Mariann und der Weihnachtsmann

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Janosch

Mitglied
„Der Papa hat die Mutti nicht mehr lieb.“
Die kleine Mariann kugelt sich in ihrem Bettchen unter der Decke hin und her und das Laken knistert wie Krepppapier. Es ist Freitagabend und Schlafenszeit, sagt die Mutti, auch wenn sich noch immer das letzte Hell der Straße durch die zugezogenen Lamellen des Rollladens schiebt und weiße Streifen an die hohen Zimmerwände wirft.
„Tobias, schläfst du schon?“ fragt Mariann den älteren Bruder, der direkt über ihr liegt und von dem nur die Drahtfedern des Doppelstockbettes zu sehen sind, die zwischen den Holzlatten hindurch ragen und etwas vibrieren, wenn er spricht. Die Spiralen der Federn dehnen sich leise auseinander, wenn er sich von einer Seite zur anderen dreht.
„Was ist denn, Mariann? Kannst du nicht schlafen? Die Mutti bleibt heute zuhause, sie ist gleich drüben in der Stube. Brauchst dir keine Sorgen machen.“

Mariann sieht wie die Spiralen über ihr der Schwingung erliegen. Sie wartet nur kurz bis alles abgeklungen ist und dann wieder:
„Der Papa hat die Mutti nicht mehr lieb. To-bi-as?“
Den Namen zieht sie in die Länge, nach oben zur Frage hin gewölbt und draußen geht die Straßenbahn. Die hört man schon von weitem und fast beginnt das Haus ein wenig zu scheppern, als sie kreischend vorüber gleitet, bis sie im Dunkel der Stille wieder verschwindet.
„Aber natürlich hat der Papa die Mutti noch lieb“, antwortet der große Bruder. „Er wohnt jetzt eben nur nicht mehr bei uns. Der Papa muss jetzt ein bisschen alleine sein und arbeiten gehen. Er macht nämlich Geschäfte mit großen Männern, die sehen aus wie Pinguine. Aber die Mutti ist in der Stube, dort sind die Lampen an.“

Klein Mariann kratzt sich am Wuschelkopf und behält dabei den Verlauf des Drahtes über ihr im Blick. Aus ihrem weichen goldenen Haar prangt nun wirr und steil ein Büschel hervor, gerade über dem linken Ohr, als sie Zeige – und Mittelfinger gedankenversunken an die Unterlippe drückt:
„Was sind Geschäfte, Tobias? Kann der Papa nicht bei der Mutti arbeiten? Warum macht der Papa keine Geschäfte mit der Mutti? Und warum muss der Papa denn alleine sein? Wir sind doch noch da, wenn der Papa mal alleine ist. Und außerdem… und außerdem hab ich ihm zu Weihnachten doch den Rudi geschenkt, meinen Lieblingsplüschelefanten. Den kann er knuddeln so oooft er will!“

Keine Reaktion. Mariann und Tobias liegen beide in ihren Stockwerken. Mariann hängt erwartungsvoll mit den Augen im Draht und auch Tobias starrt nach oben. Dort ist die weiße Decke, nicht weit über ihm, mit ihren Noppen und Hügeln und kleinen Kratern. Manchmal dreht sich Tobias zur Seite in den Raum hinein, dann kann er durch die Lattenbegrenzung hindurch zum Fenster sehen und zum großen Kleiderschrank; an dem ist ein Spiegel. Und ganz unten im Spiegel liegt eine kleine Schwester, deren Oberarm ruht angewinkelt auf ihrer Stirn wie ein halbes Viereck. Ihre Augen sind geöffnet und neben ihr lehnt ein Teddybär am Kopfkissen, sorgfältig zugedeckt.

Zur Nacht lässt die Mutti die Tür zum Kinderzimmer einen Spalt offen, damit die Kinder sich nicht fürchten müssen. Manchmal können sie noch dumpf den Fernseher hören, wenn die Mutti vergisst die Wohnzimmertür ranzuziehen. Dann schweben brummende Stimmen, knatternde Kutschen und Werbejingles durch den Flur und wie ein verwunschenes Flüstern hinein in Kinderohren. Die Geräusche sind wie ein zärtlicher Hauch von Vertrautem; sie begleiten die Kinder wohlig in den Schlaf. Doch heute ist etwas anderes, etwas Abgestandenes in der Luft. Mariann liegt unten im Spiegel und hat die Augen nun geschlossen, aber die Lider flackern noch. Tobias liegt wach und es ist dunkel geworden. Nur noch geriffelt sind Schrank, Kommode und Fenster zu erkennen, die langsam im Schleier der Nacht zu verdunsten scheinen. Nur ab und an kommt draußen ein Auto vorüber, dessen Lichter im Zimmer leise über die Wände fahren.

