Märchenland - Teil 5 - Liebe Liebe

Camaun

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MÄRCHENLAND - TEIL 5

Liebe Liebe

Für Daniela


Schemenhaft huschte sein Umriss von der Eingangstür des für ihn noch namenlosen Gasthauses hinfort, schnell und geschwind, ohne den Boden zu berühren trug ihn sein Wille zur nächsten Hausecke.
Wie ein leiser Hauch im Wind, verschwommen und fahrig war sein Bild in diesem Moment.
Nahezu gestaltlos und verzerrt und doch auf eine sonderbare Art und Weise präsent, so daß sich jeder, der sich in diesem Moment auf der Straße befand nach ihm umdrehte und erstaunt die Augen aufriss, weil er nicht glauben konnte, was ihm da seine Augen vorzumachen versuchten.
Keuchend ging sein Atem und Schweiß stand auf seiner Stirn.
Die Zähne hatte er fest zusammen gebissen und auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von verzweifeltem Schmerz, der seine Züge zu einer regelrechten Fratze verformte. In seinen Augenwinkeln konnte er schon die ersten Ansätze von Tränen spüren, doch plötzlich aufkeimende Wut in ihm verdrängte sie wieder.
Tief in ihm konnte er leise die Stimme seines lehrenden Geistes hören, die verzweifelt nach ihm rief und versuchte ihn wieder bei der Hand zu nehmen um ihm zu helfen, doch Camaun konnte im Moment einfach nicht anders.
Es brannte heiß und kalt gleichzeitig in seinem Inneren und er wollte nur noch fort.
Wieder fort.
Verschwinden.
Rennen!
Verbrennen!
Wieder sprang sein Abbild einen großen Satz nach vorne, zwischen Passanten und Häusern hindurch, bis an den Ortsrand dieser kleinen idyllisch wirkenden Stadt, sah man von dem palisadenartigen Zaun ab.
Erschrockene Rufe hallten durch den Abend und ein alter Mann griff sich vor lauter Schreck an sein Herz, welches in diesem Moment schon fast das Schlagen aufhören wollte.
Manche riefen, es seien Geister in der Stadt und andere griffen das auf, so daß innerhalb von Minuten die ganze Bevölkerung in fast kopflose Panik ausbrach.
Camaun registrierte das nur am Rande, setzte seinen rechten Fuß auf einen kopfgroßen Stein am Wegesrand, beugte seinen Oberkörper etwas nach vorne und atmete wieder schwer.
Ein steinerner Kloß schien in seinem Hals zu sitzen, denn sein ganzer Kehlkopf fühlte sich plötzlich zehnmal so groß wie vorher an.
Pelzig und haarig...
Krampfhaft ballte er seine Fäuste und knirschte mit seinen Zähnen, presste seine Augenlieder mit aller Macht aufeinander, solange bis er tanzende bunte Flecken in der Dunkelheit sah.
Es tat noch nicht weh...
Dazu war es einfach noch zu früh... er war fassungslos...
Ungläubig... er konnte nicht realisieren... nicht verarbeiten... nicht mehr denken...
Er konnte nichts mehr...
Schwungvoll stieß er sich dann mit seinem rechten Bein von dem kleinen Felsen ab, sprang weit nach vorne und huschte urplötzlich in eine völlig andere Richtung weiter, wieder ohne auch nur einen Fuß auf den Boden zu setzen.
Schreie tönten Laut hinter ihm und er konnte sogar kurz das metallische Klirren von irgendwelchen, höchstwahrscheinlich scharfen Gerätschaften hören, die ihm alle auf einmal wohl nicht mehr wohlgesonnen waren.
Rasend schnell zog die Landschaft an seinen nur halb geöffneten Augen vorbei, als er sich mit schier atemberaubender Geschwindigkeit westwärts von Talinera weg bewegte.
Sein ganzer Körper war angespannt, sein Geist gefangen in einem einzigen Gedanken und sein Herz wusste nicht ob es nun weiterschlagen sollte, oder lieber darauf verzichten um so Camaun weitere Schmerzen zu ersparen, die es ihm mit jedem weiteren Pumpen des Blutes durch seine Adern verursachte.
Wie Donnerschläge hämmerte es ihm durch den Kopf...
Als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, streckte er dann mitten im Flug seine Beine nach vorne und landete kurz am Fuße eines kleinen Hügels, auf dem vereinzelt einige Bäume wuchsen, die in unregelmäßigen Abständen große verworrene Schatten auf den Grasboden warfen.
Nach allen Gesetzen der Schwerkraft hätte sein Körper bei diesem Tempo schlichtweg zerbrechen müssen, als er fast ohne zeitliche Verzögerung schlagartig zum halten kam.
Doch das tat er nicht, denn ganz in Gedanken, stieß er sich wieder ab und landete Sekunden später ein ganzes Stück weiter oben, wobei er sich im Fluge um seine eigene Achse drehte und rücklings ins Gras fiel.
Mit einem dumpfen Schlag wich ihm die Luft aus den Lungen... doch er ignorierte den tauben Schmerz in seinem Körper, hielt den Atem an und sog nach einiger Zeit wieder den Sauerstoff zurück in seine brennenden Lungen.
Das weiche Gras kitzelte seine Haut, als er seinen Kopf auf den Boden presste und mit trockenen Augen in den Himmel starrte.
Seine Zehen kribbelten und als sich die ganze Anspannung seiner Muskeln langsam legte, stieß Camaun einen langen und gequälten Seufzer aus, in den sich ein leiser Schrei mit hinein mischte, gerade laut genug, daß er ihn selbst bemerken konnte.
Noch immer weigerte sich sein gemarterter Geist darüber nach zu denken, was geschehen war.
Es ging einfach nicht, Camaun war wie blockiert in seiner völligen Ungläubigkeit über das was er gerade erlebt und gesehen hatte.
Was...
Was?
Was... was... was...?!
Hart schlug er seine Fäuste in den Erdboden und bog seinen Rücken zurück, so daß er das Gras nur noch mit seinem Hinterkopf und seinen Fersen berührte.
Der nächste Schrei war laut...
Und lang...
Es brach aus ihm heraus, wie eine Flutwelle, die gegen eine Kaimauer knallte. Jede Faser seines Körpers schrie mit ihm und ließ die Verzweiflung und die Ohnmacht Gestalt werden.
Sein Geist peitschte ihn durch den Rand seiner Gedanken, vergewaltigte sein Denken und trat sein Selbstvertrauen grausam genußvoll durch die weiten seines Kopfes...
Wahnsinn, Unglauben und Wut teilten sich in diesem Moment allein seinen ganzen Körper und dachten nicht daran ihn je wieder frei zu geben. Sein eigener Widerstand begann allmählich wirklich ins Wanken zu geraten.
Die Konstante, die sein ganzes Leben lang bestimmt hatte... sein ureigenster Lebenswunsch, der ihn immer wieder gerettet hatte, der ihn immer wieder führte und leitete, war plötzlich in Gefahr.
Nie zuvor war er so erschüttert gewesen.
Bis in die Grundfesten seiner Überzeugung stieg er hinab. Schlängelte sich, verfolgt vom Feuer des Wahns, durch die dunklen Gänge seines Seins, voller Panik musste er nach vorne robben.
Es war so dunkel...
Tastend und zitternd zog er sich, immer wieder mit vor Schreck geweiteten Augen zurückblickend, durch das weiche Gewebe unter seinen Fingern nach vorne.
Es fühlte sich warm und weich an, fast wie wenn man in den Kadaver eines toten Tieres greift. Ekel stieg in ihm auf, doch als er in diesem pulsierenden Gang aus waberndem Gewebe plötzlich den lodernden Schein des Feuers erblickte, der ihm langsam aber sicher die süße Unkenntlichkeit der Dunkelheit raubte, griff er nur um so fester in diese weiche Masse und zog sich trotz dem ansteigenden Gefühl der Übelkeit immer weiter.
Es roch nach Blut und verbranntem Fleisch.
Hinter ihm konnte er hören, wie sich die Flammen durch das verletzliche Gewebe fraßen, alles vernichtend was ihnen in den Weg kam.
Und er spürte die Hitze an seinen Füßen.
Alles um ihn herum war naß und feucht, widerlich warm und grausam immer deutlicher werdend.
Wie ein Erdbeben durchzuckte den Gang plötzlich ein heftiges Zittern und Camaun spürte einen beissenden Schmerz in seiner Brust.
Wieder musste er schreien, sich an sein Herz greifen und doch weiter fliehen.
Vorgreifen, tief in das weiche Fleisch, sich nach vorne ziehen...
Camaun würgte schwer und all seine Kraft entglitt seiner Kontrolle. Galle tropfte auf die Oberfläche des Gewebes und mit einem mal musste er sich übergeben.
