Maite Sinclairs drittes Leben (4)

Maite Sinclairs drittes Leben (Teil 4)
© Pierre Montagnard


Laszlo und Jacob waren beeindruckt von ihrem Vater und Jacob fragte; „Könnten wir Maite nicht adoptieren Pa?”
„Ich habe morgen eine Unterredung mit einem zuständigen Beamten aus dem Zuständigkeitsbereich für elternlose Kinder, ich werde mit ihm einmal versuchen auszuloten, welche Möglichkeiten uns gegeben sind.”
Eine Weile herrschte Stille. Jacob verspürte ein Würgen im Halse vor Freude. Laszlo unterbrach die Sprechpause und sagte; „Wir haben uns schon darüber unterhalten Pa, Milena, Jacob und ich. Also wir wären vorbehaltlos damit einverstanden, wenn Maite bei uns wohnen und leben würde. Sie hätte es bestimmt gut bei uns!”
„Gut, ich danke euch, wir bleiben dran, wir können Maite nicht allzu lange bei Olga lassen, denn sie muss ja auch wieder in die Schule. Ausserdem würde sie liebend gerne im Zirkus sein, sie machte mir heute Morgen schon ein verzweifeltes Angebot, für uns die Schuhe zu putzen, Wäsche zu waschen und alles was wir möchten. Du solltest sie übermorgen besuchen Jacob, zusammen mit Milena. Du bist ihre Bezugsperson, an dir hängt sie sehr. Mache ihr Mut und sage ihr, dass wir alles unternehmen werden, dass sie mit uns ziehen kann. Aber mache sie auch darauf aufmerksam, dass es noch eine Weile dauern kann und dass wir nächste Woche nicht mehr hier, sondern in der Großstadt sind. In München, wo wir drei Wochen bleiben werden. So, meine Lieben, nun müsst ihr euch langsam auf das Abendprogramm vorbereiten. Körperlich seid ihr fit, das weiß ich. Seid ihr auch psychisch in guter Verfassung?” dabei fiel sein Blick in erster Linie auf Jacob. Sie antworteten fast synchron mit; „Ja Pa!”

„Dank euch ist unser Zelt jeden Abend ausverkauft. Eure Trapeznummer ist eine Weltsensation, wir müssen uns anstrengen, dass dies noch einige Zeit so bleibt, denn wir müssen uns für die Tiernummern allmählich etwas Neues einfallen lassen, weil die Opposition gegen Haltung von Zirkustieren, insbesondere Raubtiere, immer größer wird. Diejenigen, die am lautesten schreien sind die, welche Hunde in ihren Wohnungen eingesperrt halten und nichts mit ihnen anzufangen wissen. Sie vergessen dabei, dass wir uns mit unseren Tieren permanent beschäftigen. Gut zu ihnen sind und ihnen sehr viel Aufmerksamkeit schenken. Aber wir kommen gegen diese Massendummheit niemals an. Die gesellschaftliche Dummheit widerspiegelt sich genauso in ihren Gesetzen. Die Polizei greift erst ein, wenn ein hilfloses Kind zu Tode geschändet ist, obschon sie in einigen Fällen die Möglichkeit hätten, den Verbrecher rechtzeitig dingfest zu machen, so, wie im Falle von Maite. Als Mensch respektiere ich Jochen Braun, als Polizist stemple ich ihn zum Versager! So, genug des Vortrages, ich danke euch für die heutige Glanzleistung, ich bin stolz auf meine Kinder. Hals und Beinbruch!” „Danke Pa!”