Dann ein Knarren im Treppenhaus. Da schleift sich etwas die alten Holzstufen empor und das Geländer quietscht, gestriffen und gezogen von schwitzigen Händen. Mariann erschrickt und reißt die Augen auf:
„Was ist das, Tobias?“
Die alten Fasern im Holze der Stufen beantworten jeden der behäbig stapfenden Schritte mit einem Knacksen und Ächzen, als die Spiralen über Mariann beginnen sich auseinander zu bewegen:
„Das ist nichts“, versucht Tobias sie zu beruhigen. „Bestimmt nur der Nachbar, ein Stockwerk weiter unten, der nachhause kommt.“
Doch längst überragen die Schritte die Etage des Nachbarn. Mariann weiß das, weil Mariann hier aufgewachsen ist und die Geräusche zuordnen kann. Mariann kann unterscheiden zwischen laut und leise, zwischen blau und weiß und auch zwischen heiß und kalt. Einmal ist dem Tobias kochend heißes Wasser aus dem Kessel über die Schenkel gelaufen; der hat geschrieen wie am Spieß. Dann hat der Papa ihn an Arm und Kniekehle gepackt und unter den kalten Strahl im Waschbecken gehalten. Der Tobias hat geweint und sein Bein war ganz rot danach.

Jetzt klopft es an der Tür. Marianns Augen flattern, doch sie rührt sich nicht von der Stelle und über die Zimmerwand fegt ein Auto hinfort. Da die Mutti nicht reagiert, klopft es gleich noch einmal, zunächst in knorrigen kleinen Stößen auf das milchige Glas des Sichtfensters der Tür und dann auch aufs Holze, bald in heftigeren Portionen, trocken und fordernd. Als endlich im Flur der Lichtschalter klackt und sich etwas regt, richtet Tobias sich auf, um zu schauen. Das Licht läuft über ins Kinderzimmer, durch den Spalt der offen gelassenen Tür.

„Bitte geh, du hast hier nichts mehr verloren“, hört man die Mutti auf einmal durch den Flur zischeln. „Du weckst noch die Kinder auf. Hast du etwa wieder getrunken? Was ist nur mit dir los?“
„Ich muss dich sehen“, kommt es gedämpft und mit mürrischem Unterton aus dem Treppenhaus zurück. Nach einem kurzem Krampf des Innehaltens wirft die Stimme scheppernd hinterher: „Lass mich rein, sonst kannst du was erleben!“
Und plötzlich beginnt auch die kleine Mariann sich aufzurappeln. Tobias sieht im Spiegel wie sie sich auf ihre Hände stützt und den Kopf fragend zur Türe neigt. Ein weiteres Auto fährt grell über die Wand und über ihr Gesicht. Ihre Augenbrauen zucken und ziehen sich zusammen, wie zwei kleine Raupen.

„Hörst du, Mariann? Ist das nicht der Weihnachtsmann?“, sagt Tobias und ist darum bemüht ein warmes Lächeln in seine Stimme zu legen. „Der Weihnachtsmann mit dem laaangen weißen Bart und der roten Zipfelmütze, hörst du nicht? Der Weihnachtsmann kommt uns besuchen, ist das nicht toll?“
„Aber heute ist doch gar kein Weihnachten“, zögert Mariann.
„Natürlich ist heute kein Weihnachten, kleine Mariann. Aber der Weihnachtsmann kommt auch manchmal einfach so zwischendurch und besucht die Mütter der Kinder, wenn die schon längst im Bett liegen. Dann sprechen sie heimlich über die Geschenke und darüber, was wir Kinder uns am aaaalermeisten wünschen.“
Tobias kann im Spiegel beobachten wie Marianns Gesichtzüge sich allmählich entspannen und in eine schöne Aufregung übergehen. Natürlich ist das der Weihnachtsmann, denkt sie sich, die Stimme habe sie doch gleich wiedererkannt! Und das hat der Weihnachtsmann nunmal so an sich, dass er die Kinder mit seiner tiefen schweren Stimme erst einmal erschrecken muss. Kein Wunder.
Berauscht vom Gedanken, lässt Mariann sich in ihr Kissen fallen und drückt ihren Teddybären ganz fest an sich.