Sein Magen warf sich in ihm hin und her und sein ganzer Hals brannte und nicht einmal die sengende Hitze hinter ihm konnte ihn noch zu weiter robben bringen.
Es war zu spät...
Funken tanzten vor seinen Augen, als er sich ergab.
Wie konnte so etwas nur passieren?
Wieso?
Zitternd sank er wieder in sich zusammen, den Blick starr auf die mittlerweile blutroten Wolken geheftet.

Apathisch lag er im Gras... unfähig auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.
Seine Ohren schmerzten und seine Augen brannten.
Stundenlang...
Bis er sich aufsetzte, weil seine Beine eingeschlafen waren.
Müde rieb er sich die Unterschenkel, als sein Blick auf eine kleine Fliege fiel, die sich neugierig auf seinen linken Stiefel gesetzt hatte.
Ohne nachzudenken betrachtete er sie eine lange Zeit lang, wie sie scheinbar sinnlos hin und her krabbelte und sich von seinen massierenden Händen an seinen Waden nicht stören ließ.
Wieso auch? Sie hatte nichts zu befürchten.
Langsam bewegte sie sich in Richtung seiner Schuhsohle.
Wie wohl die Welt aus der Sicht einer Fliege sein muss, überlegte Camaun und sah ihr zu, wie sie ihren kleinen Rüssel tastend auf dem Leder der Stiefel immer wieder absetzte.
Sie wird wohl nicht die gleichen Probleme haben wie ich, führte er seinen Gedanken weiter.
Ein Leben... ganz einfach...
Schlicht... leben...
Existieren und vielleicht nicht einmal etwas davon wissen.
Brummend spürte er dann, wie langsam wieder etwas Blut in seine kribbelnden Waden floß.
Wie wäre es wohl, auf den Stiefeln eines riesigen, dann für einen selbst nicht zu erfassenden Wesens herum zu krabbeln in der Hoffnung irgendetwas freßbares zu finden.
Vielleicht ist er ja durch Zucker gelaufen...
Das wären Probleme, ja... einfach und überschaubar.
Einfach simpel und doch wäre man völlig zufrieden mit sich und seiner Welt.
Grübelnd legte sich Camaun daraufhin eine Hand ans Kinn, wobei er immernoch die Fliege beobachtete, die sich nun fast bis zu seiner Sohle vorgearbeitet hatte und Anstalten machte in einer kleinen Fuge seines Steifels zu verschwinden.
Nur...
Eine Fliege sein... ?
Wäre man dann nicht der eigenen schöpferischen Kraft beraubt?
Gedanken haben zu können und daraus Vorstellungen erwachsen zu lassen. Emotionen zu leben, die deine Vorstellungen Gestalt werden lassen.
Zu wissen, daß du lebst.
Wie wäre es wohl, das alles nicht zu haben?
Nun... es wäre sicherlich einfach...
Doch irgendwo... überlegte er, war es nicht das, was er wollte.
Nur was wollte er dann?
Reden, denken, erzählen, leben, philosophieren, trinken, rauchen, Rausch, Müll, verbrennen, Hingabe...
Die Begriffe schossen nur so durch seinen Geist, rasend schnell, wie an einem überdrehten Fließband, das nicht mehr anhalten konnte und alles was auf ihm lag ins Nirvana transportierte.
Wahllos griff er hinein und zog eines der Konstrukte heraus, um es behutsam in seinen Händen hin und her zu drehen.
Fluoriszierend waberte es in seinen Händen. So blendend hell, daß er seine Augen fest zusammenkneifen musste.
Die Oberfläche fühlte sich weich an, doch auch auf eine seltsame Art und Weise rauh und ungehobelt. Als er darüber strich kribbelte seine Haut und das Gebilde, das aussah wie ein leuchtender rötlicher Oktaeder, begann langsam sich zu erhitzen.
Einen Gedanken in den Händen zu halten...
Die Kälte im eigenen Magen spüren...
Wie zwei direkt entgegengesetzte Pole wirkten die Hitze von Camauns Gedanken gegen seine gefrierende Hölle im Inneren seines Herzens.

Was gehörte mehr zu ihm?

Trotz des immer heißer werdenden Gefühls auf den Innenflächen seiner Hände, griff er fester zu. Unwillkürlich... vielleicht aus reiner Gewohnheit im völligen Vertrauen gegenüber seinen eigenen Gedanken... vielleicht aber auch aus seiner tiefen Überzeugung gegenüber seinem Bild der Welt.
Oder vielleicht sogar von beidem etwas...
Suchte sich zu wärmen am Gut seiner Ideen und Wünschen, entgegen zu halten wider diesen eisigen Fingern, die sich langsam und todbringend in seiner Brust umher tasteten, womöglich in der Hoffnung auch den letzten Widerstand zu finden und unter sich zu begraben.
Verwünschen und zu einem großen Klumpen Eises werden zu lassen, wie er in so vielen traurigen Menschen existiert. Als Symbol für alle begrabenen Wünsche und Hoffnungen.
Für alle Sehnsüchte und Träume, die so heiß in einem jeden brennen können, daß man selbst nicht mehr weiß wohin mit seinen eigenen Kräften und Energien, wenn sie aus einem herausbrechen und sich manifestieren in den verschiedensten Formen.
Der Drang sich auszudrücken und zu verwirklichen. Glücklich und ausgelastet... schöpferisch kreativ und frei zu sein.
Das ureigenste Feuer, daß in jeder Seele brennt und die toten kalten Finger der Resignation zum schmelzen bringt, sobald sie sich auch nur in die Nähe des eigenen Kerns bewegen.
Und doch...
Immer wieder tasteten sie sich nach vorne, schmolzen zusammen, zogen sich zurück und griffen Sekunden später erneut um sich und mit jedem Mal wurde das Glühen um eine Winzigkeit schwächer als vorher.
Camaun blickte starr auf die Innenseite seiner Hand, die er bis zum Äußersten angespannt auf sein angezogenes Knie gelegt hatte.
Er sah die pulsierenden Adern an seinem Unterarm und fühlte wie das Blut durch sie hindurch floß.
Spürte den bohrenden Kampf in seinem Leib.
Es war kalt geworden... um ihn herum, sowie in ihm drinn und er begann zu zittern.
So unfassbar!
So verflucht unglaublich!
Da bringt er sie hierher in seine verfluchte eigene Welt und...
Wieder erschall ein lauter Schrei durch die samtene Dunkelheit der Abenddämmerung, in dem soviel Unglauben mitschwang, daß sogar die wenigen Eichhörnchen in ihren Bäumen ihre kleinen Köpfe einzogen und sich verwundert fragten, wer denn jetzt eben gestorben sei.
Doch es half alles nichts...
Langsam aber sicher wurde es hier draussen wirklich ein wenig kalt... und Hunger hatte Camaun auch. Schließlich saß er schon den ganzen Abend hier draußen.
Wie auch immer er so schnell hiergekommen war...
Zögernd sah er sich um, stellte mit Erstaunen fest, daß er sicherlich eine gute Stunde Fußmarsches von Talinera entfernt war, stand auf und lehnte sich erst einmal erschöpft an einen nahen Baum.
Dann fuhr er sich selbst durch die Haare und blickte in den mittlerweile grauschwarzen Himmel hinauf, an dem tiefe und schwere Wolken hingen, was darauf hindeutete, daß es morgen wahrscheinlich kein besonders angenehmes Wetter geben würde.
Seine rechte Hand schabte über die brüchige Rinde des alten Baumes, so daß einige Stücke davon abbrachen und zu Boden fielen.
Dann seufzte Camaun noch einmal tief und schwer und schloß für diesen Abend die Tür in seinen Gedanken, die er bisher immer nur kurz vorm einschlafen zumachte um besser träumen und schlafen zu können. Schob alle seine momentanen Gedanken auf einen großen Haufen und kehrte dieses Gewirr aus unordentlichen und teilweise wirklich nicht fassbaren Gebilden vorsichtig in diese riesige Abstellkammer seines Geistes, schloß ab und warf den Schlüssel weg.
Morgens sprang die Tür sowieso von alleine auf und der gesamte Inhalt der Rümpelkammer kam wieder zum Vorschein im Verlangen gefälligst beachtet zu werden.
Camaun hatte keine Ahnung, wie er mit der jetzigen Situation umgehen sollte. Wie er Shasanastaya in die Augen sehen sollte... überhaupt, wie er denken sollte.
Wie ging es jetzt denn weiter? Was hatte das alles zu bedeuten?
Wo lag sein Fehler?
Oder anders gefragt... was sollte er aus dieser Situation jetzt schon wieder lernen...
Und...
Wieso dachte überhaupt noch in diesen Bahnen?
Lernen... pah!
Was ging ihn das alles an...
