Man soll nie nie sagen

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
Man soll nie nie sagen

„Ich werde nie obdachlos werden!“ sagte die 52jährige Edeltraud W. belehrend zu ihrer Arbeitskollegin. „Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie so etwas passieren kann. Man braucht doch nur immer pünktlich seine Miete zu bezahlen und schon ist die Wohnung sicher. Selbst, wenn man arbeitslos wird, muß man nur zum Amt gehen, da wird jedem geholfen mit Wohngeld und sonst noch was. Da kann gar nichts schief gehen. Ich denke, daß es nur diejenigen trifft, die über ihre Verhältnisse leben und Schulden machen. Für solche Leute habe ich gar nichts übrig. Man kann immer nur das Geld ausgeben, das man hat. Man darf sich nicht verführen lassen, punktum.“
Ein halbes Jahr später musste die Firma Konkurs anmelden. Edeltraud und ihre Kollegin verlor ihre Arbeit. Die junge Frau fand bald wieder eine Anstellung, Edeltraud blieb bis zur Rente arbeitslos und wurde von Tag zu Tag hoffnungsloser, ein richtiger Trauerkloß. Sie vereinsamte völlig.
Eines Tages lernte sie bei einem Spaziergang im Park einen sehr netten jungen Mann kennen. Er war obdachlos und krank, so krank, daß er keine Anstellung mehr finden konnte. In Edeltraud erwachte der Muttertrieb. Sie nahm den Herrn B. mit zu sich nach Hause. Er sagte: „Ich brauche kein eigenes Zimmer, ich stelle mein schmales Bett in den Flur. Die paar Kleidungstücke, die ich habe, hänge ich an die Flurgarderobe.“
Edeltraud war es zufrieden. Der junge Mann war ordentlich und sauber, verrichtete allerlei Haushaltsdinge und spielte mit Edeltraud Domino, Karten und Brettspiele. Obendrein verstand er auch noch, preiswert und gut einzukaufen. Er errang Edeltrauds vollstes Vertrauen und sie wurde wieder vergnügt und munter. So munter, daß sie eines Tages beschloß, für das Wochenende zu ihrem Bruder zu reisen. Der freute sich sehr über den unerwarteten und äußerst seltenen Besuch. Sie waren so vergnügt miteinander wie in fernen Kindertagen, daß Edeltraud die ganze Woche blieb. Sie wusste, daß ihr Untermieter todkrank war, aber es gab keine äußeren Anzeichen dafür. Sie meinte, daß er nicht gerade in der Woche sterben würde.
In ihrer Heimatstadt angekommen, kaufte sie etliches an Essware ein und auch eine Überraschung für Herrn B.. fröhlich schloß sie die Wohnungstür auf. Aber wie staunte sie, als sie in Herrn B.s Bett einen völlig fremden Mann erblickte! Und auf dem Bett zwei kleine Kinder! Neben dem Bett saß Herrn B.s Schwester in ihrem Rollstuhl. Sie begrüßte Edeltraud und fügte weinerlich hinzu: „Mein Bruder ist gestorben, ja, leider, wir sind nur hier, um seine Sachen zu ordnen, ja, soll ja alles seine Richtigkeit haben, nich, ja, was haste denn da in die Tüten, Mensch, ja, pack mal nich aus, mach doch mal bitte den Abwasch, ja, hat sich so viel angesammelt, ja, is nischt, wenn man behindert is un der Mann is krank un die Kinder noch so kleen, ach, hoffentlich bleiben die jesund, ja, nich wahr, hoffentlich.“
Edeltraud war etwas verwirrt. Was ging hier vor? Wie konnte sich schmutziges Geschirr ansammeln? Sie betrachtete es und stellte fest, daß das nicht ihr Geschirr war. Herr B. hatte keines mitgebracht. Wem also gehörte das Zeug? Noch bevor sie fragen konnte, hörte sie ein Geräusch aus der Stube. Es klang, als sei etwas heruntergefallen. Sie öffnete die Stubentür und erstarrte. Man hatte die Wand zwischen den beiden Zimmern weggerissen! Auf nunmehr 45 Quadratmetern standen abwechselnd ein Bett, ein Tisch, ein Schränkchen. Überall an den Wänden hingen Kleidungsstücke, auch zwei Gitarren und diverser selbstgebastelter Raumschmuck. Das ganze Zimmer war voll mit jungen Menschen, die studierten. Wer nicht am Computer sitzen konnte, hatte ein Buch vor der Nase. Einige schrieben, einige hörten irgendetwas per Kopfhörer.
Endlich fand Edeltraud ihre Sprache wieder. Sie gab sich zu erkennen und wollte wissen, wo ihre Möbel geblieben seien, ihre Papiere, Bilder, Pflanzen, Bücher und Fotoalben? Die jungen Leute wussten es nicht. Edeltraud erfuhr nur, daß ihnen vom Studentenbund dieses Zimmer vermittelt wurde. Sie wusste, daß die Schwester von Herrn B. ebendort arbeitete und ahnte, wie der Hase läuft. Sie wollte sie zur Rede stellen, aber die gute Frau hatte mit ihrer Familie das Weite gesucht. Wo sollte Edeltraud nun schlafen? Das Zimmer war total überbelegt! Sie brachte es auch nicht übers Herz, die fleißigen jungen Leute hinauszuwerfen. Sie nahm ihre Einkaufstüten und ging zur Polizei. Polizei, grübelte sie, wann war ich das letzte mal daran vorbeigekommen? Und wo war das eigentlich? Ah, Pappelallee. Hm, da muß ich mit der U-Bahn fahren.
Während der Bahnfahrt ließ sie das Erlebte noch einmal Revue passieren und wurde immer verwirrter und erboster über die Frechheit der behinderten Person. In der Pappelallee angekommen musste sie feststellen, daß dort keine Polizei mehr war und daß es sich sowieso nur um eine Meldestelle gehandelt hatte. Sehr frustriert kehrte sie zum U-Bahnhof zurück. Dort aß sie erst einmal etwas aus ihrer Einkaufstüte. Niemand beachtete die Pennerin. Es gibt sie ja in jedem Alter und überall. Nachdem der Hunger gestillt war, tat sich in Edeltraud wieder die Frage auf: Wo soll ich schlafen? Ich leg mich doch nicht auf eine Parkbank! Es dauerte ziemlich lange, ehe sie darauf kam, daß es eine Bahnhofsmission gibt, wo man übernachten kann. Dort wurde sie auch problemlos aufgenommen. Am anderen Tag zog sie mit ihren Tüten zum nächsten Polizeirevier und legte dem fülligen Beamten mit Vehemenz ihr Anliegen vor. Der ließ die Alte reden, betrachtete sie von oben bis unten und dachte bei sich: „Was will die alte Speckschwarte? Wann hat die sich das letzte mal gewaschen? (er sah ihre Altersflecken für Schmutz an) Und den Fetzen, den sie vielleicht Mantel nennt! (sie hatte ihn beim Ein- und Aussteigen bei der Reichsbahn versehentlich beschmutzt und sich sogar einen Dreiangel hineingerissen) Was erzählt die hier für einen hahnebüchenen Unsinn? Was denkt die sich bloß in ihrem versoffenen Hirn! Kommt hierher mit Alditüten, wo die Alkflaschen nur so klirren (in Wahrheit waren es Saftflaschen) und will mir erzählen, das ist erst seit gestern?“
Edeltraud hatte sich in Rage geredet und wurde immer fuchtiger, weil der Polizist gar nicht reagierte. Endlich rief sie: „Nun sagen Sie doch mal was dazu!“ Er sprach ganz lässig: „Wissen Sie was, junge Frau, gehen Sie mal wieder zurück auf ihre Platte oder wo sie herkommen und erzählen dort Ihre Märchen. Was Sie hier von sich geben, entbehrt jeder Realität.“ Er schob sie mit seinem Bierbauch zur Tür hinaus.
Benommen stand sie auf der Straße. Was nun? Die Polizei, dein Freund und Helfer, hat versagt. Oder hatte sie sich falsch ausgedrückt? Bald kam ein anderer Polizist des Wegs und sie klagte ihm ihr Leid. Er wollte, daß sie mit hineinkommt und alles zu Protokoll gibt, aber sie fürchtete sich vor dem Dickbäuchigen. So verlief alles im Sande. Sie hat noch mehrmals andernorts versucht, Gehör zu finden und sich dabei bemüht, alle Aspekte mit einzubringen, einschließlich der Situation der Studenten und der misslichen Lage jener behinderten Person. Heute lebt sie in der Psychiatrie.
 