***

Milena war mit Maite fast am Ziel. Sie unterbrachen die fast zwei Stunden dauernde Reise und assen in einer Raststätte zwei Sandwiches, tranken Tee und machten sich etwas frisch.
„Wie fühlst du dich Maite?” fragte Milena. „Soweit ganz gut, ich mache mir große Sorgen um Ottilie, sie wird verzweifelt sein und mich wieder suchen lassen. Glauben Sie Milena, dass die Polizei wieder zum Zirkus geht, um mich zu suchen, wissen denn Ihre Leute, dass es geklappt hat mit der Flucht?”
„Wenn wir alleine sind Maite, kannst du mich ruhig duzen. Ich bin 22, Laszlo ist 24 und Jacob wird 18 nächsten Monat. Deine Sorge um Ottilie und die Sorge von Ihr, kann ich gut verstehen, beides geht ebenso auf das Konto von Volker. Er hat Glück, dass du nicht meine Schwester bist, denn wenn es so wäre, hätte ihn Pa bei der ersten Begegnung tot gehauen. Du hast geweint im Auto, danach bist du eingeschlafen, ich habe kurz nach unserer Wegfahrt Pa angerufen und ihn wissen lassen, dass alles bestens geklappt hat und wir unterwegs sind. Ob die Polizei nochmals im Zirkus aufkreuzt, weiß ich nicht, aber falls es so kommt, wird Pa kein Problem haben damit. Er hat schon viel schwierigere Probleme gemeistert. Wie ist es denn auf der Vorderseite des Hauses abgelaufen Maite, als ihr da angekommen seid?”
Maite räusperte sich kurz und erzählte dann Milena von den beiden, –für sie – schrecklichsten Momenten, nämlich, als sie gleich Ottilies Stimme am Ohr hatte, als sie aus dem Auto gestiegen war und danach, als sie bereits im Hausflur an der Treppe vorbeiwollte, als gerade Volker diese heruntergestiegen kam.
Milena schaute sie erschrocken an und sagte; „Dir bleibt wirklich nichts erspart mein Kind, aber du warst sehr tapfer und hast es geschafft bis zum Auto. Glaubst du, dass dich jemand gesehen hat auf dem Fluchtweg?”
„Das weiß ich nicht Milena, ich war in Panik, ich hatte nur die Promenade, den Kastanienbaum und das Auto mit meinen Augen aufgesogen. Da musst du hin, sagte ich mir, ich nahm nichts anderes mehr wahr. Wenn mich jemand gesehen hat, dann hat er auch diesen Hut gesehen und mich möglicherweise nicht erkannt.” dabei holte Maite den Filzhut wieder aus der Jacke.
,,Damit hast du immerhin auch mich einen Moment verunsichert, denn als du dich mit diesem Räuberdeckel meinem Auto genähert hast, fragte ich mich zwei Sekunden lang, was will denn diese Vogelscheuche von mir? Doch dann fiel mir wieder ein, dass dir Pa diesen Hut gestern gegeben hat!”
Jetzt lachten sie beide. Dann fasste Milena Maites Hände und sagte;
„Maite, du wirst nun für einige Zeit bei unserer Tante leben. Olga ist eine sehr liebe Person. Sie ist die Schwester unserer verstorbenen Ma. Sie wird dich gern mögen und sie weiß über alles Bescheid. Du darfst ihr in allen Dingen vertrauen. Dein größtes Handikap wird sein, dass du nicht nach draußen darfst, damit dich niemand sieht, denn es ist wahrscheinlich, dass du gesucht wirst und sogar ein Foto von dir in Zeitungen, oder sogar im TV erscheint. Verstehst du das?”
„Ja Milena, ich bin so froh, dass ich wenigstens von den Besuchen des Scheusals Volker, der jederzeit in mein Zimmer kam, verschont bin. Ich würde auch gerne im Zirkus arbeiten, egal was, ich könnte mich auch verkleiden, damit mich niemand erkennt, ich werde euch alle sehr vermissen.”
„Wir werden dich auch vermissen Maite. Ich bin jedoch sicher, dass wir eines Tages im Zirkus zusammen sein werden. Alle möchten das. Doch wenn es eines Tages soweit ist, wirst du nicht unsere Schuhe putzen und unsere Wäsche waschen, sondern etwas, was dir richtig Freude macht. Gibt es denn etwas, was du besonders gerne und gut kannst?”
„Pfannkuchen!” Sagte Maite, wie aus der Pistole geschossen. „Ich machte jeden Sonntag Pfannkuchen. Zunächst nur für uns, dann auch für Gäste und seit einem halben Jahr für die halbe Nachbarschaft. Ich habe ein eigenes Rezept dafür, das ich niemandem preisgab. Nicht einmal Ottilie, die mich immerhin einlernte, wie man Pfannkuchen zubereitet. Aber meine schmecken viel besser. Die Leute sind verrückt nach meinen Pfannkuchen!” schloss Maite begeistert.
Milena war richtig fasziniert, wie Maite das vorbrachte.
„Das ist ja zauberhaft Maite. Stell dir einen schmucken, kleinen Zirkuswagen vor mit grossen Fotos von fröhlichen Kinder- und Erwachsenengesichtern, die leckere Pfannkuchen essen. Und über dem Wagen in schöner, farbiger Schrift: MAITE´S PFANNKUCHEN!”
Maites Augen leuchteten vor Begeisterung. „Das wäre wirklich wunderschön, ich werde auch bei Tante Olga Pfannkuchen machen, wenn sie es mir erlaubt, damit ich nicht aus der Übung komme.”
„Sie wird es dir bestimmt erlauben, wir müssen langsam gehen Maite, ich werde nur wenige Minuten bei Tante Olga bleiben können, denn ich muss wieder zurück. Es sind nur noch etwa zehn Minuten von hier, sie erwartet uns bestimmt schon ungeduldig.”