Im Groben hatte er heute wirklich keine Lust mehr auf überhaupt nichts...
Und so stapfte er los durch die Dunkelheit in Richtung der kargen Lichter des kleinen und unscheinbaren Dorfes tief im Süden von Salbena...

Es dauerte wesentlich länger als eine Stunde bis er den Gasthof wieder erreicht hatte, denn er war unterwegs streckenweise sehr langsam gelaufen und hatte sich Gedanken gemacht, wie er wohl am besten nochmal ein Zimmer für die Nacht ergattern konnte.
Und ob er noch etwas zu essen kaufen könnte.
Seine weltliche Situation war zur Zeit nämlich wirklich nicht die beste. Das Geld, daß er aus der Kiste des Bauern hatte war fast vollständig aufgebraucht und er bezweifelte, daß es noch einmal für Zimmer und Abendessen reichen würde, doch angesichts der Tatsache, daß er keine andere Wahl hatte wo er hingehen konnte, bewegte er sich doch wieder zurück zu seinem Ausgangspunkt.
Vorsichtig drückte er die Eingangstüre auf und warf einen verstohlenen Blick in den Schankraum.
Zu dieser Stunde war er recht gut gefüllt, denn die heimischen Bauern und Arbeiter ließen den Tag mit einem guten Essen und etwas Bier ausklingen.
Dicke Rauchschwaden durchzogen das ganze Zimmer und es hing ein leicht süßlich angenehmer Geruch in der Luft, der wohl von den besonderen Tabakarten herrührte, den die Leute hier rauchten.
Nachdem er dann einige Momente in der halb offenen Tür gestanden hatte, erblickte er Terron, welcher aufgrund seiner enormen Körpergröße auch schwer zu übersehen war.
Dieser hob seine Hand und winkte Camaun zu sich, doch dieser zögerte einen sehr langen Augenblick, als er Cain neben Shasanastaya sitzen sah.
Zwar saßen sie nicht aufeinander, aber was sie unter dem Tisch mit ihren Händen machten wollte er gar nicht wissen.
Doch dann siegte schließlich die heutige Resignation des Abends, die Müdigkeit und der Hunger, so daß er mit gesenktem Kopf durch die Schänke trottete und sich wortlos an den Tisch setzte, immer darum bemüht Shasanastayas Blicken aus dem Weg zu gehen.
Auch Cain mochte er nicht ansehen, obwohl er vor noch nicht mal allzu langer Zeit alles dafür gegeben hätte sich mit ihm auch nur für ein paar Sekunden unterhalten zu können.
Deswegen wandte er sich, nachdem das betretene Schweigen am Tisch allen langsam wirklich unangenehm wurde, an Terron und fragte ihn, ob Camauns Barschaft noch reichen wird für ein Zimmer für die Nacht und etwas zu essen.
Dieser brummte darauf etwas und entgegnete: "Nun... lass mal sehen.", wonach er mit seinen großen Fingern murmelnd über die auf dem Tisch liegenden Münzen fuhr.
Camaun wollte schon etwas sagen, als ihn der Barbar unterbrach: "Wenn du dir jetzt noch ein wenig Brot mit Wasser kaufst, sollte der Rest noch für eine Nacht im Schlafsaal reichen."
Dankend nickte ihm Camaun zu, stand auf und ging zum Wirt an die Theke, wo er sich dann eben genanntes bestellte und auch gleich bezahlte.
Somit war seine ganze Barschaft aufgebraucht und wenn er morgen nicht vor Hunger sterben wollte, musste er sich doch langsam etwas einfallen lassen.
Als er so dasaß und die Ellbogen seufzend auf das karge Holz der Theke gelehnt hatte, wanderte sein Blick zu den Flaschen, die in einem großen Regal hinter dem Wirt standen.
Doch er sah sie nicht mehr wirklich, denn irgendwie drehte sich sein Blick so geradeaus er auch starrte, einen Tick zur Seite und schlich sich durch eine kleine Fuge der Wirklichkeit hinaus ins Nichts...
Die Hand an der Stirn, wartete er geduldig auf sein Brot, welches, nachdem ihm der Wirt noch etwas Käse, Wurst und Butter gegeben hatte, auch bald verzehrte.
Allerdings schmeckte es ziemlich fad... was aber nicht unbedingt nur am Brot selbst lag.
Ohne zu denken, genoß er so gut es ging diese letzte problemlose Mahlzeit.
"Problemlos! Ha! ", schalt er sich selbst in Gedanken und kaute lautlos knurrend weiter auf der Rinde herum.
"Aber... da kann ich auch morgen noch drüber nachdenken", sagte er sich, beendete sein Mahl und schritt in Richtung Schlafsaal.
Als er am Tisch der restlichen Drei vorbeikam, konnte er einen kurzen Blick auf Shasanastayas Hände erhaschen, welche in den im Vergleich zu ihr regelrecht groß wirkenden Händen des Dragoons lagen.
Bemüht keine sichtbare Reaktion in seinem Gesicht zuzulassen, stampfte er dann energisch weiter in den Saal mit den billigen Holzbetten, von denen er sich schließlich eines wahllos auswählte und sich darauf legte.
Es dauerte noch etwa eine knappe viertel Stunde, bevor er in einen unruhigen von Albträumen geplagten Schlaf fiel...

Ein süßer Apfel...
Aber hier schmeckte alles gut. Trauben, Melonen, Kiwis, Obst in allen Variationen, Farben und Formen. Und erst der köstliche Wein, der einem schwer in den Kopf stieg, so daß man alle seinen Gedanken plötzlich in wunderbar klare und logische Bahnen lenken konnte.
Es lag ein süßer wallender Nebel über der ganzen Szenerie, wie man ihn hat, wenn man so vor sich hin döst, weiß das man noch halb schläft und trotzdem irgendwelche eigenartige Träume hat.
Es war ein angenehmes Prickeln auf der Haut, gleich einem Morgentau auf den Armen kurz nach Sonnenaufgang.
Ein wahres Bankett voll mit Früchten.
Und jeder konnte nach Herzenslust zugreifen und sich bedienen.
Es waren viele Leute anwesend, mehr als Camaun je überhaupt für möglich gehalten hätte. Doch wenn man länger darüber nachdachte war es im Grunde sogar logisch.
Auf die Welt verteilt schienen sie wenig, doch wenn sich einfach alle einmal irgendwo trafen, war man von der Masse doch etwas überrascht.
Und das jedes Mal.
Wo immer er hier auch war...
Und als hätte eben dieser Gedanke irgendeinen wichtigen Faden zertrennt, spürte er, wie der Abschied nahte.
Fast wäre er ein wenig traurig geworden hier alle seine Freunde zu verlassen, doch wie jedesmal, so kam es ihm zumindest vor, war das kein Abschied auf Dauer.
Nächste Nacht würde er wieder hier sein.
Und die Nacht darauf.
Und darauf...
Darauf...
Auf...
F...
Ziehend langsam schälten sich seine Gedanken aus seinem träumerischen Bett heraus und warfen der Reihe nach in aller Seelenruhe eine Gehirnfunktion nach der anderen in seinem Schädel an, bis es sich dann schließlich doch aufmachte und das arbeiten begann.
Der träge Schleier vor seinen Augen zerfaserte in kleine Wolken und gab den Blick frei auf ein für Camaun im ersten Moment erschreckendes Bild.
Er war in Gedanken noch ganz woanders und in ihm lag noch dieses Gefühl von völliger Vertrautheit und Freiheit, das ihn noch bis vor kurzem umgeben hatte.
Nun, wenn er seinen Blick über die anderen Gäste wandern ließ, war es, als könnte er direkt sehen, wie sich deren Masken Schicht um Schicht langsam aufbauten und das wunderbare leuchtende Wesen, daß sich dahinter verbarg verdeckten und ein unecht wirkendes... leeres Konstrukt zum Vorschein brachten.
Bitter stieg ihm bei diesem Anblick die Galle in den Hals und ihm war für einen Augenblick wahrhaft zum heulen zumute, als ihm erneut klar wurde, wie sehr sich diese Wesen selbst behinderten und in Ketten legten, doch dann siegte in ihm wieder der Teil an ihm, der für das weltliche Denken trainiert war.
Seine Gefühle drückte er zuallererst einmal tief in seine Magengegend und eroberte somit die Beherrschung seines Körpers zurück.
Dennoch blieb er lange noch in seinem kargen Holzbett liegen und grübelte, was er jetzt wohl ales nächstes tun sollte.
Zugegeben war es gerade eine ziemlich blöde Situation.
Allein in einer Welt... ohne jeglichen Bezugspunkt. Kein Geld in der Tasche, keine Arbeit in Sicht und keine Ahnung, wo er die Nacht unterkommen würde.
Dazu kamen noch seine Liebeskummer Probleme, von denen er jetzt einmal ganz absah.
