Märchen von der verlorenen Zeit

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Herr Müller

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Ich bin mir nicht sicher, ob ich hier richtig bin, oder das ganze in die Rubrik Kindergeschichten gehört. Für mich ist es ein Märchen für Kinder und Erwachsene.

Die verlorene Zeit

Es war mal einmal ein König, der fühlte sich sehr alt,
einsam und von traurigem Herzen.
Niemand im ganzen Königreich hatte in den letzten Sommern
und Wintern jemals sein Lachen vernommen. Er ritt nicht
mehr aus, gab keine Feste und ließ seinen Bart lang auf den
Boden wachsen.

„Oh, wenn ich doch nur die Zeit zurückdrehen oder
wenigstens anhalten könnte, dann würde ich mich eines
besseren, lustigeren Lebens besinnen. Ich habe viel Zeit
verschenkt, kein Weib je geliebt und keine Nachfahren
gezeugt.“, schluchzte der König in sein Kissen aus zeitlos
schöner Seide. „Ich werde sterben und niemand wird um mich
weinen“.

In letzter Verzweifelung befahl er seinem Hofe, alle
Gelehrten und Zauberer des Landes herbei zu rufen, um die
Zeit zurückzudrehen oder wenigstens anzuhalten. Wem es
gelänge, das Unmögliche möglich zu machen, dem versprach er
das halbe Königreich und all seine goldenen Uhren und
Kutschen. Eine Tochter konnte er nicht versprechen, denn er
hatte ja keine Kinder.

Aus allen Teilen des Landes eilten sie herbei und
versuchten ihr Glück. Die Gelehrten bauten komplizierte
Zeitmaschinen, kletterten auf alle Turmuhren des Landes,
umwickelten die Zeiger mit Seilen und ließen Pferde daran
ziehen, um so die Zeit anzuhalten. Allein die Zeit lief
weiter, unaufhaltsam.

Die Schlauesten des Landes waren sich
nun sicher, dass die Sonne daran schuld war. Man wollte sie
auspusten, zuhängen oder Ertränken im Meer für immer. Nur
wie? Der Weiseste unter den Weisesten wusste zu berichten,
dass sich nicht die Sonne um die Erde drehte, sondern sich
die Erde um die eigene Achse und um die Sonne. Da beschloss
man im ganzen Land Steine zu sammeln, um einen großen
Haufen zu machen, damit sich die Erde durch die große Last
nicht mehr drehen und bewegen möge.

Allein die Erde und die Sonne schienen über alles zu lachen
und wechselten fortan noch schneller vom Tag in die winter-
liche Nacht. Nicht nur der Bart des Königs, auch der Unmut
wuchs und wuchs. Die Zauberer warfen so manches Pulver in
die Luft und über die Schulter.

Dem König fror sein Bart und sein Magen krampfte voller
Traurigkeit und ohnmächtiger Wut. Ja sein Herze wird wohl
stehen bleiben, aber nicht die Zeit, dachte er bei sich und
fiel des Lebens müde in einen tiefen Schlaf.

Nun begab es sich, das eine armselige verschmutze Gestalt
im dünnen Gewande um Schutz vor der winterlichen Kälte und
um Einlass ins königliche Schloss bat. Die Wächter, derer
Gestalten überdrüssig, versperrten den Weg, stießen mit
ihren Lanzen das Wesen in den Schnee und lachten laut und
schadenfroh, bis der König von solch Unruh böse aus dem
Schlaf erwachte und aus dem königlichen Fenster schrie, was
es da zu Lachen gäbe, wo er doch selbst so betrüblich im
Sterbebette liege.

Man habe einen Schmutzfink in den Schnee zum Waschen
gestoßen und der schlage halt so laut mit den Flügeln,
wusste die Wache zu berichten, wobei sie wieder in
schallendes Gelächter verfiel. Da wurde es dem König zu
viel. „Bringt mir den Vogel in mein königliches Gemach“
rief er.

Die feinen Damen und Herren des Hofes erstarrten. Solch ein
Schmutz in unseren sauberen reinen Gemächern? Das gehe wohl
zu weit. Nur widerwillig ließ man unter Einhaltung eines
gehörigen Abstandes diese Beleidigung der Nase passieren.
„Gebt ihm ein Bad und frische Kleider, dann möge man ihn
mir vorführen“. Mit lautem Gemurmel und heftigen
Missfallensbekundungen kam man den Wünschen des Königs
nach.

Wie traute man da den Augen nicht, als eine Frau dem Bade
entstieg und sich in die samtigen und seidenen Stoffe der
Kleider hüllte. Andächtig ging sie gesenkten Hauptes zum
König und verneigte sich tief. Der König beschämt, befahl
ihr von Angesicht zu Angesicht zu berichten, wer sie sei
und wohin sie zu gehen gedenke. „Ich bin gekommen, um Dir
Deine verlorene Zeit zurückzugeben“, flüsterte sie und
küßte dem König die Hand.

Der König mit geröteten Wangen wunderte sich sehr. "Sag,
wie willst Du das machen?". Da wurde sie sehr ernst und
berichtete, warum sie in einem so jämmerlichen Zustand auf
das Schloss gekommen war, dass das ganze Volk vor den
Mauern des Schlosses unter der grausamen Macht des
königlichen Gefolges litt. Er, der König habe sich ja nicht
mehr um das Leid der Menschen gekümmert, das Land war
verkommen und jeglicher Freude entzogen.

Als der König das hörte, geriet er in eine solche Wut, dass
es nur so krachte. Er rief alle zu sich und verkündete:
„Höret, was ich Euch zu sagen habe. Die Zeit ist nicht nur
stehen geblieben, sie hat sich sogar rückwärts gedreht.
Es gilt, was in meinem Lande zu verändern, die Wut verleiht
mir ungeahnte jugendliche Kräfte. Und schickt alle
Gelehrten und Zauberer nach Haus. Ich habe mein Leben
wieder gefunden. Auch wenn es Winter ist, in meinem Herzen
ist Frühling. Nur die Liebe vermag das Unmögliche möglich
zu machen.“ Sprachs und machte sich auf den Weg, um im Land
so richtig aufzuräumen. Er half den Armen, wo er nur helfen
konnte. Er half den Kranken und Schwachen und er half sich
selbst so am meisten.

Dann rief der König die Hochzeit aus und es gab ein großes
Fest, welches sieben Tage und sieben Nächte dauerte. Im
Herbst des Jahres schenkte ihm seine Frau ein Kind, mit dem
er fortan auf dem königlichen Fußboden um die Wette
krabbelte. So geschah es, das ein einfaches Wesen dem König
seine verlorene Zeite wieder schenkte. Und wenn er nicht
gestorben ist, dann krabbelt er noch heute, mit seinen
Enkeln.
 

anemone

Mitglied
schöne Geschichte, aber

bin sicher, Herr Müller, einem König wird immer etwas Hübsches auf sein silbernes Tablett springen.

Die Wiederholung ist die Mutter der Wissenschaften
(anscheinend in der Neuzeit aufgekommene Wendung)

lG
 

Herr Müller

Mitglied
Hallo Anemone

Du hast Recht. Wenn es Dich interessiert, ich habe die letzten 4 Absätze abgeändert. Vielleicht gefällt es Dir.

Danke für Deine Kritik, sie hat mir sehr geholfen.
Herr Müller
 



 
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