Maite Sinclairs drittes Leben (1)

3,00 Stern(e) 1 Stimme
Maite Sinclairs drittes Leben
© von Pierre Montagnard
Teil 1

Sie war nun 12 Jahre alt. Maite. Ihr Leben bei ihrer Ersatzmutter Ottilie mit ihrem Rabenmann Volker war in eine neue Phase getreten. Während die Ersatzmutter zwar streng, aber auch einfühlsam mit ihr umging, begann Volker an Maite herumzufingern. Er tat dies bei fast jeder Gelegenheit. Maite, total verunsichert, fühlte sich furchtbar. Konnte sich nicht dagegen wehren. Als sie sich einmal aus seiner lästigen Umklammerung löste, weil er an ihre sprießenden Brüstchen fasste, sagte er erbost; „Du hast das geschehen zu lassen, das gehört zu deiner Erziehung, es ist meine Aufgabe dich auf das Leben richtig vorzubereiten, meine Frau kann das nicht!”
Maite hatte keine Ahnung wie es ihren Mitschülerinnen erging, ob sie auch auf diese Weise erzogen werden doch sie war weit davon entfernt, jemals jemand darüber zu fragen. Dafür schämte sie sich zu sehr.

Mit sieben Jahren wurde sie von Ottilie und Volker Grau aus dem Kinderheim geholt, in welches sie mit drei Jahren, als ihre Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen, gekommen war. Das bedeutete zwar auch kein paradiesisches Dasein für sie, aber wenigstens wurde sie gleich behandelt wie alle anderen. Sie wurde weder diskriminiert noch sonst schikaniert, sehnte sich aber nach einem richtigen Heim mit Vater und Mutter, konnte es dann kaum fassen, als sie darauf vorbereitet wurde, dass sie bald das Heim verlassen dürfe und bei einem sehr netten Ehepaar leben könne. Bei den vielen Besuchen, die Ottilie und Volker im Heim machten, schaute Maite ihrer Zukunft zwar mit etwas gemischten Gefühlen entgegen, doch war sie fast sicher, dass sie es gut haben würde mit den beiden. Zu Beginn war das auch so, sie freute sich, dass sie nun ein eigenes Zimmer hatte und besonders freute sie sich, dass sie auch eine richtige Schule besuchen durfte.

In der Schule war sie eher zurückhaltend und schüchtern, hatte in Rolf Bamert, ein Nachbarsohn und Mitschüler einen Beschützer, der sie mehrmals vor dem aufdringlichen Gebrüderpaar Tarasic verteidigte. Bei den Jungen war Maite die allgemeine Favoritin. Sie war hübsch, hatte dunkles krauses Haar, dunkelbraune Augen, sie war groß und schlank, leicht morena ihre Hautfarbe. Eine typische Schönheit aus einer Verbindung zwischen einer südamerikanischen Hochlandindianerin und einem Weißen.

Am Tage ihres zwölften Geburtstages saß sie traurig und schluchzend auf dem niedrigen Mauervorsprung vor dem vierstöckigen Haus, wo sie wohnte, guckte auf die Straße, die einigermaßen belebt war und schmiedete Fluchtpläne. Volker hatte sie vor zwei Stunden in ihrem Zimmer aufgesucht, sie mit fadenscheinigen Argumenten gezwungen, sich auszuziehen und auf ihr Bett zu legen. Sie wollte es nicht, weigerte sich, doch er hatte sie – unter Handanlegung – gezwungen. Strich ihr über die Schenkel und griff ihr unsanft zwischen die Beine. Sie zitterte, schrie auf und es gelang ihr, in einem panischen Anfall von Verzweiflung aus dem Zimmer zu entfliehen. Sie schloss sich im Badezimmer ein. Wartete dort fast zwei Stunden, bis sie hörte, dass Ottilie zurück war. Danach schlich sie in ihr Zimmer, zog sich an, nahm ihre Jacke, ging nach draußen und setzte sich auf ihren Lieblingsplatz vor dem Haus.

Ottilie war nicht in der Wohnung als es passierte. Wenn dieses Scheusal nur tot wäre, dachte Maite. Mit Ottie würde ich klar kommen, resümierte sie weiter. An den Sonntagen bereitete sie mit ihr jeweils Pfannkuchen zu. Maite gefiel es und eines Sonntags fragte sie Ottie ob sie heute die Pfannkuchen alleine zubereiten dürfe. Ottilie willigte ein. Als sie später zu sechst am Tisch saßen – es waren noch Verwandte von Ottie zu Besuch gekommen – schwärmten alle ausgelassen über die köstlichen Pfannkuchen. Sogar das Scheusal Volker war hingerissen und machte große Komplimente. Von diesem Sonntag an wurden die Pfannkuchen nur noch von Maite zubereitet. Sie gab ihr selbst zusammengesetztes Rezept niemandem preis.

Wenn nur das Scheusal nicht wäre. Erneut geriet sie ins Schluchzen. Wenn ich weglaufe bringen sie mich bestimmt wieder in ein Heim. Wenn ich es sage, warum ich weggelaufen bin, wird Ottie die Leidtragende sein. Aber ich muss weg, ich ertrage es nicht mehr, er wird es immer und immer wieder tun. Sie sah keinen Ausweg.

In derselben Nacht konnte Maite lange nicht einschlafen. Sie erschrak jedes Mal fast zu Tode, wenn sie Schritte auf dem Flur hörte. Sie konnte ihre Zimmertür nicht verriegeln. Ottilie sagte ihr zu Beginn schon, als Maite in die Wohnung einzog, dass diese Türe aus Gründen der Sicherheit nicht abgeschlossen werden dürfe. Es war kein Schlüssel für diese Tür vorhanden.
Maite weinte ins Kopfkissen und versuchte verzweifelt nach einer Lösung zu suchen. Ich muss Ottilie bitten, dass sie mir erlaubt in der Nacht die Türe zusperren zu dürfen. Ich werde ihr sagen, dass ich im Heim das durfte, weil ich Angst hatte, dass jemand ins Zimmer kommt. Das stimmte zwar nicht und sie wusste das auch. Im Kinderheim durften die Türen der Schlafzimmer der Kinder auch nicht verriegelt werden. Sie weinte unaufhörlich weiter. Sie verwarf den Gedanken wieder, weil sie Ottilie schon sagen hörte – aber wozu denn mein Kind? Hier brauchst du doch vor niemand Angst zu haben –.
Und wenn ich es ihr sage? Wenn ich ihr sage, wovor ich Angst habe? Würde sie mir glauben? Wenn ich einen Schlüssel hätte, dann könnte ich mich auch tagsüber, wenn Ottilie nicht da ist einschließen. Ich muss es jemandem sagen, denn wenn er es nochmals tut, springe ich aus dem Fenster, oder ich schreie so lange, bis er mich umbringt.

Ottilie, die jeweils an drei Nachmittagen der Woche Deutschunterricht außer Haus in der örtlichen Bibliothek offerierte kam am nächsten Tag ziemlich müde nach Hause. Es entging ihr, dass Maite völlig verweinte Augen hatte, als diese von draußen zurückkam und gleich auf ihr Zimmer ging. Morgen, Freitag, ist der letzte Schultag. Danach begannen die Sommerferien. Maite geriet abermals in Panik. Keine Schule, das heißt, jeden Tag werde ich dem Scheusal ausgeliefert sein. Kein Zufluchtsort. Sie entschloss sich, Ottilie alles zu sagen, egal was passiert.

Als sie in die Küche trat, war Ottilie gerade dabei war, Kartoffeln zu schälen. „Kann ich dir helfen, Ottie?” „Ja gerne, wenn du magst mein Kind. Nächste Woche beginnen die Ferien, Du darfst mit Volker auf den Bauernhof seines Bruders fahren. Da gibt es eine Menge zu sehen für dich. Viele Tiere. Kühe, Hühner, Katzen und Hunde, auch Kaninchen. Es wird dir bestimmt gefallen. Ich werde in einer Woche nachkommen.”
Maite schnitt sich fast in den Finger vor Schreck. Zitterte innerlich. Ihre Vorsätze, Ottilie alles zu sagen bröckelten wieder ab. Sie brachte es nicht fertig und wusste nicht wie beginnen. Ihre Verzweiflung wuchs in panische Furcht. Ich werde es jemand anderen sagen. Heute, nach der Schule. Ottilie wird mir vielleicht nicht glauben, aber es würde bestimmt zu einem fürchterlichen Streit kommen und danach wird mich Ottilie nicht mehr mögen. Dann habe ich niemanden mehr! Ich kann es gar niemandem sagen, wem ich es auch sage, der, oder diejenige wird Ottilie informieren.
„Du scheinst dich gar nicht darüber zu freuen Maite,” schreckte Ottilie sie aus ihren Gedanken auf. „Oh, doch, ich dachte gerade an das heutige Examen am Nachmittag,” stotterte Maite hervor. „Ach, verstehe, habe ich ganz vergessen, Du machst das schon,” sagte Ottilie besänftigend.

Das Examen war zwar schon vorgestern, aber so genau war Ottilie auch nicht im Bilde. Als die Schulglocke an diesem Freitagnachmittag um 15:45 Uhr zum letzten Mal für dieses Semester ertönte, versuchte Maite ihren gefassten Entschluss in die Tat umzusetzen. Sie passte draußen Rolf Bamert ab. Ihre einzige, übriggebliebene Hoffnung, jemand ins Vertrauen zu ziehen. Als sie Rolf von weitem sah, wie er den langen Flur entlang schritt, war er flankiert von weiteren drei Mitschülern. Maite fühlte einen Kloß im Halse. Was soll ich bloß sagen? Auf der Höhe von Maite blieb Rolf kurz stehen, wandte sich ihr zu und sagte auf seine freundliche und wohlerzogene Art; „Wünsche dir einen schönen Urlaub, Maite.” Sie starrte ihn kurz an und stammelte; „Danke, ich dir auch!” Die drei anderen, die mit Rolf waren, lachten und machten ein paar neckische Bemerkungen. Dann waren sie weg.
Heimgesucht von furchterregenden Vorstellungen was Volker mit ihr auf dem Bauernhof alles anstellen würde, zog sie sich an die Hausmauer des Schulgebäudes zurück und kämpfte gegen den aufkommenden Weinkrampf.
Ich werde flüchten, ich weiß nicht wohin, aber die heutige Nacht wird die letzte sein in diesem Horrorhaus. Die bereits geplante Urlaubsreise zum Bauernhof war für Sonntagnachmittag vorgesehen. Bis dann werde ich nicht mehr da sein, sinnierte sie abschließend.