Auf dem Flur wird es bald heftiger. Der Weihnachtsmann brüllt nun irgendetwas gegen die Tür, die ihn nach wie vor von der Mutti trennt und wirft dabei mit voller Wucht die Faust ins Gehölz. Und da kennt auch die Mutti kein Halten mehr und schimpft irgendwas zurück, irgendwas mit „geh doch zu deiner Schlampe“ und „Chance verspielt“.
Aber Tobias hakt sogleich wieder ein: „Siehst du - das ist eindeutig die Stimme vom Weihnachtsmann! Aber hörst du das?“ und da wird Tobias fast ein wenig albern, „anscheinend hat der Weihnachtsmann Probleme mit der Tür! Ist das nicht lustig, Mariann? Da muss er wohl doch durch den Schornstein kommen“, prustet Tobias plötzlich los.
Klein Mariann weiß zwar noch nicht, was denn ein Schornstein eigentlich ist, lässt sich aber sichtlich anstecken und kann bald selber den Ulk der Situation kaum fassen: Da kommt der Weihnachtsmann, um mit der Mutti über die Geschenke der Kinder zu sprechen und bekommt die Tür nicht auf!
Mittlerweile krümmt und kugelt sich Tobias in seinem Bett vor Lachen und auch Mariann hält sich gackernd und kichernd den Bauch. Die Spirale über ihr dehnt sich unter den vehementen Vibrationen auseinander und zieht sich sogleich wieder zusammen. Fast ist es so, als atme sie: Ein und Aus.

Die Kinder kriegen sich allmählich wieder ein, als es auch im Flur wieder gezügelter zur Sache geht. Der Weihnachtsmann hebt an zu diplomatischerem Ton, sucht der Mutti nahe zu legen, dass man doch über alles Reden könne. Er würde sich ändern und alles würde wieder so werden wie früher, breitet er sich endlos verpflichtend aus, wobei er an mancher Wendung zu großem und kleinem Schluchzer neigt.
Und da fällt der kleinen Mariann plötzlich etwas auf: „Tobias? Der Weihnachtsmann klingt ein bisschen wie der Papa.“
Und im nächsten Moment zerfetzt es unter lautem Knall das Sichtfenster der Tür!
Reflexartig macht die Mutti einen Satz nach hinten, als ein Schwall Scherben durch die Wucht des Aufpralls in den Flure schwappt. Tausend funkelnde kleine Splitter stehen noch als Wolke in der Luft, bis sie schließlich zu Boden rieseln, wie winzig kleine Sterne, die vom Himmel fallen. Der Papa schielt mit blutender Hand durch die entstandene Öffnung und greift nach der Mutti.

Tobias aber lässt sich nicht beirren und redet munter auf die kleine Schwester ein. Aber diesmal ist es nicht so leicht und als er droht sie zu verlieren, stimmt er plötzlich zu fröhlichem Gesange an, einem Gesang mit der Melodie eines altbekannten Kinderliedes:
„Der Papa schlägt die Scheibe ein! Der Papa schlägt die Scheibe ein…“

Und so singt er mitten hinein ins Gekreisch und ins Geheul, ins Gezerre der Nacht, hinein in flammende Buhlerei des Vaters, in finstre Stunde des stürzenden Liebenden.
Und bald schon hat Tobias die Schwester so weit und da wirft sie den Teddy in die Luft und stimmt aus vollem Halse mit ein, sie stimmt mit ein und singt und so singen sie gemeinsam und lachen und scherzen und erzählen sich Witze, veräppeln sich gegenseitig und verziehen ihre Gesichter zu üblen Grimassen und Fratzen und bösen, bösen Fratzen und singen, bis ihre Stimmen sich überschlagen.
 