Tante Olga erwies sich als eine sehr sympathische Dame. Maite schloss sie in der ersten Sekunde in ihr Herz. Aber auch Olga war sehr angetan von dem hübschen Mädchen und hiess es mit einer zärtlichen Umarmung willkommen.
„Es tut mir leid Tante Olga, ich muss gleich wieder gehen, sonst komme ich zu spät zur Abendvorstellung. Hier Maite, in diesem Koffer findest du verschiedene Kleider, auch ein Pyjama usw., du wirst bald von uns hören.”
Maite begleitete Milena bis zum Auto, stand etwas unbeholfen da und guckte Milena etwas traurig an. Milena schaute Maite ins Gesicht und fragte; „Möchtest du mir noch etwas sagen Maite?”
„Ja!” hauchte Maite leise. „Sag es mir Maite!” „Wenn du bitte Jacob sagen könntest, dass…, dass ich” Sie kämpfte gegen die Tränen.
„Möchtest du sagen, dass ich Jacob ausrichten soll, dass du ihn gern hast?” Maite nickte stumm. „Ich werde es ihm sagen Maite und glaube mir, er wird sich sehr darüber freuen.” sie drückte Maite kurz an sich und stieg dann schnell ins Auto. Sie begann erst zu weinen, als sie bereits losgefahren war.

***

Erschrocken und ungläubig suchten Ottilie und Volker vergeblich nach Maite. Als sie wieder in ihre Wohnung im zweiten Stock zurückkehrten, dachte Ottilie zuerst, dass Maite noch im Badezimmer weilte, doch als sie nach etwa zehn Minuten noch immer nicht heraustrat, klopfte Ottie an die Tür und rief; „Bist du da drin Maite?” Als nach dem zweiten Ruf keine Antwort kam, drückte Ottilie die Türklinke. Die Türe war nicht verschlossen und das Badezimmer leer. Sie hastete in Maites Zimmer und fand es ebenfalls leer. Sie geriet in Panik und rief; ,,Volker! Du musst sie doch gesehen haben, als sie die Treppe hoch ging, sie musste dringend auf die Toilette!”
„Ich habe sie weder gehört noch gesehen, vielleicht ist sie wieder mit dem Zirkusauto davongefahren.” meinte Volker verärgert, der es nun auch allmählich mit der Angst zu tun kriegte.
„Das ist völlig ausgeschlossen Volker, ich stand ja neben dem Fahrzeug als es losfuhr. Da waren ein paar Kinder eingestiegen, der hübsche Jüngling Jacob und der Clown am Steuer. Maite stieg zuvor aus dem Auto und ging sofort nach oben. Sie musste mal dringend!”
„Ich weiß es nicht, wo sie geblieben sein könnte.” hakte Volker nach, erinnerte sich nun wieder an den Moment, als er ein Geräusch im Treppenhaus hörte, als er an der untersten Stufe angelangt war, doch er erwähnte es nicht.
„Mein Gott, was machen wir nun, es bleibt mir nichts anderes übrig, als nochmals die Polizei anzurufen!”
„Nun warte doch mal ab Ottilie, warum musst du immer gleich hysterisch werden?”
„Ich bin nicht hysterisch Volker. Ich habe Angst!” Sie ging zum Telefon und wählte einmal mehr die Nummer der Polizei.