In der folgenden Nacht, es war gegen drei Uhr früh, Maite war wach, hörte sie die Türklinke zu ihrem Schlafzimmer. Sie erstarrte, wollte schreien, aber ihre Stimme war blockiert. Im nächsten Moment saß Volker an ihrem Bettrand. Sie spürte seinen keuchenden Atem. Er flüsterte; „Hab keine Angst, ich wollte dir nur gute Nacht sagen, am Sonntag fahren wir in Urlaub, das wird dir sehr gefallen.” Seine Hand glitt unter ihre Bettdecke und strich ihr über den Oberkörper, ihre Brüste, ihren Bauch, ihre Schenkel. Sie lag da, völlig erstarrt. Sie begann zu zittern, leise zu weinen, dann ließ das Scheusal von ihr ab und verschwand aus dem Zimmer.
Sie lag da, völlig gelähmt, unfähig eines Gedankens, einer Handlung, bis der Tag dämmerte. Sie starrte völlig apathisch zur Zimmerdecke. Ihr danach gefasster Entschluss stand fest. Ich werde mich umbringen, ich gehe in den Wald und schneide mir die Pulsadern auf! Heute! Jetzt!

Sie haderte keinen Moment mehr mit ihrer Entscheidung, war nun noch weiter davon entfernt, Ottilie alles zu sagen. Der Tod wird mich retten, sagte sie sich.
Gegen zehn Uhr, als sie ihre Schokolade getrunken hatte, Ottilie gerade das Haus für einen Einkauf verlassen wollte, schloss sie sich ihr an und ging mit ihr nach unten. Im Badezimmer hatte sie sich zuvor eine von Volkers Rasierklingen angeeignet. Sie verabschiedete sich von Ottilie und setzte sich auf ihren Lieblingsplatz, den kleinen Mauervorsprung vor dem Haus. Geistesabwesend schaute sie dem Treiben auf der Straße zu, welche heute wieder sehr belebt war.
Plötzlich hörte sie aus einem Lautsprecher Musik. Zuerst weit weg, dann kam sie immer näher. Im nächsten Moment bog weiter vorne ein Fahrzeug in ihre Straße ein und erfüllte die ganze Umgebung mit Musik. Maite gefiel die Musik. Sie klang nach Abenteuer, nach Spektakel, sie vermittelte Anziehungskraft und geheimnisvolles.
Jetzt wurde die Musik unterbrochen. Eine junge Männerstimme ertönte aus dem Lautsprecher, der auf dem Dach des Fahrzeuges montiert war: „Nur Samstag, Sonntag und Montag in Ihrer Stadt! Zirkus Sandokan! Tiger, Löwen und Panther! Seiltänzer und Clowns, Artisten und Zauberer! Reservieren Sie jetzt Ihre Plätze für die heutige Abendvorstellung!” Ein Krächzen im Lautsprecher und gleich darauf setzte die Musik wieder da ein, wo sie kurz zuvor unterbrochen wurde.
Maite war fasziniert. Wie schön wäre es mit einem Zirkus zu ziehen. „Nimm mich mit,” hörte sie sich flüstern. Genau auf ihrer Höhe hielt das Fahrzeug an. Ein Junge stieg aus. Schön angezogen, wahrscheinlich war das seine beste Zirkusuniform. Weiße, schön gebügelte Hosen, eine dunkelrote Jacke mit goldenen Knöpfen.

Maite schaute ihn staunend an. Er muss ein Prinz sein! Er trug irgendwelche übergroße Papierbogen auf dem Arm. Er hatte dasselbe krause Haar wie Maite, jedoch dunkelblond. Seine Augen waren fast so dunkelbraun wie ihre. Der Junge kam direkt auf sie zu und lächelte sie freundlich an. Die Musik im Lautsprecher lief weiter. Maite hielt den Atem an. „Hallo mein Fräulein, darf ich hier am Haus ein Plakat vom Zirkus anbringen? Sie kriegen dafür auch zwei Freikarten für die heutige Nachmittagsvorführung!” dabei schaute er aufmerksam in ihr Gesicht und Maite stotterte; „Ja, ich glaube schon, was müsste ich tun, dass ich einmal mit so einem Auto mitfahren dürfte?”
Der Junge lachte sie an – er mochte nicht älter als 17 sein – klebte geübt das Plakat an die Hausmauer und sagte zu Maites völliger Verblüffung; „Kommen Sie! Steigen Sie ein, Sie können mir helfen, Plakate loszuwerden!”
„Meinen Sie das im Ernst? Ich komme gerne mit!”
„Setzen Sie sich nach hinten. Vorne bin ich neben meinem Bruder, er ist der Chauffeur. Er ist als Clown verkleidet, aber er ist kein richtiger Clown, er macht mit mir den Dreifachsalto unter dem Dach des Zeltes, kommen Sie!”
Das Auto fuhr weiter mit Maite im Fond. Sie konnte noch gar nicht begreifen, was eben geschah. Ich werde ihm alles erzählen, ich werde ihn fragen, ob ich bei ihm bleiben kann. Er ist mein Prinz. Dachte sie.
Sie kurvten durch die Stadt begleitet von der Musik des Zirkusautos und den Ansagen von Jacob, so stellte sich ihr Prinz später vor, während er ihr fachmännisch zeigte, wie man die Plakate anbrachte.
Als Maite gerade dabei war sich zu überlegen, wie sie Jacob ins Vertrauen ziehen konnte, überraschte sie dieser aufs Neue; „Wenn Sie möchten, Maite, können Sie eine Nacht in einem Zirkuswagen schlafen, das bieten wir immer wieder an, wenn uns jemand hilft Plakate zu verteilen. Möchten Sie?”
Maite traute ihren Ohren kaum und sagte mutig; „Sie können ruhig du zu mir sagen, ich bin erst gerade Zwölf geworden, ja ja, gerne würde ich einmal in einem Zirkuswagen schlafen.”
„Unser Vater verlangt, dass wir alle Personen per Sie anreden, egal wie jung sie sind, wenn wir unter uns sind Maite, können wir uns duzen, aber wenn andere Leute um uns sind, müssen wir per Sie sein, ist das okay für dich?”
„Ja natürlich Jacob, ich möchte dir noch etwas sagen!” „Okay, ich höre.”
„Ich wollte heute von zu Hause weglaufen ich kann dort nicht mehr leben und ich gehe nicht mehr dahin zurück!”
Jacob schaute sie ernst an. Nach einer Weile sagte er; „was ist denn der Grund dafür Maite? Deine Eltern werden sich Sorgen machen und dich suchen lassen, das wird nicht gehen!”
„Ich habe meine richtigen Eltern bei einem Flugzeugabsturz verloren. Danach wurde ich in ein Kinderheim gesteckt, dort von den jetzigen Eltern rausgeholt aber der Mann verlangt von mir Dinge, die ich nicht tun kann, es wird immer schlimmer. Er fasst mich an, greift mir unter die Kleider, so, dass es wehtut. Ich sterbe lieber, bevor ich dahin zurückgehe.”
Maite liefen Tränen über die Wangen. Jacob trat zu ihr hin, nahm sie behutsam in seine Arme, streichelte ihr über ihre Locken und sagte sanft; „Wir sprechen mit Vater, er hat bestimmt eine Lösung. Er findet für alles eine Lösung.”
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo pierremontagnard, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 
Maite Sinclairs drittes Leben
© von Pierre Montagnard
Teil 1

Sie war nun 12 Jahre alt. Maite. Ihr Leben bei ihrer Ersatzmutter Ottilie mit ihrem Rabenmann Volker war in eine neue Phase getreten. Während die Ersatzmutter zwar streng, aber auch einfühlsam mit ihr umging, begann Volker an Maite herumzufingern. Er tat dies bei fast jeder Gelegenheit. Maite, total verunsichert, fühlte sich furchtbar. Konnte sich nicht dagegen wehren. Als sie sich einmal aus seiner lästigen Umklammerung löste, weil er an ihre sprießenden Brüstchen fasste, sagte er erbost; „Du hast das geschehen zu lassen, das gehört zu deiner Erziehung, es ist meine Aufgabe dich auf das Leben richtig vorzubereiten, meine Frau kann das nicht!”
Maite hatte keine Ahnung wie es ihren Mitschülerinnen erging, ob sie auch auf diese Weise erzogen werden doch sie war weit davon entfernt, jemals jemand darüber zu fragen. Dafür schämte sie sich zu sehr.

Mit sieben Jahren wurde sie von Ottilie und Volker Grau aus dem Kinderheim geholt, in welches sie mit drei Jahren, als ihre Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen, gekommen war. Das bedeutete zwar auch kein paradiesisches Dasein für sie, aber wenigstens wurde sie gleich behandelt wie alle anderen. Sie wurde weder diskriminiert noch sonst schikaniert, sehnte sich aber nach einem richtigen Heim mit Vater und Mutter, konnte es dann kaum fassen, als sie darauf vorbereitet wurde, dass sie bald das Heim verlassen dürfe und bei einem sehr netten Ehepaar leben könne. Bei den vielen Besuchen, die Ottilie und Volker im Heim machten, schaute Maite ihrer Zukunft zwar mit etwas gemischten Gefühlen entgegen, doch war sie fast sicher, dass sie es gut haben würde mit den beiden. Zu Beginn war das auch so, sie freute sich, dass sie nun ein eigenes Zimmer hatte und besonders freute sie sich, dass sie auch eine richtige Schule besuchen durfte.

