scheißegal.“
„Was ist denn mit Sandra?“
„Weg.“
„Wie, weg?“
„In Düsseldorf. Zum Studieren.“
„Ach so.“
„Und Sabine?“
„Weg. Hat Schluss gemacht.“
Ich schaue betreten zu Boden.
„Erst zwei Frauen, dann gar keine mehr.“
Thomas` Stimme klingt bedauernd.
„Und der Roman?“
„Mir fällt nichts ein. Außerdem hab` ich auch kein Bock.“
„Hm hm.“
Ich sitze zusammengesunken in meinem Sessel. Eine Zeitlang geht nichts.
Dann schellt es erneut.
Ich schlurfe zur Tür.
Mach' auf.
Bettina ist da.
„Darf ich `reinkommen?“
„Meinetwegen.“
Wir geh`n ins Wohnzimmer. Nachdem Bettina und Thomas sich bekannt gemacht haben, setzt sich Bettina auch in einen Sessel. Eine Zeitlang herrscht betretene Stille.
„Sascha. So kann`s nicht weitergeh´n. Du gehst jetzt mit Thomas zum Joggen.“
„Nein.“
„Lusche, Flasche, eins, zwei, drei. Hoch!“
Ich will gar nicht. Bettina und Thomas gehen zu mir hin. Und ziehen mich hoch. Ich sträube mich.
Bettina haut mir eine `runter.
Ich schrei:
„Bist du bescheuert!“
„Nein, Sascha, du bist bescheuert. Du kommst jetzt mit.“
Sie geh`n mit mir ins Kinderzimmer. Da lassen sie mich mit meinem Jogginganzug allein.
Nach zehn Minuten komm' ich umgekleidet wieder `raus.
Ich wirke bei weitem nicht so fit wie früher.
Man erkennt aber in Ansätzen den früheren Sportler.-

- Ende -
 



 
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