Trotzdem knirschte er ganz kurz mit seinen Zähnen, als er daran dachte und seine Hände verkrampften sich kurz in der kratzigen alten Decke, die die Nacht über auf ihm gelegen und ihm fast schon regelrecht richtige Schürfwunden beschert hatte.
Ein langer Seufzer beendete sein Aufwachritual.
Denn jetzt arbeitete sein Geist wieder mit seiner gewohnten Schnelligkeit und Präzision, wie er es selbst immer gern ausdrückte.
Rasch ging er seine Möglichkeiten durch, doch schnell sah er ein, daß er im Grunde gar keine hatte. Er müsste direkt eine Arbeit finden...
Minutenlang verharrte er mit diesem Gedanken.
Würgte ihn aus seinem Hals hervor in seinen Rachen, schmeckte ihn auf der Zunge.
Kaute darauf herum und grübelte.
Eine Arbeit finden...
Sein Gesicht verzog sich auf eine seltsame Art und Weise, als sich ihm dieser Geschmack in seine Poren brannte, einsickerte und begann grausam zu ziehen...
Irgendwie...
War...
War das nicht das, was er hier tun wollte...
Kaugummiartig blieb der üble Gedanke in seinem Mund, sich weigernd so einfach aufzugeben.
Wie sollte er sonst an Geld kommen?
Überleben?
Essen?
Wieder grübelte er lange über diese Fragen nach, noch immer im Bett liegend und zur Decke starrend.
Er fühlte sich so getrennt...
So völlig seiner Basis enthoben...
Wie langsame melancholische Klänge sanken die Zweifel wieder in seinen Körper und durchfraßen ihn, so daß große häßliche Löcher zurück blieben.
Nichts ergab mehr einen Sinn in seinem Gedankenspiel.
Hilflos fuhr er sich selbst durch die Haare, legte danach seinen Arm verschränkt unter seinen Kopf und stützte sich so etwas auf.
Müde war er außerdem auch noch...
Wie ging es jetzt weiter?
Den Blick noch immer starr geradeaus gerichtet, merkte er, wie sich sein Geist im Leerlauf bewegte und scheinbar absolut nicht mehr von der Stelle zu kommen schien.
Dabei erinnerte sich Camaun sehr lebhaft an das, was er mit Shasanastaya bisher in dieser Welt erlebt hatte und biss die Zähne zusammen, als er im gleichen Moment den beißenden Schmerz in seiner Brust spüren konnte.
Das Gefühl ihrer weichen Lippen auf den seinen...
Die Schauer, die ihn jedesmal durchzogen hatten, als er mit ihrer Zunge tanzte...
Ihre Augen, in denen man versinken konnte, wenn man zu lange in sie blickte...
Wie er sich vor Erregung zurückgebogen hatte, als sie mit ihren spitzen Fingern tastend über seinen Rücken gefahren war...
Seine Augen hatte er geschlossen, als er diese goldenen Momente zum zweiten Mal durchlebte, diesmal jedoch sogar fast noch intensiver als damals.
Vielleicht weil er wusste, daß es nicht noch einmal so sein würde.
Doch zumindest seine Erinnerung durfte er behalten, wenngleich sie ein schwacher Trost für das war, was er verloren hatte. Verloren an einen Mann, den...
Hart musste er lachen über die Aberwitzigkeit dieser Tatsache.
So verarscht...
Auf diese Art und Weise sich selbst in den Arsch zu beißen, schaffen auch nicht viele Menschen, dachte er sich und musste sogar wieder ein wenig lächeln.
Es war schon fast wieder witzig...
Im Grunde...
Auf ganz leisen Sohlen schien sich doch wieder etwas von seinem alten Gedankengut durch die tiefen seines verletzten Bewußtseins nach vorne zu schieben.
War da doch etwas... dass...?
Nachdenklich legte Camaun seine Stirn in Falten und versuchte diese Idee zu fassen. Doch sie war schlüpfrig wie ein Fisch und entglitt seinen gedanklichen Fingern, so daß er im nächsten Moment schon wieder vergessen hatte, was da in ihm aufsteigen wollte.
Vielleicht sollte er sich einfach leeren...
Einmal das ganze Gerümpel, daß er im Laufe seiner Lebenszeit an geistigen Formulierungen und Überlegungen angehäuft hatte, zusammenpacken und schlicht in die Tonne treten, wie man auf der Erde so schön sagt.
Nur... hatte er nicht gerade das schon einmal gemacht?
Wäre er sonst hier, wenn er sich nicht von Grund auf selbst neu geboren hätte?
Nun...
Wahrscheinlich nicht...
Aber war es eine Verbesserung im Gegensatz zu vorher?
Im Grunde...
Eigentlich nicht... es war sogar noch viel schlimmer gekommen.
Er wusste gar nicht mehr, was er noch denken sollte. Alles schien einfach so sinn- und grundlos. Völlig. Ohne Sinn... ohne Grund.
Rotieren ohne Angelpunkt... leben ohne zu wissen für was... oder wie... oder schlichtweg überhaupt leben.
Während ihm all diese Gedanken durch den Kopf strömten, entwickelte er plötzlich das lautstarke Gefühl nach einem ordentlichen Besäufnis.
Nur wie, ohne Geld?
Grummelnd gab er dieser Überlegug einen kräftigen Tritt.
Immer Geld... immer und überall dieses verfluchte Geld. Gold, Silber, Kupfer, Zinn, Blech, wertloses Zeug...
Was hatte Geld für eine Verwendung, zum Teufel!?
Himmel!
Beruhige dich, Camaun! Merkst du nicht, was gerade mit dir geschiet?
Du bist ein richtiger Sprühregen an schlechten Gedanken. Mach nur weiter und du bekommst alles wieder zurück... und zwar doppelt und dreifach.
Es war erneut das leise Wispern seiner eigenen kleinen Stimme in seinem Geiste, die, nachdem sie nun eine Weile kopfschüttelnd bei Camauns Gedankengängen gestanden war, sich nun doch empört zu Wort meldete und versuchte ihren Schützling wieder auf den Boden zurück zu bringen.
Doch so einfach machte er ihr es diesmal nicht, denn er wendete sein Antlitz ab und grummelte nur irgendetwas in seinen imaginären Bart.
Hör mal zu, guter Mann. Überleg doch mal. Ganz sachlich.
Objektiv sozusagen.
Was du gerade denkst. Lass dir das mal ganz langsam durch den Kopf gehen und schau dich selbst dabei an.
Er wollte sie wie eine lästige Fliege verscheuchen, diese Stimme, doch sie war ziemlich gut trainiert in ihm. Nicht umsonst hatte er sein komplettes bisheriges Leben damit verbracht auf sie zu hören, nach ihr zu leben und ihre Ratschläge wohlwollend entgegen zu nehmen.
Du weißt das es nicht gut ist, was gerade in deinem Kopf passiert.
Verärgert drehte er sich wieder um und blickte seinem vermeintlichen Gewissen in die geistigen Augen.
"Ja, ich weiß daß es schlecht ist! Aber es ist mir egal!", fuhr er es an.
"Ich habe mein ganzes Leben auf diese Art gelebt und was ist dabei herausgekommen?! Scheiße, verdammt! Müll! Dreck! Wunderbare Kacke!"
Abwehrend hob sein Gegenüber, der langsam immer mehr seine eigene Gestalt anzunehmen schien, die Hände und ging einen kleinen Schritt zurück.
"Ich bin zwar für dich verantwortlich... aber des Menschen Wille ist nun mal sein Königreich. Wenn du nicht verstehen willst, Camaun, dann bin sogar ich machtlos. Nicht einmal Gott pfuscht dir da ins Handwerk."
"Gott...", spie er darauf hin verächtlich aus.
"Wir wissen beide, was wir damit meinen, Camaun.", entgegenete sein Doppelgänger und hob mahnend seinen rechten Zeigefinger.
"Ja...", war die Antwort. "Das war nur wieder eine Flucht hinter alte weltliche Mauern. Ich war eigentlich der Ansicht, daß du so etwas nicht mehr nötig hast...", fuhr sein Gewissen mit ruhiger Stimme fort.
"Ja... nein.... hab ich auch nicht...", seufzte Camaun, worauf er mit einer recht hilflos wirkenden Geste seine Worte unterstrich.
"Du fühlst dich ziemlich verletzt, guter Mann, hab ich recht?", sagte er sozusagen zu sich selbst.
"Was für eine Beobachtungsgabe..."
"Nun... wenn du dich wieder etwas beruhigt hast, können wir gerne einmal darüber reden... falls du das willst."
In seinem Kopf arbeitete es.