In der Schule war sie eher zurückhaltend und schüchtern, hatte in Rolf Bamert, ein Nachbarsohn und Mitschüler einen Beschützer, der sie mehrmals vor dem aufdringlichen Gebrüderpaar Tarasic verteidigte. Bei den Jungen war Maite die allgemeine Favoritin. Sie war hübsch, hatte dunkles krauses Haar, dunkelbraune Augen, sie war groß und schlank, leicht morena ihre Hautfarbe. Eine typische Schönheit aus einer Verbindung zwischen einer südamerikanischen Hochlandindianerin und einem Weißen.

Am Tage ihres zwölften Geburtstages saß sie traurig und schluchzend auf dem niedrigen Mauervorsprung vor dem vierstöckigen Haus, wo sie wohnte, guckte auf die Straße, die einigermaßen belebt war und schmiedete Fluchtpläne. Volker hatte sie vor zwei Stunden in ihrem Zimmer aufgesucht, sie mit fadenscheinigen Argumenten gezwungen, sich auszuziehen und auf ihr Bett zu legen. Sie wollte es nicht, weigerte sich, doch er hatte sie – unter Handanlegung – gezwungen. Strich ihr über die Schenkel und griff ihr unsanft zwischen die Beine. Sie zitterte, schrie auf und es gelang ihr, in einem panischen Anfall von Verzweiflung aus dem Zimmer zu entfliehen. Sie schloss sich im Badezimmer ein. Wartete dort fast zwei Stunden, bis sie hörte, dass Ottilie zurück war. Danach schlich sie in ihr Zimmer, zog sich an, nahm ihre Jacke, ging nach draußen und setzte sich auf ihren Lieblingsplatz vor dem Haus.

Ottilie war nicht in der Wohnung als es passierte. Wenn dieses Scheusal nur tot wäre, dachte Maite. Mit Ottie würde ich klar kommen, resümierte sie weiter. An den Sonntagen bereitete sie mit ihr jeweils Pfannkuchen zu. Maite gefiel es und eines Sonntags fragte sie Ottie ob sie heute die Pfannkuchen alleine zubereiten dürfe. Ottilie willigte ein. Als sie später zu sechst am Tisch saßen – es waren noch Verwandte von Ottie zu Besuch gekommen – schwärmten alle ausgelassen über die köstlichen Pfannkuchen. Sogar das Scheusal Volker war hingerissen und machte große Komplimente. Von diesem Sonntag an wurden die Pfannkuchen nur noch von Maite zubereitet. Sie gab ihr selbst zusammengesetztes Rezept niemandem preis.

Wenn nur das Scheusal nicht wäre. Erneut geriet sie ins Schluchzen. Wenn ich weglaufe bringen sie mich bestimmt wieder in ein Heim. Wenn ich es sage, warum ich weggelaufen bin, wird Ottie die Leidtragende sein. Aber ich muss weg, ich ertrage es nicht mehr, er wird es immer und immer wieder tun. Sie sah keinen Ausweg.

In derselben Nacht konnte Maite lange nicht einschlafen. Sie erschrak jedes Mal fast zu Tode, wenn sie Schritte auf dem Flur hörte. Sie konnte ihre Zimmertür nicht verriegeln. Ottilie sagte ihr zu Beginn schon, als Maite in die Wohnung einzog, dass diese Türe aus Gründen der Sicherheit nicht abgeschlossen werden dürfe. Es war kein Schlüssel für diese Tür vorhanden.
Maite weinte ins Kopfkissen und versuchte verzweifelt nach einer Lösung zu suchen. Ich muss Ottilie bitten, dass sie mir erlaubt in der Nacht die Türe zusperren zu dürfen. Ich werde ihr sagen, dass ich im Heim das durfte, weil ich Angst hatte, dass jemand ins Zimmer kommt. Das stimmte zwar nicht und sie wusste das auch. Im Kinderheim durften die Türen der Schlafzimmer der Kinder auch nicht verriegelt werden. Sie weinte unaufhörlich weiter. Sie verwarf den Gedanken wieder, weil sie Ottilie schon sagen hörte – aber wozu denn mein Kind? Hier brauchst du doch vor niemand Angst zu haben –.
Und wenn ich es ihr sage? Wenn ich ihr sage, wovor ich Angst habe? Würde sie mir glauben? Wenn ich einen Schlüssel hätte, dann könnte ich mich auch tagsüber, wenn Ottilie nicht da ist einschließen. Ich muss es jemandem sagen, denn wenn er es nochmals tut, springe ich aus dem Fenster, oder ich schreie so lange, bis er mich umbringt.

Ottilie, die jeweils an drei Nachmittagen der Woche Deutschunterricht außer Haus in der örtlichen Bibliothek offerierte kam am nächsten Tag ziemlich müde nach Hause. Es entging ihr, dass Maite völlig verweinte Augen hatte, als diese von draußen zurückkam und gleich auf ihr Zimmer ging. Morgen, Freitag, ist der letzte Schultag. Danach begannen die Sommerferien. Maite geriet abermals in Panik. Keine Schule, das heißt, jeden Tag werde ich dem Scheusal ausgeliefert sein. Kein Zufluchtsort. Sie entschloss sich, Ottilie alles zu sagen, egal was passiert.

Als sie in die Küche trat, war Ottilie gerade dabei, Kartoffeln zu schälen. „Kann ich dir helfen, Ottie?” „Ja gerne, wenn du magst mein Kind. Nächste Woche beginnen die Ferien, Du darfst mit Volker auf den Bauernhof seines Bruders fahren. Da gibt es eine Menge zu sehen für dich. Viele Tiere. Kühe, Hühner, Katzen und Hunde, auch Kaninchen. Es wird dir bestimmt gefallen. Ich werde in einer Woche nachkommen.”
Maite schnitt sich fast in den Finger vor Schreck. Zitterte innerlich. Ihre Vorsätze, Ottilie alles zu sagen bröckelten wieder ab. Sie brachte es nicht fertig und wusste nicht wie beginnen. Ihre Verzweiflung wuchs in panische Furcht. Ich werde es jemand anderen sagen. Heute, nach der Schule. Ottilie wird mir vielleicht nicht glauben, aber es würde bestimmt zu einem fürchterlichen Streit kommen und danach wird mich Ottilie nicht mehr mögen. Dann habe ich niemanden mehr! Ich kann es gar niemandem sagen, wem ich es auch sage, der, oder diejenige wird Ottilie informieren.
„Du scheinst dich gar nicht darüber zu freuen Maite,” schreckte Ottilie sie aus ihren Gedanken auf. „Oh, doch, ich dachte gerade an das heutige Examen am Nachmittag,” stotterte Maite hervor. „Ach, verstehe, habe ich ganz vergessen, Du machst das schon,” sagte Ottilie besänftigend.

Das Examen war zwar schon vorgestern, aber so genau war Ottilie auch nicht im Bilde. Als die Schulglocke an diesem Freitagnachmittag um 15:45 Uhr zum letzten Mal für dieses Semester ertönte, versuchte Maite ihren gefassten Entschluss in die Tat umzusetzen. Sie passte draußen Rolf Bamert ab. Ihre einzige, übriggebliebene Hoffnung, jemand ins Vertrauen zu ziehen. Als sie Rolf von weitem sah, wie er den langen Flur entlang schritt, war er flankiert von weiteren drei Mitschülern. Maite fühlte einen Kloß im Halse. Was soll ich bloß sagen? Auf der Höhe von Maite blieb Rolf kurz stehen, wandte sich ihr zu und sagte auf seine freundliche und wohlerzogene Art; „Wünsche dir einen schönen Urlaub, Maite.” Sie starrte ihn kurz an und stammelte; „Danke, ich dir auch!” Die drei anderen, die mit Rolf waren, lachten und machten ein paar neckische Bemerkungen. Dann waren sie weg.
Heimgesucht von furchterregenden Vorstellungen was Volker mit ihr auf dem Bauernhof alles anstellen würde, zog sie sich an die Hausmauer des Schulgebäudes zurück und kämpfte gegen den aufkommenden Weinkrampf.
Ich werde flüchten, ich weiß nicht wohin, aber die heutige Nacht wird die letzte sein in diesem Horrorhaus. Die bereits geplante Urlaubsreise zum Bauernhof war für Sonntagnachmittag vorgesehen. Bis dann werde ich nicht mehr da sein, sinnierte sie abschließend.

In der folgenden Nacht, es war gegen drei Uhr früh, Maite war wach, hörte sie die Türklinke zu ihrem Schlafzimmer. Sie erstarrte, wollte schreien, aber ihre Stimme war blockiert. Im nächsten Moment saß Volker an ihrem Bettrand. Sie spürte seinen keuchenden Atem. Er flüsterte; „Hab keine Angst, ich wollte dir nur gute Nacht sagen, am Sonntag fahren wir in Urlaub, das wird dir sehr gefallen.” Seine Hand glitt unter ihre Bettdecke und strich ihr über den Oberkörper, ihre Brüste, ihren Bauch, ihre Schenkel. Sie lag da, völlig erstarrt. Sie begann zu zittern, leise zu weinen, dann ließ das Scheusal von ihr ab und verschwand aus dem Zimmer.
Sie lag da, völlig gelähmt, unfähig eines Gedankens, einer Handlung, bis der Tag dämmerte. Sie starrte völlig apathisch zur Zimmerdecke. Ihr danach gefasster Entschluss stand fest. Ich werde mich umbringen, ich gehe in den Wald und schneide mir die Pulsadern auf! Heute! Jetzt!