Janosch

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„Der Papa hat die Mutti nicht mehr lieb.“
Die kleine Mariann kugelt sich in ihrem Bettchen unter der Decke hin und her und das Laken knistert wie Krepppapier. Es ist Freitagabend und Schlafenszeit, sagt die Mutti, auch wenn sich noch immer das letzte Hell der Straße durch die zugezogenen Lamellen des Rollladens schiebt und weiße Streifen an die hohen Zimmerwände wirft.
„Tobias, schläfst du schon?“ fragt Mariann den älteren Bruder, der direkt über ihr liegt und von dem nur die Drahtfedern des Doppelstockbettes zu sehen sind, die zwischen den Holzlatten hindurch ragen und etwas vibrieren, wenn er spricht. Die Spiralen der Federn dehnen sich leise auseinander, wenn er sich von einer Seite zur anderen dreht.
„Was ist denn, Mariann? Kannst du nicht schlafen? Die Mutti bleibt heute zuhause, sie ist gleich drüben in der Stube. Brauchst dir keine Sorgen machen.“

Mariann sieht wie die Spiralen über ihr der Schwingung erliegen. Sie wartet nur kurz bis alles abgeklungen ist und dann wieder:
„Der Papa hat die Mutti nicht mehr lieb. To-bi-as?“
Den Namen zieht sie in die Länge, nach oben zur Frage hin gewölbt und draußen geht die Straßenbahn. Die hört man schon von weitem und fast beginnt das Haus ein wenig zu scheppern, als sie kreischend vorüber gleitet, bis sie im Dunkel der Stille wieder verschwindet.
„Aber natürlich hat der Papa die Mutti noch lieb“, antwortet der große Bruder. „Er wohnt jetzt eben nur nicht mehr bei uns. Der Papa muss jetzt ein bisschen alleine sein und arbeiten gehen. Er macht nämlich Geschäfte mit großen Männern, die sehen aus wie Pinguine. Aber die Mutti ist in der Stube, dort sind die Lampen an.“

Klein Mariann kratzt sich am Wuschelkopf und behält dabei den Verlauf des Drahtes über ihr im Blick. Aus ihrem weichen goldenen Haar prangt nun wirr und steil ein Büschel hervor, gerade über dem linken Ohr, als sie Zeige – und Mittelfinger gedankenversunken an die Unterlippe drückt:
„Was sind Geschäfte, Tobias? Kann der Papa nicht bei der Mutti arbeiten? Warum macht der Papa keine Geschäfte mit der Mutti? Und warum muss der Papa denn alleine sein? Wir sind doch noch da, wenn der Papa mal alleine ist. Und außerdem… und außerdem hab ich ihm zu Weihnachten doch den Rudi geschenkt, meinen Lieblingsplüschelefanten. Den kann er knuddeln so oooft er will!“

Keine Reaktion. Mariann und Tobias liegen beide in ihren Stockwerken. Mariann hängt erwartungsvoll mit den Augen im Draht und auch Tobias starrt nach oben. Dort ist die weiße Decke, nicht weit über ihm, mit ihren Noppen und Hügeln und kleinen Kratern. Manchmal dreht sich Tobias zur Seite in den Raum hinein, dann kann er durch die Lattenbegrenzung hindurch zum Fenster sehen und zum großen Kleiderschrank; an dem ist ein Spiegel. Und ganz unten im Spiegel liegt eine kleine Schwester, deren Oberarm ruht angewinkelt auf ihrer Stirn wie ein halbes Viereck. Ihre Augen sind geöffnet und neben ihr lehnt ein Teddybär am Kopfkissen, sorgfältig zugedeckt.

Zur Nacht lässt die Mutti die Tür zum Kinderzimmer einen Spalt offen, damit die Kinder sich nicht fürchten müssen. Manchmal können sie noch dumpf den Fernseher hören, wenn die Mutti vergisst die Wohnzimmertür ranzuziehen. Dann schweben brummende Stimmen, knatternde Kutschen und Werbejingles durch den Flur und wie ein verwunschenes Flüstern hinein in Kinderohren. Die Geräusche sind wie ein zärtlicher Hauch von Vertrautem; sie begleiten die Kinder wohlig in den Schlaf. Doch heute ist etwas anderes, etwas Abgestandenes in der Luft. Mariann liegt unten im Spiegel und hat die Augen nun geschlossen, aber die Lider flackern noch. Tobias liegt wach und es ist dunkel geworden. Nur noch geriffelt sind Schrank, Kommode und Fenster zu erkennen, die langsam im Schleier der Nacht zu verdunsten scheinen. Nur ab und an kommt draußen ein Auto vorüber, dessen Lichter im Zimmer leise über die Wände fahren.