Ich unterhalte mich schon mit mir selbst, dachte er dann, wobei er dann zu der Feststellung kam, daß er das im Grunde auch schon öfters getan hatte. Vielleicht nicht ganz so deutlich wie heute, aber immerhin.
Manche Leute würden ihn als verrückt bezeichnen, aber für ihn war so etwas irgendwie ganz normal.
Man kam auf wunderbar interessante Gedanken, wenn man sich einmal ab und zu mit sich selbst unterhielt, es war wirklich erstaunlich.
Wenn man gut war, konnte man sich sogar selbst ausargumentieren.
Aber das gelang selbst Camaun ziemlich selten.
Er fragte sich, wieviele andere Leute wohl schon einmal versucht hatten ihren eigenen Verstand mit Argumenten an die Wand zu treiben, bis er nicht mehr wusste, was er sagen sollte.
Aber im Grunde war es sowieso nicht wichtig.
"Ja... gern.", brummte er schließlich und sah ein erleichtertes Lächeln im Gesicht seines Gegenübers, der mittlerweile schon fast feste Konturen hatte und ihm bis aufs Haar glich.
Immer mehr stabilisierte sich sein geistiges Abbild, als es fragte: "Dir sind die meisten Dinge ja schon allgemein bekannt, darf ich behaupten, oder?"
"Nun...", machte Camaun und hob entschuldigend die Schultern. "Wenn man das so sagen kann... ich hab ja keine Ahnung, ob ich überhaupt auf dem richtigen Weg bin."
"Ja. Wenn man sich zumindest ein bisschen Mühe gibt, kann man eigentlich gar nichts falsch machen. Weil dann alles was du tust deiner eigenen Entwicklung dienlich ist."
"Aha..."
"Sprich... du bist nun der Ansicht, es wäre falsch gelaufen und man hätte dir weh getan und Shasanastaya hat weiß der Himmel was mit dir angestellt, worauf jetzt als logische Reaktion von dir folgen müsste...?"
Bei diesen Worten blickte ihn sein Spiegelbild verschwörerisch an.
Camaun wusste in groben Zügen schon, warauf er hinaus wollte, spielte das Spiel aber mit und antwortete: "Ich fühle mich verletzt, breche jeden Kontakt mit ihr ab und finde mich mit meinem Schicksal ab, nicht ohne wochenlang mit ihm zu hadern. Dann entwickle ich noch zusätzlich eine starke Abneigung gegen Cain, obwohl ich ihn überhaupt nicht kenne... naja, zumindest nicht persönlich. Terron werd ich auch nicht wieder treffen, weil er ja mit den beiden unterwegs ist.
Und falls wir uns doch mal wieder über den Weg laufen, werde ich grob und gemein sein und im Grunde sowieso nur Beleidigungen heraus bringen, gesetz dem Fall ich sage überhaupt etwas dazu.
Ich fresse den Schmerz in mich hinein und begrabe ihn feierlich in meiner Seele, so daß ich ihn mein ganzes weiteres Leben mit mir herum tragen kann, in der Hoffnung, daß er mich irgendwann wieder losläßt, was er aber nicht tun wird und immer wieder mal zu Tage tritt um mich schmerzhaft daran zu erinnern, was damals passiert ist."
Dann holte er ganz tief Luft und seufzte, worauf sich beide lange in die Augen blickten.
Das war ein zugegebenermaßen recht seltsames Gefühl, wenn man sich lange selbst in die Augen sah. Man war sich einerseits ziemlich vertraut, zumal man sich ja selbst ansah, aber andererseits erkannte man in seinem Abbild, wenn man sich objektiv betrachtete, doch wieder einen Fremden, von dem man nichts wusste und der aber dennoch einen gewissen Eindruck auf einen selbst ausübte.
Verwirrend...
Dann hob sein Gegenüber wieder die Stimme.
"Richtig."
Und Camaun wusste selbst, daß das in keinem Fall die richtige Antwort war.
"Falsch."
Mit gespieltem Erstaunen hob sein Gewissen die Augenbrauen und wich mit dem Oberkörper ein Stück zurück. "Oh... na sowas...", sagte es, worauf es eine dieser kleinen Camaun typischen rethorischen Pausen einfügte.
"Wie kommt dieser plötzliche Sinneswandel?"
Doch Camaun reagierte nicht ganz so, wie er es selbst erwartet hatte und blickte sein Gewissen böse an: "Vielleicht durch deine provozierende Art die Dinge darzustellen. Du sagst das so, als wäre ich selbst Schuld an all dem, was passiert ist."
Stockend setzte es an etwas zu sagen, doch mit dieser Antwort hatte es nicht gerechnet.
Es folgten einige lange ruhige Momente, in denen nichts gesagt wurde und Camaun spürte tief in sich eine kleine, aber leise Befriedigung, es seinem Verstand wieder einmal gezeigt zu haben.
Sein Blick wurde etwas weicher, als er mit verständnisvoller Stimme sagte: "Es hat dir wirklich weh getan, oder?"
"Verdammt nochmal, ja! Ich hab mich voll geöffnet, mich voll reingehängt, ich bin in vollem Gallopp in das Messer gerannt, guter Mann, und das tut nunmal ein wenig weh.", gab Camaun zurück, worauf er das Wort "wenig" mit unverhohlenem Sarkasmus ausstattete.
"Nun... man kann es natürlich so betrachten, das ist richtig, Camaun."
"Wieso betrachten?! Es IST so!"
"Moooment.", sagte sein Gewissen und hob anklagend seinen Zeigefinger. "Wer hat immer gesagt, daß man alles nicht nur aus einer Perspektive sehen darf? Wer hat immer gesagt, Leute, schaut euch doch mal objektiv an? Wer sprach da immer von dem nötigen Schuß Neutralität?"
Camauns Augen begannen leicht zu brennen, als er sich selbst mit einem undeutbaren Gesichtsausdruck anstarrte.
"Nun..."
"Mir war damals so, als wäre das ein gewisser junger Herr gewesen, der sich heute Camaun zu nennen pflegt."
"Worauf willst du denn eigentlich hinaus?", fragte er sich dann.
"Die Frage ist nicht, worauf ich hinaus will, sondern ob du selbst erkennst, wie du dich entwickelt hast in Bezug zu dem was dir widerfahren ist."
Das gab ihm anscheinend den nötigen Tritt, denn nun überlegte er wirklich...

Wie hatte er sich entwickelt?
Im Grunde noch gar nicht, was dieses Thema anbetraf. Schließlich war es erst gestern geschehen.
Grübelnd brummte er ein langes "Hmmm", während er sich dabei selbst ans Kinn langte.
Das bedeutet...
Daß das, was passiert ist, noch zu dem Schritt gehört, den er vor einigen Wochen oder Tagen getan hatte.
Sprich... ich habe mich selbst... verändert... und das hier ist dann die logische Folge meines Umfeldes auf meine neue Sichtweise der Dinge zu reagieren, überlegte er.
Zuerst änderst du dich selbst... zumal das ja sowieso alles ist, was du ändern kannst. Deine Umgebung hast du ja eh nicht im Griff...
Und dann zieht die physische Welt nach und passt sich deiner neuen... Art... an.
Trägheit der Masse, sozusagen, flüsterte Camaun leise und ein feines Lächeln umspielte seine Züge dabei, wobei er gar nicht wusste, wieso eigentlich.
Also folgern wir...
Das was geschehen ist, sollte so passieren.
Ich habe einen kräftigen Tritt bekommen, der mich bis in meine Grundfesten hinunter erschüttern hat lassen.
Suchen wir nun nach dem Grund, denn der Sinn ist in solchen Fällen meistens erst geraume Zeit danach zu erkennen, wenn man nicht mehr so direkt in dieser Situation ist.
Wobei das auch eine schöne Kunst wäre, könnte ich sie beherrschen um immer gleich zu erkennen, warum gewisse Dinge geschehen und warum manche nicht. Aber bis dahin wird wohl noch etwas Zeit vergehen, schätze ich.
Irgendwie kamen ihm diese Gedanken ein wenig seltsam vor. Fast als erlebte er ein Deja vu...
Dabei runzelte er leicht die Stirn und hatte plötzlich das Gefühl, daß ihn jemand beobachtete, während er so sinnierend in seiner billigen Bettstatt lag.
Mit leicht zusammengekniffenen Augen sah er sich um, doch alles was er erkennen konnte, waren andere Gäste, die entweder noch schliefen oder sich gerade daran machten ihre Sachen zu packen und aufzustehen. Dann spürte er plötzlich ein Kribbeln in seinen Zehen, daß sich so ähnlich anfühlte, als wären sie eingeschlafen gewesen und dachten gerade daran langsam wieder zu erwachen.
Wie klebriger Honig zog das Gefühl an seinen Waden hinauf, passierte genüßlich seine Lenden und wanderte träge in seinen Bauch hinein.