Sie haderte keinen Moment mehr mit ihrer Entscheidung, war nun noch weiter davon entfernt, Ottilie alles zu sagen. Der Tod wird mich retten, sagte sie sich.
Gegen zehn Uhr, als sie ihre Schokolade getrunken hatte, Ottilie gerade das Haus für einen Einkauf verlassen wollte, schloss sie sich ihr an und ging mit ihr nach unten. Im Badezimmer hatte sie sich zuvor eine von Volkers Rasierklingen angeeignet. Sie verabschiedete sich von Ottilie und setzte sich auf ihren Lieblingsplatz, den kleinen Mauervorsprung vor dem Haus. Geistesabwesend schaute sie dem Treiben auf der Straße zu, welche heute wieder sehr belebt war.
Plötzlich hörte sie aus einem Lautsprecher Musik. Zuerst weit weg, dann kam sie immer näher. Im nächsten Moment bog weiter vorne ein Fahrzeug in ihre Straße ein und erfüllte die ganze Umgebung mit Musik. Maite gefiel die Musik. Sie klang nach Abenteuer, nach Spektakel, sie vermittelte Anziehungskraft und geheimnisvolles.
Jetzt wurde die Musik unterbrochen. Eine junge Männerstimme ertönte aus dem Lautsprecher, der auf dem Dach des Fahrzeuges montiert war: „Nur Samstag, Sonntag und Montag in Ihrer Stadt! Zirkus Sandokan! Tiger, Löwen und Panther! Seiltänzer und Clowns, Artisten und Zauberer! Reservieren Sie jetzt Ihre Plätze für die heutige Abendvorstellung!” Ein Krächzen im Lautsprecher und gleich darauf setzte die Musik wieder da ein, wo sie kurz zuvor unterbrochen wurde.
Maite war fasziniert. Wie schön wäre es mit einem Zirkus zu ziehen. „Nimm mich mit,” hörte sie sich flüstern. Genau auf ihrer Höhe hielt das Fahrzeug an. Ein Junge stieg aus. Schön angezogen, wahrscheinlich war das seine beste Zirkusuniform. Weiße, schön gebügelte Hosen, eine dunkelrote Jacke mit goldenen Knöpfen.

Maite schaute ihn staunend an. Er muss ein Prinz sein! Er trug irgendwelche übergroße Papierbogen auf dem Arm. Er hatte dasselbe krause Haar wie Maite, jedoch dunkelblond. Seine Augen waren fast so dunkelbraun wie ihre. Der Junge kam direkt auf sie zu und lächelte sie freundlich an. Die Musik im Lautsprecher lief weiter. Maite hielt den Atem an. „Hallo mein Fräulein, darf ich hier am Haus ein Plakat vom Zirkus anbringen? Sie kriegen dafür auch zwei Freikarten für die heutige Nachmittagsvorführung!” dabei schaute er aufmerksam in ihr Gesicht und Maite stotterte; „Ja, ich glaube schon, was müsste ich tun, dass ich einmal mit so einem Auto mitfahren dürfte?”
Der Junge lachte sie an – er mochte nicht älter als 17 sein – klebte geübt das Plakat an die Hausmauer und sagte zu Maites völliger Verblüffung; „Kommen Sie! Steigen Sie ein, Sie können mir helfen, Plakate loszuwerden!”
„Meinen Sie das im Ernst? Ich komme gerne mit!”
„Setzen Sie sich nach hinten. Vorne bin ich neben meinem Bruder, er ist der Chauffeur. Er ist als Clown verkleidet, aber er ist kein richtiger Clown, er macht mit mir den Dreifachsalto unter dem Dach des Zeltes, kommen Sie!”
Das Auto fuhr weiter mit Maite im Fond. Sie konnte noch gar nicht begreifen, was eben geschah. Ich werde ihm alles erzählen, ich werde ihn fragen, ob ich bei ihm bleiben kann. Er ist mein Prinz. Dachte sie.
Sie kurvten durch die Stadt begleitet von der Musik des Zirkusautos und den Ansagen von Jacob, so stellte sich ihr Prinz später vor, während er ihr fachmännisch zeigte, wie man die Plakate anbrachte.
Als Maite gerade dabei war sich zu überlegen, wie sie Jacob ins Vertrauen ziehen konnte, überraschte sie dieser aufs Neue; „Wenn Sie möchten, Maite, können Sie eine Nacht in einem Zirkuswagen schlafen, das bieten wir immer wieder an, wenn uns jemand hilft Plakate zu verteilen. Möchten Sie?”
Maite traute ihren Ohren kaum und sagte mutig; „Sie können ruhig du zu mir sagen, ich bin erst gerade Zwölf geworden, ja ja, gerne würde ich einmal in einem Zirkuswagen schlafen.”
„Unser Vater verlangt, dass wir alle Personen per Sie anreden, egal wie jung sie sind, wenn wir unter uns sind Maite, können wir uns duzen, aber wenn andere Leute um uns sind, müssen wir per Sie sein, ist das okay für dich?”
„Ja natürlich Jacob, ich möchte dir noch etwas sagen!” „Okay, ich höre.”
„Ich wollte heute von zu Hause weglaufen ich kann dort nicht mehr leben und ich gehe nicht mehr dahin zurück!”
Jacob schaute sie ernst an. Nach einer Weile sagte er; „was ist denn der Grund dafür Maite? Deine Eltern werden sich Sorgen machen und dich suchen lassen, das wird nicht gehen!”
„Ich habe meine richtigen Eltern bei einem Flugzeugabsturz verloren. Danach wurde ich in ein Kinderheim gesteckt, dort von den jetzigen Eltern rausgeholt aber der Mann verlangt von mir Dinge, die ich nicht tun kann, es wird immer schlimmer. Er fasst mich an, greift mir unter die Kleider, so, dass es wehtut. Ich sterbe lieber, bevor ich dahin zurückgehe.”
Maite liefen Tränen über die Wangen. Jacob trat zu ihr hin, nahm sie behutsam in seine Arme, streichelte ihr über ihre Locken und sagte sanft; „Wir sprechen mit Vater, er hat bestimmt eine Lösung. Er findet für alles eine Lösung.”
 
Maite Sinclairs drittes Leben
© von Pierre Montagnard
Teil 1

Sie war nun 12 Jahre alt. Maite. Ihr Leben bei ihrer Ersatzmutter Ottilie mit ihrem Rabenmann Volker war in eine neue Phase getreten. Während die Ersatzmutter zwar streng, aber auch einfühlsam mit ihr umging, begann Volker an Maite herumzufingern. Er tat dies bei fast jeder Gelegenheit. Maite, total verunsichert, fühlte sich furchtbar. Konnte sich nicht dagegen wehren. Als sie sich einmal aus seiner lästigen Umklammerung löste, weil er an ihre sprießenden Brüstchen fasste, sagte er erbost; „Du hast das geschehen zu lassen, das gehört zu deiner Erziehung, es ist meine Aufgabe dich auf das Leben richtig vorzubereiten, meine Frau kann das nicht!”
Maite hatte keine Ahnung wie es ihren Mitschülerinnen erging, ob sie auch auf diese Weise erzogen werden doch sie war weit davon entfernt, jemals jemand darüber zu fragen. Dafür schämte sie sich zu sehr.

Mit sieben Jahren wurde sie von Ottilie und Volker Grau aus dem Kinderheim geholt, in welches sie mit drei Jahren, als ihre Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen, gekommen war. Das bedeutete zwar auch kein paradiesisches Dasein für sie, aber wenigstens wurde sie gleich behandelt wie alle anderen. Sie wurde weder diskriminiert noch sonst schikaniert, sehnte sich aber nach einem richtigen Heim mit Vater und Mutter, konnte es dann kaum fassen, als sie darauf vorbereitet wurde, dass sie bald das Heim verlassen dürfe und bei einem sehr netten Ehepaar leben könne. Bei den vielen Besuchen, die Ottilie und Volker im Heim machten, schaute Maite ihrer Zukunft zwar mit etwas gemischten Gefühlen entgegen, doch war sie fast sicher, dass sie es gut haben würde mit den beiden. Zu Beginn war das auch so, sie freute sich, dass sie nun ein eigenes Zimmer hatte und besonders freute sie sich, dass sie auch eine richtige Schule besuchen durfte.

In der Schule war sie eher zurückhaltend und schüchtern, hatte in Rolf Bamert, ein Nachbarsohn und Mitschüler einen Beschützer, der sie mehrmals vor dem aufdringlichen Gebrüderpaar Tarasic verteidigte. Bei den Jungen war Maite die allgemeine Favoritin. Sie war hübsch, hatte dunkles krauses Haar, dunkelbraune Augen, sie war groß und schlank, leicht morena ihre Hautfarbe. Eine typische Schönheit aus einer Verbindung zwischen einer südamerikanischen Hochlandindianerin und einem Weißen.

Am Tage ihres zwölften Geburtstages saß sie traurig und schluchzend auf dem niedrigen Mauervorsprung vor dem vierstöckigen Haus, wo sie wohnte, guckte auf die Straße, die einigermaßen belebt war und schmiedete Fluchtpläne. Volker hatte sie vor zwei Stunden in ihrem Zimmer aufgesucht, sie mit fadenscheinigen Argumenten gezwungen, sich auszuziehen und auf ihr Bett zu legen. Sie wollte es nicht, weigerte sich, doch er hatte sie – unter Handanlegung – gezwungen. Strich ihr über die Schenkel und griff ihr unsanft zwischen die Beine. Sie zitterte, schrie auf und es gelang ihr, in einem panischen Anfall von Verzweiflung aus dem Zimmer zu entfliehen. Sie schloss sich im Badezimmer ein. Wartete dort fast zwei Stunden, bis sie hörte, dass Ottilie zurück war. Danach schlich sie in ihr Zimmer, zog sich an, nahm ihre Jacke, ging nach draußen und setzte sich auf ihren Lieblingsplatz vor dem Haus.