***

Als die erneute Vermisstenanzeige wiederum auf dem Pult von Inspektor Braun landete, zitierte dieser seinen Gehilfen Gebhardt in sein Büro und ließ sich von im genau schildern, was sich vor etwa zwei Stunden vor dem Haus der Graus abgespielt hatte. Dieser schloss seinen mündlichen Bericht an seinen Chef mit den Worten ab;
„Das Mädchen wurde vereinbarungsgemäß abgeliefert, ging nach einem kurzen Wortwechsel mit seiner Mutter alleine ins Haus, daraufhin stiegen vier Kinder in den Fond des Zirkusautos, während Jacob, der Sohn von Alojz Sloboda, der Mutter noch etwas übergab, das aussah wie eine Stoffpuppe. Danach verabschiedete er sich von Frau Grau, er gab ihr sogar einen Kuss auf die Wange, stieg ins Auto, welches unverzüglich losfuhr. Ich bin dem Auto bis nach der Bahnhofsunterführung gefolgt, als ich sah, dass es in das Zirkusareal einbog, habe ich die Überwachung aufgegeben. Das Auto hatte unterwegs nur zweimal bei Rotlicht angehalten. Es ist niemand aus- oder zugestiegen. Wenn Sie mich fragen Chef, dieser Sloboda hat sauber erfüllt!”
„Sie sollten wieder einmal in den Zirkus gehen Gebhardt und einigen Zaubertricks beiwohnen. Das, was Sie dabei sehen ist das, was Sie danach glauben. Aber das, was Sie nicht sehen, macht den Trick aus. Ich danke Ihnen für Ihren Einsatz Gebhardt!”
„Noch eine Frage Chef, was meinen Sie damit, glauben Sie, dass wir getäuscht wurden?”
„Sie! Gebhardt, nicht wir, denn ich war ja nicht dabei!”
„Und wie glauben Sie denn, hätte diese Täuschung bewerkstelligt werden können?”
„Nehmen Sie es nicht so persönlich Gebhardt, wenn ich dabei gewesen wäre, hätte ich auch nicht mehr gesehen als Sie, aber eines macht mich doch stutzig. Gemäß Ihren Schilderungen lief folgendes ab: Auto kommt an, Jacob steigt aus, öffnet Hintertür des Autos, Mädchen steigt aus, Mutter steht bereits da, Jacob verabschiedet sich von Mädchen, dieses geht hastig in das Haus, gleich darauf, etwa eine Minute danach, tritt der Vater auf die Straße, Kinder kommen gerannt, Jacob fordert sie auf einzusteigen, übergibt der Frau ein Geschenk, küsst sie sogar, verabschiedet sich, steigt ein, Auto fährt langsam los, es läuft noch immer Musik, Eltern von Mädchen gehen ins Haus, Gebhardt folgt dem Zirkusauto, kommt ins Kommissariat, Mädchen verschwunden! Jetzt sagen Sie mir Gebhardt, klingt diese Schilderung nicht wie ein einziger, einstudierter Trick?”
„Ja Chef, wenn man so darüber nachdenkt, aber wie könnte denn der Trick gemacht worden sein?”
„Dass ich darauf kam Gebhardt, ist Ihre Schuld. Ich schätze Ihre pedantisch gründlichen Beobachtungen und auch Ihre Fähigkeit, diese ebenso gründlich vorzutragen.” „Danke Chef.”
„Sie haben unter anderem festgestellt, dass die Musik des Zirkusautos erst kurz vor Einfahrt in die Gerberstraße ertönte. Als das Auto diese später wieder verließ, wurde sie kurz nach der Wegfahrt wieder abgestellt. Die grölenden Kinder, die das Auto bestürmten, just in dem Moment, als das Mädchen im Haus verschwunden war. Ich sage Ihnen Gebhardt, die haben da eine bühnenreife Nummer abgezogen. Die Kinder waren nicht irgendwelche, die waren vom Zirkus selbst. Denn wenn es außenstehende Kinder gewesen wären, hätte ihnen der Clown am Steuer und auch Jacob die Freude gemacht, dass die Musik weiter lief. Für die Kinder vom Zirkus ist das nichts mehr besonderes. Können Sie mir folgen Gebhardt?”
„Ja Chef, absolut, aber die Kinder sind doch nicht mit dem Zirkusauto hergekommen?”
„Ach, Gebhardt, nun lassen Sie einmal Ihrer Fantasie etwas freien Lauf. Sie haben doch ein Fahrzeug, nicht wahr?” „Ja Chef.” „Na sehen Sie, ich habe auch eins, was glauben Sie, wie viele Fahrzeuge und Menschen der Zirkus hat?” „Sie glauben wirklich, dass …,” „nein Gebhardt, ich glaube gar nichts, ich bin davon überzeugt, dass heute vor nahezu drei Stunden an der Gerberstraße ein Theaterstück uraufgeführt wurde mit erstklassigen Darstellern und einem brillanten Regisseur im Hintergrund!”
„Und was machen wir jetzt Chef?” Nach längerem Schweigen sagte Braun; „Ich befürchtete schon zu Beginn unserer Unterhaltung, dass Sie mir zum Schluss noch eine unmögliche Frage stellen würden Gebhardt. Besorgen Sie uns zwei Eintrittskarten für die heutige Abendvorstellung im Zirkus! Wenn es geht Logenplätze, auf den harten Holzbänken kriege ich Rückenschmerzen!”
 



 
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