Camaun schloß seine Augen, legte sich wieder flach unter die kratzige Decke und ließ es geschehen.
Sein Rücken fühlte sich heiß an, als sich das Kribbeln weiterbewegte. Es strich wie mit warmen Fingern über sein Rückrad hinauf bis in seinen Nacken, von wo aus kurz darauf wohlige Schauer über seinen ganzen Körper zuckten.
Wie einer dieser heißen Küsse auf den Nacken, bei denen man alles um sich herum vergisst und für einige Sekunden fast zu schweben scheint.
Denken war in diesem Zustand kaum noch möglich, denn alles was man tun konnte war genießen und sich wünschen, das Gefühl möge niemals mehr aufhören.
Doch dann schob sich das Kribbeln an seinem Hals vorbei und stieg beidseitig an seinem Kopf hinauf und endete schließlich in seinen Ohren, die mit einem mal glühend heiß wurden.
Man konnte fast geil werden dabei, schoß es ihm durch den Kopf, als er leicht seinen Mund öffnete und sich ein wenig nach hinten bog um diese Schauer so lange wie möglich in seinem Körper zu halten.
Die wenigen Sekunden in denen das geschah kamen im vor wie Tage.
Es war ein wahnsinniges Gefühl.
Und als er sich langsam wieder entspannte, fühlte er sich so, als hätte er gerade eine überaus anstrengende Nacht mit einer gar wunderhübschen Frau verbracht.
Ausgelaugt, aber vollends zufrieden.
Allein ein leichtes Ziehen in seinen Ohren blieb zurück, daß noch geraume Zeit anhalten sollte.
Immer wenn so etwas geschah, wusste Camaun, daß er sich immernoch auf dem richtigen Pfad befand. Es war so etwas wie eine Bestätigung für ihn, die ihm Kraft gab auch die nächsten Zweifel zu überwinden und sich weiter nach vorn zu kämpfen, egal was da noch kommen mag.
Dinge wie Geld oder Arbeit, Essen oder trinken wirkten dann mit einem Mal so nebensächlich wie eine Fußnote in einem zweitausend Seiten starken Lexikon.
Was war nun der Grund...
Eigentlich gar nicht so schwer zu erkennen, dachte er sich und zog seinen geistigen Vorhang ein kleines Stück zu Seite, so daß er kurz einen vorsichtigen Blick hinter die Dinge erhaschen konnte.
Salbena war praktisch genauso wie seine alte Welt. Voller Menschen, voll mit Korruption, voll mit versteckten Spielchen um Macht und Einfluß, voll mit Schmerz und Leid und doch... war sie wunderschön. Er hatte seinem Gewissen einmal gesagt, daß er die Welt für einen Sündenpfuhl und ein riesiges großes Dreckloch hielte.
Als Antwort hatte er erhalten, daß sie nur ein Ausdruck des Lebens war.
Das waren damals noch seine ersten Gehversuche auf diesem Thema gewesen und nachdem er über seine eigene Antwort so nachgedacht hatte, war er zu dem Schluß gekommen, daß er recht hatte.
Die Welt war schon schlecht... zumindest teilweise... oder meinetwegen auch größtenteils, aber es gab ja auch die schönen Seiten.
Außerdem... wenn man es aus einem anderen Blickwinkel betrachtete... war die Welt vielleicht einfach so wie sie war, weil jeder Mensch für sich selbst erst einmal durch all die Entwicklungsstadien laufen musste, die das Leben für ihn bereit hielt, so daß er am Ende schlußendlich begreifen konnte, worum es ging, oder wie man ein besseres Leben führen konnte.
Da nun aber jeder Mensch unterschiedlich weit ist und trotzdem zusammen mit Milliarden von anderen zusammenleben muss, ist es so betrachtet sogar logisch, daß sich da ab und an Reibereien bilden.
Einfach schlichtweg, weil es die Menschen selbst zu ihrem jetzigen Entwicklungszeitpunkt nicht besser wissen.
Camaun brauchte bloß sich selbst einmal ansehen.
Wie er reagiert hatte, auf Shasanastayas Aktion Cain zu küssen.
Er hatte sich aufgespielt wie ein kranker verletzter Liebhaber, der meinte er habe alle möglichen Besitzrechte an dieser Person erworben und dürfe darauf bestehen, daß sie ihm allein und niemandem sonst gehörte.
Und das obwohl er vorher noch große Reden geschwungen hatte von einer Welt in der es keine Grenzen gibt, in der jeder das tun sollte, wonach ihm ist. In der man einfach lebt und glücklich sein kann.
Jetzt im nachhinein ärgerte er sich selbst über sein seltsames Verhalten.
Aber allein das zu erkennen, war schon eine Glanzleistung für sich selbst.
Viele Menschen hätten schon am Zimmereingang aufgehört weiter über dieses Thema nach zu denken...
Was man ihnen ja auch nicht verübeln konnte...
Doch Camaun konnte es einfach nicht damit auf sich beruhen lassen. Es war einfach nicht seine Art. Irgendetwas in ihm trieb ihn einfach weiter in diese Richtung.
Vielleicht verleugnete er sich auch selbst nur um mit dieser Situation besser umgehen zu können...
Totale Selbstverleugnung...?
Sich die Welt einfach "schöndenken"?
Sicherlich konnte man es auch so betrachten, ja...
Doch was tat man, wenn man sich auch diese Möglichkeit mit jener Argumentation selbst nahm? Sie sozusagen ebenfalls als Schwachsinn abtat, wie so vieles andere auch...
Dann wäre man im groben wieder da wo man angefangen hätte.
Und stünde wieder vor diesen hunderten von Löchern im eigenen Geist, die jedes für sich eine andere Art und Weise die Dinge zu sehen beinhalteten.
Wie schön wäre es doch, wenn man nur zwei dieser Löcher hätte. Gut und Böse.
Das würde vieles vereinfachen, grübelte er leicht lächelend.
Freier Wille war ein Segen und ein Fluch gleichzeitig, konnte man denken.
Und Camaun wollte schon irgendeinen Weg gehen und er hoffte zumindest, daß es der richtige für ihn war. Doch dann fielen ihm die Worte seines eigenen Abbildes wieder ein.
"Wenn man sich zumindest ein wenig Mühe gibt, kann man eigentlich gar nichts falsch machen."
Mochten andere denken, er verleugne sich selbst, er würde diesen Weg dennoch wählen.
Es war der einzige, den er gehen konnte...
Alles andere kam einfach nicht in Frage.
Es war wie ein erleichterndes Seufzen, daß sich mehr in seinen Muskeln bemerkbar machte, als in seinem Atmen.
Camaun fühlte sich völlig entspannt und genoß das angenehme Gefühl, daß wieder begann seinen gesamten Körper auszufüllen.
Vielleicht hatte er doch etwas von dem behalten, was er bisher geglaubt hatte gelernt zu haben.
Nun wollte er sich zum mittlerweile dritten Mal der Frage nach dem Grund stellen, die immernoch unbeantwortet geduldig wartend durch seinen Geist zog.
Doch als er darüber nachdachte, kam er zu dem Schluß, daß das schon alles an Antwort war...
Wo war sein Problem hin verschwunden?
Shasanastaya hatte Cain geküßt und weiß der Himmel was noch mit ihm getan...
Spielte es eine Rolle?
Ein Moment des geistigen Schweigens folgte dieser Frage...
Nein... das tat es nicht.
Es spielte keine Rolle.
Lächelnd zog er sich die Decke über sein Gesicht und flüsterte: "Wahrscheinlich hat sie es sowieso schon wieder vor mir verstanden..."
Dann pausierte er wieder. Es war wie eine schlechte Angewohnheit von ihm, über die er aber auch immer nur wieder lachen konnte.
"Frauen...", presste er zwischen seinen grinsenden Zähnen hervor.
Wie er nur immer wieder aus allem, was zuerst negativ erschien, dann doch plötzlich wieder etwas positives machen konnte...
"Camaun...?", hörte er dann eine leise Frauenstimme über seinem Bett und mit einem erschrockenen "Huh!?", schnellte er nach oben, fegte seinen Decke zur Seite und stieß sich schmerzhaft sein Knie am hölzernen Bettkasten, worauf er gequält sein Gesicht verzog und sich seine lädierte Kniescheibe hielt.
"Aahahaoohoho...", knirschte er dann und suchte den passenden Körper zu der Stimme, die er vernommen hatte.
Sein Blick fiel auf das leicht belustigte Gesicht Shasanastayas, die mühsam versuchte ein leises Lachen zu unterdrücken, was ihr aber nicht ganz gelang.
"Verzeih mir, daß ich dich so erschreckt habe...", brachte sie dann nach einigen Augenblicken hervor.
Camaun ließ sich einige Sekunden später erschöpft auf seine Matratze zurückfallen und sah ihr unverwandt ins Gesicht.