Ottilie war nicht in der Wohnung als es passierte. Wenn dieses Scheusal nur tot wäre, dachte Maite. Mit Ottie würde ich klar kommen, resümierte sie weiter. An den Sonntagen bereitete sie mit ihr jeweils Pfannkuchen zu. Maite gefiel es und eines Sonntags fragte sie Ottie ob sie heute die Pfannkuchen alleine zubereiten dürfe. Ottilie willigte ein. Als sie später zu sechst am Tisch saßen – es waren noch Verwandte von Ottie zu Besuch gekommen – schwärmten alle ausgelassen über die köstlichen Pfannkuchen. Sogar das Scheusal Volker war hingerissen und machte große Komplimente. Von diesem Sonntag an wurden die Pfannkuchen nur noch von Maite zubereitet. Sie gab ihr selbst zusammengesetztes Rezept niemandem preis.

Wenn nur das Scheusal nicht wäre. Erneut geriet sie ins Schluchzen. Wenn ich weglaufe bringen sie mich bestimmt wieder in ein Heim. Wenn ich es sage, warum ich weggelaufen bin, wird Ottie die Leidtragende sein. Aber ich muss weg, ich ertrage es nicht mehr, er wird es immer und immer wieder tun. Sie sah keinen Ausweg.

In derselben Nacht konnte Maite lange nicht einschlafen. Sie erschrak jedes Mal fast zu Tode, wenn sie Schritte auf dem Flur hörte. Sie konnte ihre Zimmertür nicht verriegeln. Ottilie sagte ihr zu Beginn schon, als Maite in die Wohnung einzog, dass diese Türe aus Gründen der Sicherheit nicht abgeschlossen werden dürfe. Es war kein Schlüssel für diese Tür vorhanden.
Maite weinte ins Kopfkissen und versuchte verzweifelt nach einer Lösung zu suchen. Ich muss Ottilie bitten, dass sie mir erlaubt in der Nacht die Türe zusperren zu dürfen. Ich werde ihr sagen, dass ich im Heim das durfte, weil ich Angst hatte, dass jemand ins Zimmer kommt. Das stimmte zwar nicht und sie wusste das auch. Im Kinderheim durften die Türen der Schlafzimmer der Kinder auch nicht verriegelt werden. Sie weinte unaufhörlich weiter. Sie verwarf den Gedanken wieder, weil sie Ottilie schon sagen hörte – aber wozu denn mein Kind? Hier brauchst du doch vor niemand Angst zu haben –.
Und wenn ich es ihr sage? Wenn ich ihr sage, wovor ich Angst habe? Würde sie mir glauben? Wenn ich einen Schlüssel hätte, dann könnte ich mich auch tagsüber, wenn Ottilie nicht da ist einschließen. Ich muss es jemandem sagen, denn wenn er es nochmals tut, springe ich aus dem Fenster, oder ich schreie so lange, bis er mich umbringt.

Ottilie, die jeweils an drei Nachmittagen der Woche Deutschunterricht außer Haus in der örtlichen Bibliothek offerierte kam am nächsten Tag ziemlich müde nach Hause. Es entging ihr, dass Maite völlig verweinte Augen hatte, als diese von draußen zurückkam und gleich auf ihr Zimmer ging. Morgen, Freitag, ist der letzte Schultag. Danach begannen die Sommerferien. Maite geriet abermals in Panik. Keine Schule, das heißt, jeden Tag werde ich dem Scheusal ausgeliefert sein. Kein Zufluchtsort. Sie entschloss sich, Ottilie alles zu sagen, egal was passiert.

Als sie in die Küche trat, war Ottilie gerade dabei, Kartoffeln zu schälen. „Kann ich dir helfen, Ottie?” „Ja gerne, wenn du magst mein Kind. Nächste Woche beginnen die Ferien, Du darfst mit Volker auf den Bauernhof seines Bruders fahren. Da gibt es eine Menge zu sehen für dich. Viele Tiere. Kühe, Hühner, Katzen und Hunde, auch Kaninchen. Es wird dir bestimmt gefallen. Ich werde in einer Woche nachkommen.”
Maite schnitt sich fast in den Finger vor Schreck. Zitterte innerlich. Ihre Vorsätze, Ottilie alles zu sagen bröckelten wieder ab. Sie brachte es nicht fertig und wusste nicht wie beginnen. Ihre Verzweiflung wuchs in panische Furcht. Ich werde es jemand anderen sagen. Heute, nach der Schule. Ottilie wird mir vielleicht nicht glauben, aber es würde bestimmt zu einem fürchterlichen Streit kommen und danach wird mich Ottilie nicht mehr mögen. Dann habe ich niemanden mehr! Ich kann es gar niemandem sagen, wem ich es auch sage, der, oder diejenige wird Ottilie informieren.
„Du scheinst dich gar nicht darüber zu freuen Maite,” schreckte Ottilie sie aus ihren Gedanken auf. „Oh, doch, ich dachte gerade an das heutige Examen am Nachmittag,” stotterte Maite hervor. „Ach, verstehe, habe ich ganz vergessen, Du machst das schon,” sagte Ottilie besänftigend.

Das Examen war zwar schon vorgestern, aber so genau war Ottilie auch nicht im Bilde. Als die Schulglocke an diesem Freitagnachmittag um 15:45 Uhr zum letzten Mal für dieses Semester ertönte, versuchte Maite ihren gefassten Entschluss in die Tat umzusetzen. Sie passte draußen Rolf Bamert ab. Ihre einzige, übriggebliebene Hoffnung, jemand ins Vertrauen zu ziehen. Als sie Rolf von weitem sah, wie er den langen Flur entlang schritt, war er flankiert von weiteren drei Mitschülern. Maite fühlte einen Kloß im Halse. Was soll ich bloß sagen? Auf der Höhe von Maite blieb Rolf kurz stehen, wandte sich ihr zu und sagte auf seine freundliche und wohlerzogene Art; „Wünsche dir einen schönen Urlaub, Maite.” Sie starrte ihn kurz an und stammelte; „Danke, ich dir auch!” Die drei anderen, die mit Rolf waren, lachten und machten ein paar neckische Bemerkungen. Dann waren sie weg.
Heimgesucht von furchterregenden Vorstellungen was Volker mit ihr auf dem Bauernhof alles anstellen würde, zog sie sich an die Hausmauer des Schulgebäudes zurück und kämpfte gegen den aufkommenden Weinkrampf.
Ich werde flüchten, ich weiß nicht wohin, aber die heutige Nacht wird die letzte sein in diesem Horrorhaus. Die bereits geplante Urlaubsreise zum Bauernhof war für Sonntagnachmittag vorgesehen. Bis dann werde ich nicht mehr da sein, sinnierte sie abschließend.

In der folgenden Nacht, es war gegen drei Uhr früh, Maite war wach, hörte sie die Türklinke zu ihrem Schlafzimmer. Sie erstarrte, wollte schreien, aber ihre Stimme war blockiert. Im nächsten Moment saß Volker an ihrem Bettrand. Sie spürte seinen keuchenden Atem. Er flüsterte; „Hab keine Angst, ich wollte dir nur gute Nacht sagen, am Sonntag fahren wir in Urlaub, das wird dir sehr gefallen.” Seine Hand glitt unter ihre Bettdecke und strich ihr über den Oberkörper, ihre Brüste, ihren Bauch, ihre Schenkel. Sie lag da, völlig erstarrt. Sie begann zu zittern, leise zu weinen, dann ließ das Scheusal von ihr ab und verschwand aus dem Zimmer.
Sie lag da, völlig gelähmt, unfähig eines Gedankens, einer Handlung, bis der Tag dämmerte. Sie starrte völlig apathisch zur Zimmerdecke. Ihr danach gefasster Entschluss stand fest. Ich werde mich umbringen, ich gehe in den Wald und schneide mir die Pulsadern auf! Heute! Jetzt!

Sie haderte keinen Moment mehr mit ihrer Entscheidung, war nun noch weiter davon entfernt, Ottilie alles zu sagen. Der Tod wird mich retten, sagte sie sich.
Gegen zehn Uhr, als sie ihre Schokolade getrunken hatte, Ottilie gerade das Haus für einen Einkauf verlassen wollte, schloss sie sich ihr an und ging mit ihr nach unten. Im Badezimmer hatte sie sich zuvor eine von Volkers Rasierklingen angeeignet. Sie verabschiedete sich von Ottilie und setzte sich auf ihren Lieblingsplatz, den kleinen Mauervorsprung vor dem Haus. Geistesabwesend schaute sie dem Treiben auf der Straße zu, welche heute wieder sehr belebt war.
Plötzlich hörte sie aus einem Lautsprecher Musik. Zuerst weit weg, dann kam sie immer näher. Im nächsten Moment bog weiter vorne ein Fahrzeug in ihre Straße ein und erfüllte die ganze Umgebung mit Musik. Maite gefiel die Musik. Sie klang nach Abenteuer, nach Spektakel, sie vermittelte Anziehungskraft und geheimnisvolles.
Jetzt wurde die Musik unterbrochen. Eine junge Männerstimme ertönte aus dem Lautsprecher, der auf dem Dach des Fahrzeuges montiert war: „Nur Samstag, Sonntag und Montag in Ihrer Stadt! Zirkus Sandokan! Tiger, Löwen und Panther! Seiltänzer und Clowns, Artisten und Zauberer! Reservieren Sie jetzt Ihre Plätze für die heutige Abendvorstellung!” Ein Krächzen im Lautsprecher und gleich darauf setzte die Musik wieder da ein, wo sie kurz zuvor unterbrochen wurde.
Maite war fasziniert. Wie schön wäre es mit einem Zirkus zu ziehen. „Nimm mich mit,” hörte sie sich flüstern. Genau auf ihrer Höhe hielt das Fahrzeug an. Ein Junge stieg aus. Schön angezogen, wahrscheinlich war das seine beste Zirkusuniform. Weiße, schön gebügelte Hosen, eine dunkelrote Jacke mit goldenen Knöpfen.