G

Gerhard Kemme

Gast
Hallo flammarion, hallo allerseits,
hatte heute eine zeitliche Taschenpfändung, deshalb nur
kurz, komme ein anderes Mal wieder vorbei. Du hast dir mit
dem Text sehr viel Mühe gegeben und er ist dir gelungen,
wenn ich es so wertend einfach mal sagen darf. Es sind die
Kleinigkeiten, die mir auffallen, kein "was interessiert
mich die Optik", sondern es stimmt jede Zeile in ihrer Län-
ge. Du hast eine hohe Formulierungssicherheit, es ist ver-
lass darauf, du bringst die Sätze gekonnt zuende. Das wird
natürlich schwierig mit dem Inhaltlichen, wir sind da ge-
sellschaftlich etwas weit auseinander. Und wenn ich so mein
soziales Offenbarungsevangelium ausbreite, dann fehlt dein
Applaudieren, geht nun mal nicht. Aber eine Andeutung will
ich doch machen, z.B. bezüglich der von dir geschilderten
Polizeiszene: "Die Wahrheit liegt in den Tresoren!" So
könnte eventuell ein Aphorismus lauten. Kennst du die Poli-
zeivorschriften, wobei ich weiss, dass ich momentan das
lyrische Ich anrede. Besser als die Psychiatrie ist, wenn
man sagt, ne' Wohnung nie! Verzeih', wenn ich immer so an-
griffslustig dir erscheine. Ich lese deine Texte wirklich
gerne und nehme es als schwierige Aufgabe mal eine Story
zu schreiben, die dir gefällt.
Tschüss Gerd
 
M

Monfou

Gast
Hi, flammarion,

habe deinen Text gern gelesen, wobei mir die Aussage durchaus sympathisch ist. Ich meine die sich darin spiegelnde Haltung. Bei der (literarischen) Umsetzung gehen wir wohl verschiedene Wege, aber das macht nichts.
Herzlichen Gruß

Monfou
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hallo,

schönen dank fürs lesen und für die kommentare. nee, die polizeivorschriften kenne ich nicht. aber ich hatte als junger mensch mehrere erfahrungen mit der polizei, also ich hab ne harmlose frage gestellt und wurde sehr abweisend behandelt. daher meine beschreibung des gesprächs zwischen der frau und dem polizisten.
es ist gut und richtig, daß wir alle unsere eigene art haben zu schreiben. es wäre sonst ziemlich eintönig. ganz lieb grüßt
 



 
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