Es war jedesmal wieder eine Nuance schöner als vorher, dachte er.
Sie kniete sich auf Augenhöhe neben sein Bett und blickte ihm tief in die Augen, bis er meinte ihm müsse wieder schwindlig werden.
"Wie geht es dir?", fragte sie dann mit ihrer weichen Stimme, die ihm jedesmal bis ins Mark durch und durch ging, so daß er als Antwort im ersten Moment nur ein heftiges Schlucken zustande brachte.
Schließlich sagte er mit stockender Stimme: "Danke... ganz gut... und dir?"
Ein kleines Funkeln trat in ihre Augen, als sie antwortete: "Nein, Camaun... das meinte ich nicht..."

Ganz kurz wanderte ein kleiner kalter Schauer über Camauns Rücken, bevor er antwortete:
"Ich weiß noch nicht genau... ich bin mir einfach noch nicht sicher..."
Forschend wanderten ihre Augen über sein Gesicht, fast als suchten sie etwas darin. Sie schwieg und bedachte ihn nur mit diesem seltsamen Blick, der ihm unangenehm werden wollte, doch Camaun hatte in diesem Moment ein reines Gewissen und versteckte sich nicht.
Eher sie war es, die sich verstecken sollte, dachte er.
Sein Blick hingegen verweilte in ihren Augen und bot sich wie ganz zu Beginn, als sie einander vertrauen lernten, völlig ohne Scham und Scheu dar.
Wanderte schlicht durch ihre Lieder hindurch, streifte vorbei an ihrem Geist, grüßte ihre Gedanken im vorbeigehen und gelangte schließlich, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, direkt zu ihrem Herzen, wo er vorsichtig anklopfte und fragte...
Mit einem mal standen Tränen in Shasanastayas Augen, als sie ihren Vertrauten so ansah, wie er seinerseits sie mit diesen Augen ansah, die so voller Liebe gefüllt in ihre Seele starrten.
Sie waren beieinander. Wieder vereint.
Doch sie waren niemals getrennt.
Schwer seufzte sie und legte ihrem Geliebten ihre rechte Hand zärtlich an die Wange, als sie seinen offenen Blick erwiederte.
Und da wurde ihr plötzlich wieder klar, wie sehr sie diesen Mann liebte.
Aber hatte sie das jemals vergessen?
Nein... im Grunde ihres Herzens niemals.
"Camaun?", sagte sie leise.
Fragend und doch in hoffender Erwartungshaltung hob er seine linke Augenbraue, ohne seine Augen von ihren wunderschönen Gesicht abzuwenden.
"Glaubst du mir... wenn ich dir sage... daß...", begann sie stockend und senkte ihre Augenlieder, nur um sie noch im selben Moment wieder zu heben, tief durchzuatmen,ihn fest anzusehen und zu sagen: "...daß ich dich liebe?"
Es musste doch etwas drann sein, schoß es ihm in dieser Sekunde durch den Kopf. Er hatte es gewusst. Er hatte recht behalten.
Was ihm wieder bewieß, daß er dennoch auf dem richtigen Weg war.
Himmel, er würde durch alle tausend Feuer der Hölle laufen für dieses Mädchen! Niemand in seinem ganzen Leben war so wie sie.
Nicht nur, daß sie von mal zu mal schöner wurde, nicht nur, daß sie bei weitem genauso viel, wenn nicht sogar mehr verstand als er, nicht nur das blendende Feuer, das in ihrer Brust loderte, nein, sondern auch ihre Liebe zu ihm, liebte er.
Auf Händen in den Himmel tragen...
Vorsichtig nickte er leicht, hob seine Hand an ihr Kinn und zog sie zu sich hinüber.
Ihre Gesichter näherten sich sich, ihre Blicke trafen sich und ihre Augen vollführten einen rührenden Tanz, der ihnen beiden gleichsam wunderschön und schmerzvoll ins Herz stach.
Camaun schloß die Augen, ebenso wie Shasanastaya.
"Stop!", hallte es durch den Schlafsaal und alle Köpfe wandten sich in Richtung Eingang, in dem nun ein bedrohlich wirkender Mann in einer schäbig aussehenden grünen, mit braunen Flecken übersähten Ganzkörperrüstung aus Metall stand.
Mit einem erstaunlich leisen Scheppern (ging man von dem Ausmaß der Rüstung aus) eilte dieser heran und stieß den schwächlich wirkenden jungen Mann zurück aufs Bett.
"Was glaubst du, was du da tust?", herrschte ihn die metallene Gestalt an und baute sich zwischen ihm und Shasanastaya auf.
Er erntete einen Blick völligen Unverständnisses, worauf er mit einem beißenden Unterton in der Stimme sagte: "Ich hoffe für dich, daß du dich nicht an diesem Mädchen hier vergehen wolltest."
Camaun wirkte nun leicht verdattert und versuchte erst einmal sich wieder aufzurichten.
"Cain, hör zu. Wieso... hast du ein Problem damit?", begann er dann und das war das erste, was er zu seiner eigenen Schöpfung sprach.
Hätte man ihm das noch vor etwas mehr als zwei Wochen erzählt, wäre er in schallendes Gelächter ausgebrochen.
Shasanastaya wollte hinter dem Metallmann hervortreten, doch dieser schob sie mit einer energischen Geste wieder hinter sich, verschränkte dann die Arme vor der Brust und blickte mit einem leicht verächtlichen Gesichtsausdruck auf den am Bett sitzenden Jungen herab.
"Sie ist nicht dein Mädchen, mein kleiner Bauersjunge.", sagte er dann in einem süffisanten Tonfall, pausierte kurz und fügte dann hinzu: "Und erst recht nicht für kleine, schmächtige Bauersjungen."
Camauns Augenbrauen schoben sich ein ganzes Stück tiefer in sein Gesicht, als er den Kopf zur Seite drehte und einen Blick aufsetzte, der zu schreien schien: "Gott! Wie lächerlich ist das denn jetzt?!"
Nach einigen weiteren Momenten, in denen er sich irgendwie aber dennoch unterlegen vorkam, schaffte er es dann doch noch Cain mit einem halbwegs sarkastischen Blick anzusehen.
"Was wohl geschehen wäre... wenn ich nie diesen Einfall mit dem Dragoon gehabt hätte?", murmelte er dann gerade so laut, daß es Cain hören konnte.
Vor lauter Erstaunen traten seine Augen hervor und seine Kinnlade klappte weit nach unten, was sein Gesicht, das von einem einschüchternd wirkenden Drachenkopf förmigen Helm eingerahmt wurde doch zugegebenermaßen etwas lächerlich wirken ließ.
Doch innerhalb der nächsten halben Sekunde, hatte er sich wieder in der Gewalt. Wie eine zubeißende Schlange schnellte seine linke Hand nach vorn und die Finger, die in einem schweren Eisenhandschuh steckten, ergriffen Camauns Hemdkragen. Cain brachte sein Gesicht direkt vor das Camauns, so daß sie sich Nase an Nase gegenüberlagen.
"Woher kennst du dieses Wort?!", zischte er durch seine geschlossene Zahnreihe.
Die asketischen, edlen Gesichtszüge des Dragoons waren plötzlich überaus angespannt und verliehen ihm ein fast rabenartiges Aussehen, zu dem die perfekt kerzengerade Nase ihr übriges tat.
Nein, dachte Camaun, nicht wie ein Rabe.
Eher wie ein Drache...
"Das ist eine lange Geschichte, Cain, die du mir wahrscheinlich sowieso nicht glauben würdest.", entgegnete er dann gelassen und fühlte sich sogleich wieder etwas besser, da er sich nun zumindest zeitweise ein wenig im Vorteil glaubte.
Allerdings stachen Cains eisblaue Augen so stark in seinen Kopf, daß er meinte, er müßte jeden Moment das Schreien anfangen. Man hatte das Gefühl, daß man nichts vor ihnen verbergen konnte und Cain, wenn er jemanden so betrachtete, alles sah, was es zu sehen gab.
Man hatte das Gefühl, daß er alle Sünden, und seien sie noch so klein gewesen, erkannte und bewertete. Unwillkürlich verspührt man plötzlich ein undefinierbares Unbehagen und Schuldbewußtsein, daß einen sehr leicht dazu treiben kann sich zu verplappern, sollte man versuchen dem Dragoon eine Lüge aufzutischen.
Camaun spürte regelrecht die tastenden geistigen Finger seines Gegenübers. Nein, er spürte sie nicht nur regelrecht... er spürte sie ganz eindeutig!
Suchende, blinde Tentakelarme, überzogen mit einem glitzernden blauen Panzer aus Schnee und Eis, der klirrende und schabende Geräusche auf dem geistigen Boden seines Kopfes fabrizierte.