Maite schaute ihn staunend an. Er muss ein Prinz sein! Er trug irgendwelche übergroße Papierbogen auf dem Arm. Er hatte dasselbe krause Haar wie Maite, jedoch dunkelblond. Seine Augen waren fast so dunkelbraun wie ihre. Der Junge kam direkt auf sie zu und lächelte sie freundlich an. Die Musik im Lautsprecher lief weiter. Maite hielt den Atem an. „Hallo mein Fräulein, darf ich hier am Haus ein Plakat vom Zirkus anbringen? Sie kriegen dafür auch zwei Freikarten für die heutige Nachmittagsvorführung!” dabei schaute er aufmerksam in ihr Gesicht und Maite stotterte; „Ja, ich glaube schon, was müsste ich tun, dass ich einmal mit so einem Auto mitfahren dürfte?”
Der Junge lachte sie an – er mochte nicht älter als 17 sein – klebte geübt das Plakat an die Hausmauer und sagte zu Maites völliger Verblüffung; „Kommen Sie! Steigen Sie ein, Sie können mir helfen, Plakate loszuwerden!”
„Meinen Sie das im Ernst? Ich komme gerne mit!”
„Setzen Sie sich nach hinten. Vorne bin ich neben meinem Bruder, er ist der Chauffeur. Er ist als Clown verkleidet, aber er ist kein richtiger Clown, er macht mit mir den Dreifachsalto unter dem Dach des Zeltes, kommen Sie!”
Das Auto fuhr weiter mit Maite im Fond. Sie konnte noch gar nicht begreifen, was eben geschah. Ich werde ihm alles erzählen, ich werde ihn fragen, ob ich bei ihm bleiben kann. Er ist mein Prinz. Dachte sie.
Sie kurvten durch die Stadt begleitet von der Musik des Zirkusautos und den Ansagen von Jacob, so stellte sich ihr Prinz später vor, während er ihr fachmännisch zeigte, wie man die Plakate anbrachte.
Als Maite gerade dabei war sich zu überlegen, wie sie Jacob ins Vertrauen ziehen konnte, überraschte sie dieser aufs Neue; „Wenn Sie möchten, Maite, können Sie eine Nacht in einem Zirkuswagen schlafen, das bieten wir immer wieder an, wenn uns jemand hilft Plakate zu verteilen. Möchten Sie?”
Maite traute ihren Ohren kaum und sagte mutig; „Sie können ruhig du zu mir sagen, ich bin erst gerade Zwölf geworden, ja ja, gerne würde ich einmal in einem Zirkuswagen schlafen.”
„Unser Vater verlangt, dass wir alle Personen per Sie anreden, egal wie jung sie sind, wenn wir unter uns sind Maite, können wir uns duzen, aber wenn andere Leute um uns sind, müssen wir per Sie sein, ist das okay für dich?”
„Ja natürlich Jacob, ich möchte dir noch etwas sagen!” „Okay, ich höre.”
„Ich wollte heute von zu Hause weglaufen ich kann dort nicht mehr leben und ich gehe nicht mehr dahin zurück!”
Jacob schaute sie ernst an. Nach einer Weile sagte er; „Was ist denn der Grund dafür Maite? Deine Eltern werden sich Sorgen machen und dich suchen lassen, das wird nicht gehen!”
„Ich habe meine richtigen Eltern bei einem Flugzeugabsturz verloren. Danach wurde ich in ein Kinderheim gesteckt, dort von den jetzigen Eltern rausgeholt aber der Mann verlangt von mir Dinge, die ich nicht tun kann, es wird immer schlimmer. Er fasst mich an, greift mir unter die Kleider, so, dass es wehtut. Ich sterbe lieber, bevor ich dahin zurückgehe.”
Maite liefen Tränen über die Wangen. Jacob trat zu ihr hin, nahm sie behutsam in seine Arme, streichelte ihr über ihre Locken und sagte sanft; „Wir sprechen mit Vater, er hat bestimmt eine Lösung. Er findet für alles eine Lösung.”
 
G

Gelöschtes Mitglied 16391

Gast
Cher Monsieur Montagnard,
vous êtes français? Ou est-ce que ce n'est qu'un nom de plume que vous avez choisi pour impressioner les chleus?

Ich sag mal so: Die Geschichte an sich bietet genügend Stoff für einen längeren Text und da dies nur der erste Teil ist, hast du ihn auch so angelegt. Ich habe bis jetzt nur diesen Teil gelesen und die gute Nachricht vorweg: ich habe ihn ganz gelesen. Etwas muss mich also gepackt haben, ich nehme an, dass es die Ausweglosigkeit des Mädchens ist, die du ziemloich eindringlich schilderst. Auch handwerklich gibt es nicht allzu viel zu meckern: Ein paar mal benutzt du falsche Tempora, hier und da sind die Zeitangaben perspektivisch falsch.

Der größte Kritikpunkt ist m.E. folgender: In Teilen liest sich dein Text zu sehr wie ein Bericht, es wird erzählt und erzählt und erzählt. Dadurch bewältigst du zwar eine Menge Handlung, aber diese Handlung wird nur selten eindringlich vermittelt. Entwicklungen finden zu rasch statt: Ah, ein Zirkus, mit dem könnte ich fliehen, oh, super, ich darf mit Plakate verteilen, der junge Mann ist nett, ich vertraue mich ihm an und übernachte auch dort. Das wirkt in seiner Hastigkeit doch etwas übertrieben und wenig realistisch. Die Ich-flieh-mit-dem-Zirkus Nummer ist m.E. auch schon etwas ausgelustscht(Charlie Chaplins The Circus von 1928 oder zuletzt Wasser für die Elefanten mit Christoph Waltz von 2011).

Dennoch werde ich weiterlesen und dir ggf. Rückmeldungen über den Rest geben. Manchmal muss man auch erst ein bißchen schreiben, bis man ein Gefühl für das Erzähltempo oder die Balance zwischen Show und Tell bekommt.

Liebe Grüße,

CPMan
 
Maite Sinclairs drittes Leben

Muy buenas tardes CPMan

Zunächst recht herzlichen Dank für Deine Rückmeldung, ebenso für die Kritik. Mein Pseudonym, Pierre Montagnard, haben mir 1974/75 die Franzosen verpasst, als ich da in Mantes la Jolie arbeitete. Sie hatten größte Mühe, meinen Nachnamen auszusprechen. So haben sie mich “umgetauft”. Ich stamme aus der deutschsprachigen Schweiz, verbrachte 18 Jahre in Südamerika, wo dann allmählich mein Französisch dem Spanisch wich.

Kurzgeschichten sind nicht mein Genre. Schreiben tue ich schon lange, aber ohne mich jemals diesbezüglich weitergebildet zu haben. Als ich von Südamerika zurück war, (ich lebe nun in Catalunya) habe ich mir vorgenommen, einen Roman zu schreiben. Ohne jegliche Kenntnisse, was da heute auf dem Buchmarkt so alles abgeht, griff ich “zur Feder” und wütete los! Erst als ich diesen nach 18 Monaten fertig hatte, begann ich, mich via Internet und Korrespondenz schlau zu machen, wie die Chancen stehen, meinen Roman zu veröffentlichen. Die Zahlen von eingereichten Manuskripten, von denen – gemäß diverser Verleger – gegen 98 % im Papierkorb, oder als Absagen enden, mindestens im Falle von Newcomern, sprechen eine deutliche Sprache!

Dennoch erhielt ich, nebst einer Absage, auch zwei sehr gute Kritiken und sogar die Bereitschaft, meinen Roman zu veröffentlichen. Allerdings mit der Auflage, eines happigen Kostenzuschusses. Nach sammeln von Informationen kam ich zum Schluss, dass beide Verlage mein Werk wahrscheinlich gut genug finden, um ihren Namen mit auf das Buch zu setzen, dieses aber – durch die Mitfinanzierung meinerseits – vor einem literarischen Härtetest “verschonen”! Davon abgesehen, dass ich außerstande bin, die erfragten Kosten zu berappen, fehlt mir noch immer eine wirkliche Standortbestimmung. Erbracht von einem neutralen Profi.

Soviel in Abschweifung. Danach bin ich auf verschiedenen literarischen Plattformen herum gesurft und bin auf der Leselupe hängengeblieben, die mir von allen am besten gefällt, nahm mir vor, mich da anzumelden, mich mal mit einem Beitrag zu versuchen, um mich in “der Luft zerreißen” zulassen!

“Maite Sinclairs drittes Leben” inspirierte mich durch ein Vorkommnis aus meiner Jugend, als tatsächlich ein Nachbarmädchen plötzlich verschwand und erst Jahre später in einem englischen Zirkus, als dannzumal erwachsene Frau, wieder auftauchte. (Aussagen der Nachbarn nach mehr als 20 Jahren!) Die Geschichte an sich, ist jedoch von mir frei erfunden. Ich weiß, dass der Zirkusjunge in der Geschichte sehr schnell auftaucht. Ich haderte auch, zum Zeitpunkt, als Maite völlig verzweifelt, auf dem Mauervorsprung saß, mit der Rasierklinge in der Jackentasche, das Ende vor Augen. Ich konnte sie nicht sterben lassen! Dabei fiel mir ein kleines Bild ein, welches im Schlafzimmer meiner Großmutter hing, auf dem, mit altdeutschen Lettern stand; “immer wenn Du meinst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her!” Das Lichtlein verkörperte den Zirkusjungen. Dies ist lediglich meine Erklärung, entbindet jedoch nicht, von Deiner berechtigten Kritik.