Dann ein Knarren im Treppenhaus. Da schleift sich etwas die alten Holzstufen empor und das Geländer quietscht, gestriffen und gezogen von schwitzigen Händen. Mariann erschrickt und reißt die Augen auf:
„Was ist das, Tobias?“
Die alten Fasern im Holze der Stufen beantworten jeden der behäbig stapfenden Schritte mit einem Knacksen und Ächzen, als die Spiralen über Mariann beginnen sich auseinander zu bewegen:
„Das ist nichts“, versucht Tobias sie zu beruhigen. „Bestimmt nur der Nachbar, ein Stockwerk weiter unten, der nachhause kommt.“
Doch längst überragen die Schritte die Etage des Nachbarn. Mariann weiß das, weil Mariann hier aufgewachsen ist und die Geräusche zuordnen kann. Mariann kann unterscheiden zwischen laut und leise, zwischen blau und weiß und auch zwischen heiß und kalt. Einmal ist dem Tobias kochend heißes Wasser aus dem Kessel über die Schenkel gelaufen; der hat geschrieen wie am Spieß. Dann hat der Papa ihn an Arm und Kniekehle gepackt und unter den kalten Strahl im Waschbecken gehalten. Der Tobias hat geweint und sein Bein war ganz rot danach.

Jetzt klopft es an der Tür. Marianns Augen flattern, doch sie rührt sich nicht von der Stelle und über die Zimmerwand fegt ein Auto hinfort. Da die Mutti nicht reagiert, klopft es gleich noch einmal, zunächst in knorrigen kleinen Stößen auf das milchige Glas des Sichtfensters der Tür und dann auch aufs Holze, bald in heftigeren Portionen, trocken und fordernd. Als endlich im Flur der Lichtschalter klackt und sich etwas regt, richtet Tobias sich auf, um zu schauen. Das Licht läuft über ins Kinderzimmer, durch den Spalt der offen gelassenen Tür.

„Bitte geh, du hast hier nichts mehr verloren“, hört man die Mutti auf einmal durch den Flur zischeln. „Du weckst noch die Kinder auf. Hast du etwa wieder getrunken? Was ist nur mit dir los?“
„Ich muss dich sehen“, kommt es gedämpft und mit mürrischem Unterton aus dem Treppenhaus zurück. Nach einem kurzem Krampf des Innehaltens wirft die Stimme scheppernd hinterher: „Lass mich rein, sonst kannst du was erleben!“
Und plötzlich beginnt auch die kleine Mariann sich aufzurappeln. Tobias sieht im Spiegel wie sie sich auf ihre Hände stützt und den Kopf fragend zur Türe neigt. Ein weiteres Auto fährt grell über die Wand und über ihr Gesicht. Ihre Augenbrauen zucken und ziehen sich zusammen, wie zwei kleine Raupen.

„Hörst du, Mariann? Ist das nicht der Weihnachtsmann?“, sagt Tobias und ist darum bemüht ein warmes Lächeln in seine Stimme zu legen. „Der Weihnachtsmann mit dem laaangen weißen Bart und der roten Zipfelmütze, hörst du nicht? Der Weihnachtsmann kommt uns besuchen, ist das nicht toll?“
„Aber heute ist doch gar kein Weihnachten“, zögert Mariann.
„Natürlich ist heute kein Weihnachten, kleine Mariann. Aber der Weihnachtsmann kommt auch manchmal einfach so zwischendurch und besucht die Mütter der Kinder, wenn die schon längst im Bett liegen. Dann sprechen sie heimlich über die Geschenke und darüber, was wir Kinder uns am aaaalermeisten wünschen.“
Tobias kann im Spiegel beobachten wie Marianns Gesichtzüge sich allmählich entspannen und in eine schöne Aufregung übergehen. Natürlich ist das der Weihnachtsmann, denkt sie sich, die Stimme habe sie doch gleich wiedererkannt! Und das hat der Weihnachtsmann nunmal so an sich, dass er die Kinder mit seiner tiefen schweren Stimme erst einmal erschrecken muss. Kein Wunder.
Berauscht vom Gedanken, lässt Mariann sich in ihr Kissen fallen und drückt ihren Teddybären ganz fest an sich.

