Lust auf Neubauten

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wowa

Mitglied
Lust auf Neubauten


Die Krähen schrein
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
- bald wird es schnein,
Weh dem, der keine Heimat hat !
F. Nietzsche Vereinsamt



Rinaldo Caspecha stößt die Hände tief in die Taschen, zieht fröstelnd die Schultern hoch und saugt geräuschvoll die kalte Luft ein. Es herrscht noch Nacht an diesem frühen Wintermorgen, doch die Stadt schläft schon lange nicht mehr. In den Straßen brüllt der Verkehr und mißmutige, schwarz gekleidete Menschen hasten schweigend in die Bahnhöfe.
Rinaldo Caspecha starrt stumm in den reißenden Leiberstrom. Sein stehendes Dasein ist eine Provokation, das flutende Publikum streift ihn mißtrauisch aus den Augenwinkeln. Zeit in dieser frühen Stunde ist knapp und wer viel davon hat, verdächtig. Den offen feindseligen Blicken einiger begegnet Rinaldo mit Gleichmut. Alle Eindrücke des Augenblicks sind ihm vertraut, er fühlt nichts.
Die Geräusche durchqueren die Physis widerstandslos, sein Kopf ist ein Hohlraum voller Echos.
Er schließt die Augen und lauscht in die Leere.
Ein schleppender, stolpernder Rhythmus ergreift ihn, taktlos, endlos. Sprachfetzen setzen Kontrapunkte, helle, klare Frauenstimmen bilden die Soloinstrumente, ein plötzliches, schneidendes Gelächter, exakt getimt: Rinaldo öffnet die Augen und lächelt.
Kein Zweifel, dieser Morgen hat Musik.
Er kauft am Imbiß einen Kaffee, trinkt und fühlt sich lebendig. Etwas ist anders.
Schon die Nacht war tief und traumlos gewesen, er war friedlich frierend erwacht, ungläubig angstlos und ohne Schrei. Die bleichen Grimassen, die er oft auch tagsüber sieht, wenn er unbedacht die Augen schließt, waren ausgeblieben.
Sie werden wiederkommen, dessen ist er sicher.
Ein Trauma lößt sich nicht einfach so auf und seins schon mal gar nicht. Dafür ist die Geschichte zu krass. Aber vielleicht, wenn sie ihn nicht mehr so bedrängen, wenn sie nicht mehr so allgegenwärtig sind, wenn er nicht mehr mit dem Rücken zur Wand seinen letzten Rest Verstand gegen ihre Befehle verteidigen muß, wenn er ein bißchen zur Ruhe kommt, kopfmäßig, meine ich, vielleicht kann er dann ja irgentwann mal darüber sprechen.
Voraussetzung dafür ist Ruhe in der Birne, ohne die geht`s nicht.
Rinaldo Caspecha holt sich noch einen Kaffee.
Vorhin, diese Leere im Kopf, die sich dann langsam mit Musik füllte, das war berauschend. Die Melodie der Straße, alle machen sie, aber keiner hört sie. Keine Zeit, kein Gefühl, andre Sorgen, Ignoranten, Heuchler, Irre.
„Selber irre,“ sagt Ronaldo und erschrickt über seine Stimme. Er schaut sich um. Alle wirken kontrolliert, niemand beachtet ihn. Diese Kontrolle hat er verloren, das ist der Unterschied. Deshalb hört er in günstigen Momenten anderes als die. So gesehen, eine Chance.
Er könnte dem musikalischen Potential des Alltags eine Form, einen Ausdruck geben. Wenn er die richtige Frequenz trifft, könnte er die Verhältnisse zum Tanzen bringen. Alles eine Frage der Eigenschwingung.
Der Groove der täglichen Wiederkehr, in die Richtung sollte er weiterdenken. Ihm fallen die Neubauten ein und er verspürt plötzlich eine unbändige Lust auf deren Musik. Sowas ist ihm schon lange nicht mehr passiert.
Vielleicht geht ja doch noch was.
 
G

Gelöschtes Mitglied 4259

Gast
Hallo Wowa,

die kleine Geschichte rührt mich an. Du beschreibst einen Traumatisierten auf äußerst gut nachvollziehbare Weise. Man wünscht niemandem solche Erfahrungen, ich vermute aber, das Schicksal hat sie Dir nicht erspart...

Dem Text kann ich aber auch entnehmen, dass Du gegen das Trauma angekämpft hast und es in seiner Präsenz und Wirkung kleiner machen konntest.