Wenn Du mir noch einen kurzen Hinweis auf die “falsche Tempora” sowie die “perspektivisch falschen Zeitangaben”, geben könntest, wäre ich Dir sehr dankbar. Denn trotzt viel lesen und schreiben, bekenne ich mich dazu, dass ich noch ein Lehrling bin. Freue mich im Übrigen, dass es mir immerhin gelang, Dich zum Weiterlesen zu motivieren!

In diesem Sinne, herzliche Grüße

Pierre Montagnard (Peter, der Bergbewohner)
 
G

Gelöschtes Mitglied 16391

Gast
Zwei Beispiele:

Das Examen war zwar schon vorgestern, aber so genau war Ottilie auch nicht im Bilde. Als die Schulglocke an diesem Freitagnachmittag um 15:45 Uhr zum letzten Mal für dieses Semester ertönte, versuchte Maite ihren gefassten Entschluss in die Tat umzusetzen.
Wenn eine Geschichte in der Vergangenheit erzählt wird, benutzt man m.E. statt 'gestern' den Ausdruck 'tags zuvor' und statt vorgestern den Ausdruck 'zwei Tage vorher'.

Mit sieben Jahren wurde sie von Ottilie und Volker Grau aus dem Kinderheim geholt, in welches sie mit drei Jahren, als ihre Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen, gekommen war.
Hier entsteht aufgrund der Tempora bei mir der Eindruck, sie sei schon vor dem Flugzeugabsturz ins Kinderheim gekommen. Ich würde den Satz wie folgt abändern: "Mit drei Jahren kam Maite in ein Kinderheim, nachdem sie ihre Eltern bei einem Flugzeugabsturz verloren hatte. Als Maite sieben Jahre alt war, wurde sie von Ottilie und Volker Grau adoptiert."
 
Maite Sinclairs drittes Leben
© von Pierre Montagnard
Teil 1

Sie war nun 12 Jahre alt. Maite. Ihr Leben bei ihrer Ersatzmutter Ottilie mit ihrem Rabenmann Volker war in eine neue Phase getreten. Während die Ersatzmutter zwar streng, aber auch einfühlsam mit ihr umging, begann Volker an Maite herumzufingern. Er tat dies bei fast jeder Gelegenheit. Maite, total verunsichert, fühlte sich furchtbar. Konnte sich nicht dagegen wehren. Als sie sich einmal aus seiner lästigen Umklammerung löste, weil er an ihre sprießenden Brüstchen fasste, sagte er erbost; „Du hast das geschehen zu lassen, das gehört zu deiner Erziehung, es ist meine Aufgabe dich auf das Leben richtig vorzubereiten, meine Frau kann das nicht!”
Maite hatte keine Ahnung wie es ihren Mitschülerinnen erging, ob sie auch auf diese Weise erzogen werden doch sie war weit davon entfernt, jemals jemand darüber zu fragen. Dafür schämte sie sich zu sehr.

Mit drei Jahren kam Maite in ein Kinderheim, nachdemn sie ihre Eltern bei einem Flugzeugabsturz verloren hatte. Das bedeutete zwar auch kein paradiesisches Dasein für sie, aber wenigstens wurde sie gleich behandelt wie alle anderen. Sie wurde weder diskriminiert noch sonst schikaniert, sehnte sich aber nach einem richtigen Heim mit Vater und Mutter, konnte es dann kaum fassen, als sie darauf vorbereitet wurde, dass sie bald das Heim verlassen dürfe und bei einem sehr netten Ehepaar leben könne. Als Maite sieben Jahre alt war, wurde sie von Ottilie und Volker Grau adoptiert. Bei den vielen Besuchen, die Ottilie und Volker im Heim machten, schaute Maite ihrer Zukunft zwar mit etwas gemischten Gefühlen entgegen, doch war sie fast sicher, dass sie es gut haben würde mit den beiden. Zu Beginn war das auch so, sie freute sich, dass sie nun ein eigenes Zimmer hatte und besonders freute sie sich, dass sie auch eine richtige Schule besuchen durfte.

In der Schule war sie eher zurückhaltend und schüchtern, hatte in Rolf Bamert, ein Nachbarsohn und Mitschüler einen Beschützer, der sie mehrmals vor dem aufdringlichen Gebrüderpaar Tarasic verteidigte. Bei den Jungen war Maite die allgemeine Favoritin. Sie war hübsch, hatte dunkles krauses Haar, dunkelbraune Augen, sie war groß und schlank, leicht morena ihre Hautfarbe. Eine typische Schönheit aus einer Verbindung zwischen einer südamerikanischen Hochlandindianerin und einem Weißen.

Am Tage ihres zwölften Geburtstages saß sie traurig und schluchzend auf dem niedrigen Mauervorsprung vor dem vierstöckigen Haus, wo sie wohnte, guckte auf die Straße, die einigermaßen belebt war und schmiedete Fluchtpläne. Volker hatte sie vor zwei Stunden in ihrem Zimmer aufgesucht, sie mit fadenscheinigen Argumenten gezwungen, sich auszuziehen und auf ihr Bett zu legen. Sie wollte es nicht, weigerte sich, doch er hatte sie – unter Handanlegung – gezwungen. Strich ihr über die Schenkel und griff ihr unsanft zwischen die Beine. Sie zitterte, schrie auf und es gelang ihr, in einem panischen Anfall von Verzweiflung aus dem Zimmer zu entfliehen. Sie schloss sich im Badezimmer ein. Wartete dort fast zwei Stunden, bis sie hörte, dass Ottilie zurück war. Danach schlich sie in ihr Zimmer, zog sich an, nahm ihre Jacke, ging nach draußen und setzte sich auf ihren Lieblingsplatz vor dem Haus.

Ottilie war nicht in der Wohnung als es passierte. Wenn dieses Scheusal nur tot wäre, dachte Maite. Mit Ottie würde ich klar kommen, resümierte sie weiter. An den Sonntagen bereitete sie mit ihr jeweils Pfannkuchen zu. Maite gefiel es und eines Sonntags fragte sie Ottie ob sie heute die Pfannkuchen alleine zubereiten dürfe. Ottilie willigte ein. Als sie später zu sechst am Tisch saßen – es waren noch Verwandte von Ottie zu Besuch gekommen – schwärmten alle ausgelassen über die köstlichen Pfannkuchen. Sogar das Scheusal Volker war hingerissen und machte große Komplimente. Von diesem Sonntag an wurden die Pfannkuchen nur noch von Maite zubereitet. Sie gab ihr selbst zusammengesetztes Rezept niemandem preis.

Wenn nur das Scheusal nicht wäre. Erneut geriet sie ins Schluchzen. Wenn ich weglaufe bringen sie mich bestimmt wieder in ein Heim. Wenn ich es sage, warum ich weggelaufen bin, wird Ottie die Leidtragende sein. Aber ich muss weg, ich ertrage es nicht mehr, er wird es immer und immer wieder tun. Sie sah keinen Ausweg.

In derselben Nacht konnte Maite lange nicht einschlafen. Sie erschrak jedes Mal fast zu Tode, wenn sie Schritte auf dem Flur hörte. Sie konnte ihre Zimmertür nicht verriegeln. Ottilie sagte ihr zu Beginn schon, als Maite in die Wohnung einzog, dass diese Türe aus Gründen der Sicherheit nicht abgeschlossen werden dürfe. Es war kein Schlüssel für diese Tür vorhanden.
Maite weinte ins Kopfkissen und versuchte verzweifelt nach einer Lösung zu suchen. Ich muss Ottilie bitten, dass sie mir erlaubt in der Nacht die Türe zusperren zu dürfen. Ich werde ihr sagen, dass ich im Heim das durfte, weil ich Angst hatte, dass jemand ins Zimmer kommt. Das stimmte zwar nicht und sie wusste das auch. Im Kinderheim durften die Türen der Schlafzimmer der Kinder auch nicht verriegelt werden. Sie weinte unaufhörlich weiter. Sie verwarf den Gedanken wieder, weil sie Ottilie schon sagen hörte – aber wozu denn mein Kind? Hier brauchst du doch vor niemand Angst zu haben –.
Und wenn ich es ihr sage? Wenn ich ihr sage, wovor ich Angst habe? Würde sie mir glauben? Wenn ich einen Schlüssel hätte, dann könnte ich mich auch tagsüber, wenn Ottilie nicht da ist einschließen. Ich muss es jemandem sagen, denn wenn er es nochmals tut, springe ich aus dem Fenster, oder ich schreie so lange, bis er mich umbringt.

Ottilie, die jeweils an drei Nachmittagen der Woche Deutschunterricht außer Haus in der örtlichen Bibliothek offerierte kam am nächsten Tag ziemlich müde nach Hause. Es entging ihr, dass Maite völlig verweinte Augen hatte, als diese von draußen zurückkam und gleich auf ihr Zimmer ging. Morgen, Freitag, ist der letzte Schultag. Danach begannen die Sommerferien. Maite geriet abermals in Panik. Keine Schule, das heißt, jeden Tag werde ich dem Scheusal ausgeliefert sein. Kein Zufluchtsort. Sie entschloss sich, Ottilie alles zu sagen, egal was passiert.