Auf dem Flur wird es bald heftiger. Der Weihnachtsmann brüllt nun irgendetwas gegen die Tür, die ihn nach wie vor von der Mutti trennt und wirft dabei mit voller Wucht die Faust ins Gehölz. Und da kennt auch die Mutti kein Halten mehr und schimpft irgendwas zurück, irgendwas mit „geh doch zu deiner Schlampe“ und „Chance verspielt“.
Aber Tobias hakt sogleich wieder ein: „Siehst du - das ist eindeutig die Stimme vom Weihnachtsmann! Aber hörst du das?“ und da wird Tobias fast ein wenig albern, „anscheinend hat der Weihnachtsmann Probleme mit der Tür! Ist das nicht lustig, Mariann? Da muss er wohl doch durch den Schornstein kommen“, prustet Tobias plötzlich los.
Klein Mariann weiß zwar noch nicht, was denn ein Schornstein eigentlich ist, lässt sich aber sichtlich anstecken und kann bald selber den Ulk der Situation kaum fassen: Da kommt der Weihnachtsmann, um mit der Mutti über die Geschenke der Kinder zu sprechen und bekommt die Tür nicht auf!
Mittlerweile krümmt und kugelt sich Tobias in seinem Bett vor Lachen und auch Mariann hält sich gackernd und kichernd den Bauch. Die Spirale über ihr dehnt sich unter den vehementen Vibrationen auseinander und zieht sich sogleich wieder zusammen. Fast ist es so, als atme sie: Ein und Aus.

Die Kinder kriegen sich allmählich wieder ein, als es auch im Flur wieder gezügelter zur Sache geht. Der Weihnachtsmann hebt an zu diplomatischerem Ton, sucht der Mutti nahe zu legen, dass man doch über alles Reden könne. Er würde sich ändern und alles würde wieder so werden wie früher, breitet er sich endlos verpflichtend aus, wobei er an mancher Wendung zu großem und kleinem Schluchzer neigt.
Und da fällt der kleinen Mariann plötzlich etwas auf: „Tobias? Der Weihnachtsmann klingt ein bisschen wie der Papa.“
Und im nächsten Moment zerfetzt es unter lautem Knall das Sichtfenster der Tür!
Reflexartig macht die Mutti einen Satz nach hinten, als ein Schwall Scherben durch die Wucht des Aufpralls in den Flure schwappt. Tausend funkelnde kleine Splitter stehen noch als Wolke in der Luft, bis sie schließlich zu Boden rieseln, wie winzig kleine Sterne, die vom Himmel fallen. Der Papa schielt mit blutender Hand durch die entstandene Öffnung und greift nach der Mutti.

Tobias aber lässt sich nicht beirren und redet munter auf die kleine Schwester ein. Aber diesmal ist es nicht so leicht und als er droht sie zu verlieren, stimmt er plötzlich zu fröhlichem Gesange an, einem Gesang mit der Melodie eines altbekannten Kinderliedes:
„Der Papa schlägt die Scheibe ein! Der Papa schlägt die Scheibe ein…“

Und so singt er mitten hinein ins Gekreisch und ins Geheul, ins Gezerre der Nacht, hinein in flammende Buhlerei des Vaters, in finstre Stunde des Stürzenden.
Und bald schon hat Tobias die Schwester so weit und da wirft sie den Teddy in die Luft und stimmt aus vollem Halse mit ein, sie stimmt mit ein und singt und so singen sie gemeinsam und lachen und scherzen und erzählen sich Witze, veräppeln sich gegenseitig und verziehen ihre Gesichter zu üblen Grimassen und Fratzen und bösen, bösen Fratzen und singen, bis ihre Stimmen sich überschlagen.

Als das Licht im Flur verlischt, ist bereits seit einiger Zeit Ruhe eingekehrt. Mariann kann sich kaum mehr gegen die späte Schwere wehren, die ihr die Augen niederdrückt. Ein letztes Auto rauscht leise die Wand entlang und die Spiralen über ihr liegen zusammen gestaucht, ins Federbett hinein gestülpt. Und als der Traum das kleine Mädchen beinahe schon am Fuße packt, sammelt sie sich ein letztes Mal und beginnt in die Stille hinein zu lallen:
„Tobias? … Bist du noch wach? … Ich freu mich schon auf nächsten Mittwoch. Dann holt uns der Papa ab und wir unternehmen was zusammen. … Wir alle drei machen einen Ausflug, Tobias. … Schläfst du schon? To-bi-as?“
 



 
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