Besonders schön: die Verbindung zur Musik. Eigentlich ist alles Musik, die ganze Welt besteht aus Schwingungen, Resonanzen, tiefen und hohen Tönen, schrillen, einschmeichelnden; sie besteht aus Melodien und Harmonien, Disharmonien, sie groovt und jodelt, singt und schwingt...

Kleiner Hinweis: "irgentwann" wird wohl überwiegend als "irgendwann" geschrieben; eventuell könnte man den Text durch Absätze stärker gliedern (das hast Du vll. auch getan, ich weiß, dass Absätze, in word eingegeben, im LL-System verschwinden).

Schönen Gruß

P.
 

wowa

Mitglied
Lust auf Neubauten


Die Krähen schrein
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
- bald wird es schnein,
Weh dem, der keine Heimat hat !
F. Nietzsche Vereinsamt



Rinaldo Caspecha stößt die Hände tief in die Taschen, zieht fröstelnd die Schultern hoch und saugt geräuschvoll die kalte Luft ein. Es herrscht noch Nacht an diesem frühen Wintermorgen, doch die Stadt schläft schon lange nicht mehr. In den Straßen brüllt der Verkehr und mißmutige, schwarz gekleidete Menschen hasten schweigend in die Bahnhöfe.
Rinaldo Caspecha starrt stumm in den reißenden Leiberstrom. Sein stehendes Dasein ist eine Provokation, das flutende Publikum streift ihn mißtrauisch aus den Augenwinkeln. Zeit in dieser frühen Stunde ist knapp und wer viel davon hat, verdächtig. Den offen feindseligen Blicken einiger begegnet Rinaldo mit Gleichmut. Alle Eindrücke des Augenblicks sind ihm vertraut, er fühlt nichts.
Die Geräusche durchqueren die Physis widerstandslos, sein Kopf ist ein Hohlraum voller Echos.
Er schließt die Augen und lauscht in die Leere.
Ein schleppender, stolpernder Rhythmus ergreift ihn, taktlos, endlos. Sprachfetzen setzen Kontrapunkte, helle, klare Frauenstimmen bilden die Soloinstrumente, ein plötzliches, schneidendes Gelächter, exakt getimt: Rinaldo öffnet die Augen und lächelt.
Kein Zweifel, dieser Morgen hat Musik.
Er kauft am Imbiß einen Kaffee, trinkt und fühlt sich lebendig. Etwas ist anders.
Schon die Nacht war tief und traumlos gewesen, er war friedlich frierend erwacht, ungläubig angstlos und ohne Schrei. Die bleichen Grimassen, die er oft auch tagsüber sieht, wenn er unbedacht die Augen schließt, waren ausgeblieben.
Sie werden wiederkommen, dessen ist er sicher.
Ein Trauma lößt sich nicht einfach so auf und seins schon mal gar nicht. Dafür ist die Geschichte zu krass. Aber vielleicht, wenn sie ihn nicht mehr so bedrängen, wenn sie nicht mehr so allgegenwärtig sind, wenn er nicht mehr mit dem Rücken zur Wand seinen letzten Rest Verstand gegen ihre Befehle verteidigen muß, wenn er ein bißchen zur Ruhe kommt, kopfmäßig, meine ich, vielleicht kann er dann ja irgendwann mal darüber sprechen.
Voraussetzung dafür ist Ruhe in der Birne, ohne die geht`s nicht.
Rinaldo Caspecha holt sich noch einen Kaffee.
Vorhin, diese Leere im Kopf, die sich dann langsam mit Musik füllte, das war berauschend. Die Melodie der Straße, alle machen sie, aber keiner hört sie. Keine Zeit, kein Gefühl, andre Sorgen, Ignoranten, Heuchler, Irre.
„Selber irre,“ sagt Ronaldo und erschrickt über seine Stimme. Er schaut sich um. Alle wirken kontrolliert, niemand beachtet ihn. Diese Kontrolle hat er verloren, das ist der Unterschied. Deshalb hört er in günstigen Momenten anderes als die. So gesehen, eine Chance.
Er könnte dem musikalischen Potential des Alltags eine Form, einen Ausdruck geben. Wenn er die richtige Frequenz trifft, könnte er die Verhältnisse zum Tanzen bringen. Alles eine Frage der Eigenschwingung.
Der Groove der täglichen Wiederkehr, in die Richtung sollte er weiterdenken. Ihm fallen die Neubauten ein und er verspürt plötzlich eine unbändige Lust auf deren Musik. Sowas ist ihm schon lange nicht mehr passiert.
Vielleicht geht ja doch noch was.
 