Als sie in die Küche trat, war Ottilie gerade dabei, Kartoffeln zu schälen. „Kann ich dir helfen, Ottie?” „Ja gerne, wenn du magst mein Kind. Nächste Woche beginnen die Ferien, Du darfst mit Volker auf den Bauernhof seines Bruders fahren. Da gibt es eine Menge zu sehen für dich. Viele Tiere. Kühe, Hühner, Katzen und Hunde, auch Kaninchen. Es wird dir bestimmt gefallen. Ich werde in einer Woche nachkommen.”
Maite schnitt sich fast in den Finger vor Schreck. Zitterte innerlich. Ihre Vorsätze, Ottilie alles zu sagen bröckelten wieder ab. Sie brachte es nicht fertig und wusste nicht wie beginnen. Ihre Verzweiflung wuchs in panische Furcht. Ich werde es jemand anderen sagen. Heute, nach der Schule. Ottilie wird mir vielleicht nicht glauben, aber es würde bestimmt zu einem fürchterlichen Streit kommen und danach wird mich Ottilie nicht mehr mögen. Dann habe ich niemanden mehr! Ich kann es gar niemandem sagen, wem ich es auch sage, der, oder diejenige wird Ottilie informieren.
„Du scheinst dich gar nicht darüber zu freuen Maite,” schreckte Ottilie sie aus ihren Gedanken auf. „Oh, doch, ich dachte gerade an das heutige Examen am Nachmittag,” stotterte Maite hervor. „Ach, verstehe, habe ich ganz vergessen, Du machst das schon,” sagte Ottilie besänftigend.

Das Examen war zwar schon zwei Tage zuvor, aber so genau war Ottilie auch nicht im Bilde. Als die Schulglocke an diesem Freitagnachmittag um 15:45 Uhr zum letzten Mal für dieses Semester ertönte, versuchte Maite ihren gefassten Entschluss in die Tat umzusetzen. Sie passte draußen Rolf Bamert ab. Ihre einzige, übriggebliebene Hoffnung, jemand ins Vertrauen zu ziehen. Als sie Rolf von weitem sah, wie er den langen Flur entlang schritt, war er flankiert von weiteren drei Mitschülern. Maite fühlte einen Kloß im Halse. Was soll ich bloß sagen? Auf der Höhe von Maite blieb Rolf kurz stehen, wandte sich ihr zu und sagte auf seine freundliche und wohlerzogene Art; „Wünsche dir einen schönen Urlaub, Maite.” Sie starrte ihn kurz an und stammelte; „Danke, ich dir auch!” Die drei anderen, die mit Rolf waren, lachten und machten ein paar neckische Bemerkungen. Dann waren sie weg.
Heimgesucht von furchterregenden Vorstellungen was Volker mit ihr auf dem Bauernhof alles anstellen würde, zog sie sich an die Hausmauer des Schulgebäudes zurück und kämpfte gegen den aufkommenden Weinkrampf.
Ich werde flüchten, ich weiß nicht wohin, aber die heutige Nacht wird die letzte sein in diesem Horrorhaus. Die bereits geplante Urlaubsreise zum Bauernhof war für Sonntagnachmittag vorgesehen. Bis dann werde ich nicht mehr da sein, sinnierte sie abschließend.

In der folgenden Nacht, es war gegen drei Uhr früh, Maite war wach, hörte sie die Türklinke zu ihrem Schlafzimmer. Sie erstarrte, wollte schreien, aber ihre Stimme war blockiert. Im nächsten Moment saß Volker an ihrem Bettrand. Sie spürte seinen keuchenden Atem. Er flüsterte; „Hab keine Angst, ich wollte dir nur gute Nacht sagen, am Sonntag fahren wir in Urlaub, das wird dir sehr gefallen.” Seine Hand glitt unter ihre Bettdecke und strich ihr über den Oberkörper, ihre Brüste, ihren Bauch, ihre Schenkel. Sie lag da, völlig erstarrt. Sie begann zu zittern, leise zu weinen, dann ließ das Scheusal von ihr ab und verschwand aus dem Zimmer.
Sie lag da, völlig gelähmt, unfähig eines Gedankens, einer Handlung, bis der Tag dämmerte. Sie starrte völlig apathisch zur Zimmerdecke. Ihr danach gefasster Entschluss stand fest. Ich werde mich umbringen, ich gehe in den Wald und schneide mir die Pulsadern auf! Heute! Jetzt!

Sie haderte keinen Moment mehr mit ihrer Entscheidung, war nun noch weiter davon entfernt, Ottilie alles zu sagen. Der Tod wird mich retten, sagte sie sich.
Gegen zehn Uhr, als sie ihre Schokolade getrunken hatte, Ottilie gerade das Haus für einen Einkauf verlassen wollte, schloss sie sich ihr an und ging mit ihr nach unten. Im Badezimmer hatte sie sich zuvor eine von Volkers Rasierklingen angeeignet. Sie verabschiedete sich von Ottilie und setzte sich auf ihren Lieblingsplatz, den kleinen Mauervorsprung vor dem Haus. Geistesabwesend schaute sie dem Treiben auf der Straße zu, welche heute wieder sehr belebt war.
Plötzlich hörte sie aus einem Lautsprecher Musik. Zuerst weit weg, dann kam sie immer näher. Im nächsten Moment bog weiter vorne ein Fahrzeug in ihre Straße ein und erfüllte die ganze Umgebung mit Musik. Maite gefiel die Musik. Sie klang nach Abenteuer, nach Spektakel, sie vermittelte Anziehungskraft und geheimnisvolles.
Jetzt wurde die Musik unterbrochen. Eine junge Männerstimme ertönte aus dem Lautsprecher, der auf dem Dach des Fahrzeuges montiert war: „Nur Samstag, Sonntag und Montag in Ihrer Stadt! Zirkus Sandokan! Tiger, Löwen und Panther! Seiltänzer und Clowns, Artisten und Zauberer! Reservieren Sie jetzt Ihre Plätze für die heutige Abendvorstellung!” Ein Krächzen im Lautsprecher und gleich darauf setzte die Musik wieder da ein, wo sie kurz zuvor unterbrochen wurde.
Maite war fasziniert. Wie schön wäre es mit einem Zirkus zu ziehen. „Nimm mich mit,” hörte sie sich flüstern. Genau auf ihrer Höhe hielt das Fahrzeug an. Ein Junge stieg aus. Schön angezogen, wahrscheinlich war das seine beste Zirkusuniform. Weiße, schön gebügelte Hosen, eine dunkelrote Jacke mit goldenen Knöpfen.

Maite schaute ihn staunend an. Er muss ein Prinz sein! Er trug irgendwelche übergroße Papierbogen auf dem Arm. Er hatte dasselbe krause Haar wie Maite, jedoch dunkelblond. Seine Augen waren fast so dunkelbraun wie ihre. Der Junge kam direkt auf sie zu und lächelte sie freundlich an. Die Musik im Lautsprecher lief weiter. Maite hielt den Atem an. „Hallo mein Fräulein, darf ich hier am Haus ein Plakat vom Zirkus anbringen? Sie kriegen dafür auch zwei Freikarten für die heutige Nachmittagsvorführung!” dabei schaute er aufmerksam in ihr Gesicht und Maite stotterte; „Ja, ich glaube schon, was müsste ich tun, dass ich einmal mit so einem Auto mitfahren dürfte?”
Der Junge lachte sie an – er mochte nicht älter als 17 sein – klebte geübt das Plakat an die Hausmauer und sagte zu Maites völliger Verblüffung; „Kommen Sie! Steigen Sie ein, Sie können mir helfen, Plakate loszuwerden!”
„Meinen Sie das im Ernst? Ich komme gerne mit!”
„Setzen Sie sich nach hinten. Vorne bin ich neben meinem Bruder, er ist der Chauffeur. Er ist als Clown verkleidet, aber er ist kein richtiger Clown, er macht mit mir den Dreifachsalto unter dem Dach des Zeltes, kommen Sie!”
Das Auto fuhr weiter mit Maite im Fond. Sie konnte noch gar nicht begreifen, was eben geschah. Ich werde ihm alles erzählen, ich werde ihn fragen, ob ich bei ihm bleiben kann. Er ist mein Prinz. Dachte sie.
Sie kurvten durch die Stadt begleitet von der Musik des Zirkusautos und den Ansagen von Jacob, so stellte sich ihr Prinz später vor, während er ihr fachmännisch zeigte, wie man die Plakate anbrachte.
Als Maite gerade dabei war sich zu überlegen, wie sie Jacob ins Vertrauen ziehen konnte, überraschte sie dieser aufs Neue; „Wenn Sie möchten, Maite, können Sie eine Nacht in einem Zirkuswagen schlafen, das bieten wir immer wieder an, wenn uns jemand hilft Plakate zu verteilen. Möchten Sie?”
Maite traute ihren Ohren kaum und sagte mutig; „Sie können ruhig du zu mir sagen, ich bin erst gerade Zwölf geworden, ja ja, gerne würde ich einmal in einem Zirkuswagen schlafen.”
„Unser Vater verlangt, dass wir alle Personen per Sie anreden, egal wie jung sie sind, wenn wir unter uns sind Maite, können wir uns duzen, aber wenn andere Leute um uns sind, müssen wir per Sie sein, ist das okay für dich?”
„Ja natürlich Jacob, ich möchte dir noch etwas sagen!” „Okay, ich höre.”
„Ich wollte heute von zu Hause weglaufen ich kann dort nicht mehr leben und ich gehe nicht mehr dahin zurück!”
Jacob schaute sie ernst an. Nach einer Weile sagte er; „Was ist denn der Grund dafür Maite? Deine Eltern werden sich Sorgen machen und dich suchen lassen, das wird nicht gehen!”
„Ich habe meine richtigen Eltern bei einem Flugzeugabsturz verloren. Danach wurde ich in ein Kinderheim gesteckt, dort von den jetzigen Eltern rausgeholt aber der Mann verlangt von mir Dinge, die ich nicht tun kann, es wird immer schlimmer. Er fasst mich an, greift mir unter die Kleider, so, dass es wehtut. Ich sterbe lieber, bevor ich dahin zurückgehe.”
Maite liefen Tränen über die Wangen. Jacob trat zu ihr hin, nahm sie behutsam in seine Arme, streichelte ihr über ihre Locken und sagte sanft; „Wir sprechen mit Vater, er hat bestimmt eine Lösung. Er findet für alles eine Lösung.”
 



 
Oben Unten