Gebannt betrachtete er sie, wie sie mal hier hin, mal dorthin wanderten und aus den Ecken seines Geistes uralte Gedanken zu Tage förderten, sie in ihren Fangarmen hin und her drehten, nur um sie danach wieder völlig achtlos fallen zu lassen.
Vielleicht wusste er, wonach sie suchten...
Doch Camaun kannte sich in seinem eigenen Geist immernoch am besten aus und schob sich unauffällig in die Tiefen seiner zahlreichen Gedankengänge hinein.
Cain runzelte verwirrt die Stirn, während sein Blick den seines Gegenübers noch immer fixierte.
"Was, bei den Niederhöllen...?!", fragte er sich erstaunt.
Seit wann war er nicht mehr in der Lage die Gedanken eines einfachen Bauersjungen zu erraten? Was ging hier vor?
Energisch schlugen die eisblauen Tentakel um sich und Camaun spürte einen stechenden Schmerz in seinen Schläfen, als sie hart gegen seinen Gehirnwindungen donnerten.
Sein ganzer Kopf schien zu erbeben.
Doch mit zusammen gebissenen Zähnen schob er sich tiefer in die unergründlichen Weiten seiner Gedanken.
Sollte er doch sehen, wie ihn Cain hier fand, dachte er, drehte sich um und griff in das weiche Fleisch seiner selbst, während er taumelnd durch seinen wankenden Geist stolperte.
Hinter sich konnte er ein leises böses Zischen hören, daß eine wütende Enttäuschung verhieß, jedoch aber noch lange keine Aufgabe.
Irgendwie gelang es dem Dragoon dennoch seine Anwesenheit auszumachen und als Camaun hastig über seine Schulter zurück blickte, erkannte er einen langen, mit kantigen Eissplitern übersähten Fangarm, der sich zielstrebig hinter ihm her durch alle Gassen und Seitengänge wand, die er einschlug.
Gehetzt sah er wieder nach vorne und holte mit seinen Schritten noch weiter aus.
Er dachte die unmöglichsten Dinge, schlüpfte in fast schon aberwitzige geistige Schlüsse und Formulierungen und versuchte alles, was in seiner Macht stand um seinen Verfolger abzuschütteln, doch jedes mal wenn er sich umsah schien ihm der Dragoon dennoch ein kleines Stück näher gekommen zu sein.
Langsam machte sich eine schleichende Panik in ihm breit, ebenso wie die brüllende Gewissheit, daß es dadurch nur noch schlimmer werden würde.
Und er hasste sich selbst in diesem Moment wieder dafür, seine eigenen Angst nicht so ohne weiteres besiegen zu können.
"Ich verliere schon wieder!", schalt er sich, als er einen großen Satz über ein tiefes Loch in einem seiner Gedanken machte.
Ein kurzer Blick hinab verriet ihm, daß er vor längerer Zeit einmal an dieser Stelle überlegt hatte, wie sinnvoll und sinnfrei wohl eines dieser ekelhaften Schulfeste sein konnte.
Anscheinend hatte er den Gedanken nie zuende gebracht.
Wovon sich sein Verfolger aber ebenfalls nicht ablenken lies, denn nachdem er kurz vor dem klaffenden Abrund verharrt war, zog er sich zusammen, schnellte mit einem schnappenden Laut nach vorne und überbrückte so mit einer katzenhaftigen Gewandheit das Loch.
Nur noch wenige Zentimeter trennten die beiden und Camaun hatte das sichere Gefühl, daß es nichts gutes an sich hatte, wenn er sich von diesem... Ding erwischen lassen würde.
Sein Herz schlug ihm bis zum Hals hinauf und kleine Schweißperlen standen auf seiner Stirn, als er sich mit einem eleganten Satz hinter einer weiteren Biegung in Sicherheit brachte.
Doch plötzlich donnerte es wieder in seinem Schädel und ein weiterer zuckender Schmerz schoß ihm durch die Schläfen, so daß er beim Aufkommen taumelte.
Camauns zuschnappende Hand griff ins Leere und er fiel ungeschickt auf den Rücken, nachdem er es gerade noch geschafft hatte sich um seine eigene Achse im Fall zu drehen, so daß er wenigstens seinen Angreifer sehen konnte, wenn er auf ihn losging.
Im ersten Herzschlag dieses Augenblicks wollte er schon erleichtert aufseufzen, da er nichts erkennen konnte, doch schon eine halbe Sekunde später schoß der eisblaue Arm um die Ecke und verharrte wenige Zentimeter vor seinem Körper.
Voller Panik hatte Camaun seinen Atem angehalten und seine Augen starrten auf die messerscharfen wie Glas wirkenden Eissplitter.
Schon bog sich der große Tentakel zurück um ihn zu umschlingen.
Doch dann stieß der schwer atmende Junge dem völlig überraschten Dragoon vor die Brust, wobei er sich seine Knöchel an der harten Metallrüstung aufritzte.
Tief einatmend erhob er sich und blickte ihn erschöpft an, wobei er sich mit einem schmerzverzerrtem Gesicht seine blutenden Knöchel rieb.
"Lass gut sein, Cain! Bitte...", würgte er dann hervor und griff sich an seine Brust.
Sein Gegenüber sah ihn mit einem ungläubigen Blick an, der verriet, daß dem Dragoon so etwas nicht sehr oft passierte.
Es dauerte etwas, bis er sich wieder in der Gewalt hatte.
"Wer bei den sieben Niederhöllen bist du?!", fragte er dann und nahm seinen Helm ab, den er dann auf die klapprige Bettstatt legte.
Camaun sah ihn mit einem undeutbaren Gesichtsausdruck an und sagte dann leise, aber bestimmt: "Das ist eine lange Geschichte, Cain..."
Hierauf folgte die in ganz Salbena berühmte Augenbraue des Dragoons.
"Und wenn du mir nun gestattest mich noch ein wenig mit Shasanastaya unter vier Augen zu unterhalten, erzähle ich dir auch alles, was ich zu erzählen habe.", fuhr sein Gegenüber fort und gab sich völlig unbeeindruckt vom stechend scharfen Gesichtsausdruck seitens Cain.
Einige lange Sekunden standen sich die beiden gegenüber.
Auf der einen Seite der große, kräftige Mann in einer gefährlich wirkenden Ganzkörperrüstung, mit einem langen und tödlichen Speer in einem Schaft, der am Rückenteil des Brustpanzers befestigt war und ebenso einem blitzenden Kurzschwert, daß lose an der rechten Seite seiner Hüfte baumelte und auf der anderen Seite, der in diesem Moment zerbrechlich wirkende schlanke kleine Junge mit seinen einfachen Bauernkleidern und seinen ungekämmten halblangen dunkelbrauen Haaren.
Dieses Bild war so aberwitzig und Cain wusste das.
Er war von diesem kleinen Mann mehr oder weniger geschlagen worden und das war etwas, was er überhaupt nicht leiden konnte.
Doch er wusste etwas über "Dragoon". Und das war ihm überaus wichtig.
Wichtiger noch als die Gesellschaft einer schönen Frau.
"Nun gut... ich warte im Schankraum.", brummte er dann mit leicht knirschenden Zähnen und stapfte von dannen, nachdem er sich seinen Helm wieder vom Bett genommen hatte.
Shasanastaya blickte ihm nach, doch kurz darauf sah sie wieder ihren Vertrauten an, der plötzlich mit einem breiten Grinsen im Gesicht neben seinem Bett stand.
"Was ist denn jetzt schon wieder so lustig?", fragte sie und zweifelte langsam aber sicher an Camauns Verstand.
Er jedoch sah sie an, blickte zurück zum Ausgang aus dem Cain soeben verschwunden war und machte eine lakonische Geste Richtung Tür.
"Was du nur immer an solchen Typen findest.", gab er darauf zurück und lächelte sie warm an.
Sie wurde einen Tick rot im Gesicht und sah leicht beschämt zu Boden, als sie leise sagte: "Naja... ich hab anscheinend ein Faible für solche Männer."
Ihr Vertrauter setzte sich nun langsam und umständlich zurück auf sein Bett, legte seinen Kopf seitlich in seine rechte Hand und meinte: "Und was ist mit Männern wie mir?", wobei er sie von unten her mit einem fragenden Blick bedachte.
"Männer wie du?", fragte sie erstaunt und lies sich neben ihm auf dem Bett nieder.
"Männer wie dich gibt es nicht. Es gibt nur diesen einen.", fügte sie dann hinzu und nahm ihn in den Arm.
Camaun wusste zum ersten Mal in seinem Leben nicht mehr was er sagen sollte...
Und so küssten sie sich lange und innig, während Cain ungeduldig im Schankraum mit seinen Fingern auf das Holz seines Tisches trommelte...
 



 
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