wowa

Mitglied
Hi, Penelopeia!
Danke für Deinen Kommentar. Schön, daß Dir der Text gefällt und Dich berührt. Dein Mitgefühl allerdings habe ich nicht verdient, auch wenn der Text es nahelegen mag: trifft wohl besonders auf die Stelle zu, wo mit dem "..., meine ich,..." ein Perspektivwechsel angedeutet ist.
Ein Kunstgriff, um die Problematik des Protagonisten ein wenig zu verallgemeinern.
Im übrigen sehe ich es durchaus als einen Erfolg meiner Lebensführung an, bisher noch nicht verrückt geworden zu sein. In meinem Umfeld hatten nicht alle soviel Glück.
Alles Gute Wowa
 

wowa

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Die Krähen schrein
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
- bald wird es schnein,
Weh dem, der keine Heimat hat !
F. Nietzsche Vereinsamt



Rinaldo Caspecha stößt die Hände tief in die Taschen, zieht fröstelnd die Schultern hoch und saugt geräuschvoll die kalte Luft ein. Es herrscht noch Nacht an diesem frühen Wintermorgen, doch die Stadt schläft schon lange nicht mehr. In den Straßen brüllt der Verkehr, und missmutige, schwarz gekleidete Menschen hasten schweigend in die Bahnhöfe.
Rinaldo Caspecha starrt stumm in den reißenden Leiberstrom. Sein stehendes Dasein ist eine Provokation, das flutende Publikum streift ihn misstrauisch aus den Augenwinkeln. Zeit in dieser frühen Stunde ist knapp und wer viel davon hat, verdächtig. Den offen feindseligen Blicken einiger begegnet Rinaldo mit Gleichmut. Alle Eindrücke des Augenblicks sind ihm vertraut, er fühlt nichts.
Die Geräusche durchqueren die Physis widerstandslos, sein Kopf ist ein Hohlraum voller Echos.
Er schließt die Augen und lauscht in die Leere.
Ein schleppender, stolpernder Rhythmus ergreift ihn, taktlos, endlos. Sprachfetzen setzen Kontrapunkte, helle, klare Frauenstimmen bilden die Soloinstrumente, ein plötzliches, schneidendes Gelächter, exakt getimt: Rinaldo öffnet die Augen und lächelt.
Kein Zweifel, dieser Morgen hat Musik.
Er kauft am Imbiss einen Kaffee, trinkt und fühlt sich lebendig. Etwas ist anders.
Schon die Nacht war tief und traumlos gewesen, er war friedlich frierend erwacht, ungläubig angstlos und ohne Schrei. Die bleichen Grimassen, die er oft auch tagsüber sieht, wenn er unbedacht die Augen schließt, waren ausgeblieben.
Sie werden wiederkommen, dessen ist er sicher.
Ein Trauma löst sich nicht einfach so auf und seins schon mal gar nicht. Dafür ist die Geschichte zu krass. Aber vielleicht, wenn sie ihn nicht mehr so bedrängen, wenn sie nicht mehr so allgegenwärtig sind, wenn er nicht mehr mit dem Rücken zur Wand seinen letzten Rest Verstand gegen ihre Befehle verteidigen muss, wenn er ein bisschen zur Ruhe kommt, kopfmäßig, meine ich, vielleicht kann er dann ja irgendwann mal darüber sprechen.
Voraussetzung dafür ist Ruhe in der Birne, ohne die geht`s nicht.
Rinaldo Caspecha holt sich noch einen Kaffee.
Vorhin, diese Leere im Kopf, die sich dann langsam mit Musik füllte, das war berauschend. Die Melodie der Straße, alle machen sie, aber keiner hört sie. Keine Zeit, kein Gefühl, andre Sorgen, Ignoranten, Heuchler, Irre.
„Selber irre“,sagt Ronaldo und erschrickt über seine Stimme. Er schaut sich um. Alle wirken kontrolliert, niemand beachtet ihn. Diese Kontrolle hat er verloren, das ist der Unterschied. Deshalb hört er in günstigen Momenten anderes als die. So gesehen, eine Chance.
Er könnte dem musikalischen Potential des Alltags eine Form, einen Ausdruck geben. Wenn er die richtige Frequenz trifft, könnte er die Verhältnisse zum Tanzen bringen. Alles eine Frage der Eigenschwingung.
Der Groove der täglichen Wiederkehr, in die Richtung sollte er weiterdenken. Ihm fallen die Neubauten ein und er verspürt plötzlich eine unbändige Lust auf deren Musik. Sowas ist ihm schon lange nicht mehr passiert.
Vielleicht geht ja doch noch was.
 



 
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