Maries Reise nach Afrika

Kassandra

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Maries Reise nach Afrika
Maries Lieblingsspiel hieß „Augen zu und fliegen“. Es war ganz einfach. Man musste sich nur auf eine Schaukel setzen, die Augen ganz feste zusammenkneifen und so lange schaukeln bis man das Gefühl hatte zu fliegen. Heute spielte Marie dieses Spiel auf dem Spielplatz im Zoo. Sie war mit ihren Eltern und ihren vier Geschwistern schon am Morgen hierher gekommen und sie hatten den ganzen Tag die tollsten Tiere beobachtet. Jetzt war es fast Abend und Marie durfte mit ihren Geschwistern noch ein wenig auf dem großen Spielplatz spielen. Sie hätte am liebsten gar nicht mehr aufgehört zu schaukeln. In ihren Träumen flog sie gerade über eine große Stadt. Stundenlang hätte sie die kleinen Häuser und Autos beobachten können – und die Menschen, die von oben aussahen, wie winzige Ameisen. Schließlich ließ sie ihre Füße über den Sandboden schleifen, die Schaukel kam langsam zum stehen und Marie öffnete die Augen. Erstaunt sah sie sich um. Kein Mensch weit und breit! Auch von ihrer Familie sah Marie nicht die kleinste Spur. Der Zoo hatte schon geschlossen und sie saß mutterseelenallein auf dem Spielplatz!

„Nicht schon wieder!“, seufzte sie leise und verdrehte die Augen. Sie sprang auf und sah zum Ausgang hinüber. Na toll, da hatte ihre Familie sie doch tatsächlich schon wieder vergessen. Marie kannte das schon. Nach spätestens einer halben Stunde würde ihr Vater wie von der Tarantel gestochen angeflitzt kommen, sich tausendmal wegen seiner Schusseligkeit bei ihr entschuldigen und sie dann lachend in den Arm nehmen. Und Marie würde wieder mal sagen: „Schon gut, Papa. Bei so einer großen Familie kann man leicht den Überblick verlieren.“ Alles, was sie tun musste, war warten. Wenn sie nur nicht so einen Riesenhunger gehabt hätte. Nachdenklich sah sie zurück zum Affengehege. Dort hatten sie am Nachmittag bei der Fütterung zugesehen und sich über die Affen amüsiert, die begeistert die Bananen aufgefangen hatten, die der Tierpfleger ihnen zugeworfen hatte. Marie schielte zum Ausgang. Sicher hatte sie noch genug Zeit, um kurz zum Affengehege zu laufen. Vielleicht hatte sie ja Glück und die Affen hatten eine Banane übrig gelassen. Schnell lief sie zu dem kleinen Weg, der am Elefantenhaus vorbei zum Affengehege führte. Allmählich wurde es schon dunkel und Marie war froh, dass wenigstens hier und da eine kleine Laterne am Wegrand leuchtete.

„Was machst du denn um diese Zeit noch hier?“ Erschrocken blieb Marie stehen und sah sich um. Anscheinend waren immerhin noch Zoowärter unterwegs. Sie stand genau vor dem Elefantenhaus. Marie blinzelte, aber sie konnte niemanden sehen.
„Wo sind Sie?“, fragte sie.
„Na, hier drüben. Und ich bin wirklich nicht zu übersehen. Außerdem kannst du ruhig ‚du’ zu mir sagen.“
Marie riss die Augen auf. Zehn Meter von ihr entfernt stand ein großer Elefantenbulle und sah sie an. Er nickte mit dem Kopf und irgendwie hatte Marie sogar das Gefühl, als ob er grinsen würde.
„Du kannst sprechen?“, fragte sie verdattert. Der Elefant trabte nun gemächlich auf sie zu und Marie wich erschrocken ein Stückchen zurück.
„Keine Angst, Kleine. Deine Eltern haben dich vergessen, stimmt´s? Ich habe dich beobachtet, als du geschaukelt hast.“
Marie nickte. „Gleich kommt bestimmt mein Vater angeflitzt und holt mich.“ Eigentlich, dachte Marie, könnte er sich heute ruhig etwas mehr Zeit lassen. Wann hatte man schon Mal die Gelegenheit, einen sprechenden Elefanten zu treffen?
„Wie kommt es, dass du reden kannst? Können die anderen Tiere auch sprechen? Wie lange bist du schon hier? Gefällt es dir? Kannst du nicht schlafen?“
Der Elefant riss die Augen auf und starrte sie an.
„Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so viele Fragen auf einmal stellen kann!“ Er schien sehr beeindruckt zu sein. Dann knickte er ganz langsam erst mit dem einen Vorderbein ein, dann mit dem anderen und schließlich mit beiden Hinterbeinen und legte sich gemütlich auf den Sandboden.
„Puh, wo soll ich anfangen? Also, reden können hier im Zoo alle Tiere. Die Schlangen, die Giraffen, die Nashörner, alle eben. Die Pinguine sind etwas schwer zu verstehen, die sprechen irgendeinen komischen Dialekt. Tagsüber reden wir natürlich nie – was glaubst du, was sonst hier los wäre?“ Er grinste und überlegte kurz, um sich an Maries andere Fragen zu erinnern.
„Ich lebe schon seit zehn Jahren hier. Anfangs war es komisch und ich war oft traurig, aber mittlerweile gefällt es mir sehr gut hier. Den anderen übrigens auch, aber die schlafen schon.“
Marie hatte sich neben den Elefanten gesetzt und sah ihn lächelnd an. „Wie heißt du und wie heißt das Land aus dem du kommst?“
„Ich heiße Bondo und komme aus Afrika. Genauer gesagt – aus Südafrika. Dort ist es herrlich! Die Landschaft ist die schönste, die du dir vorstellen kannst. Nachts bin ich oft da und....“
Marie starrte ihn an. „Was sagst du da?“
Bondo grinste sie an. „Na, komm schon. Du kennst den Trick doch auch! Ich habe dich beobachtet auf der Schaukel. Man schließt einfach die Augen und schon geht es los. Nur Mut! Klettere auf meinen Rücken, schließe die Augen und ich nehme dich mit auf die Reise.“
Vorsichtig kletterte Marie auf Bondos Rücken. Er fühlte sich rau, aber doch irgendwie schön an. Bondo sah hoch zu ihr, nickte kurz und schloss die Augen. „Jetzt du“, murmelte er leise. Kaum hatte Marie die Augen geschlossen, spürte sie, wir ihr ganz heiß wurde. Nach einer Weile öffnete sie die Augen und blinzelte.
„Das gibt’s doch nicht“, flüsterte sie leise.
Sie hatte das Gefühl in einer völlig anderen Welt gelandet zu sein. Sie war umgeben von einer Landschaft, die ihr glatt die Sprache verschlug. Sand soweit ihre Augen sehen konnten, sanfte Hügel am Horizont und einen Himmel, so blau, wie Marie es nie für möglich gehalten hatte. Nur hier und da sah sie Streifen von grünen Büschen und Sträuchern.
„Südafrika“, sagte Bondo voller Stolz in seiner Stimme. „Ist es nicht das Schönste, was du jemals gesehen hast?“
„Oh, ja“, hauchte Marie. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals soweit in die Ferne gesehen zu haben, ohne auch nur ein einziges Haus oder einen einzigen Wolkenkratzer am Horizont gesehen zu haben. Wohin sie auch sah, war sie von der Natur in ihren schönsten Farben umgeben.
„Hey, Bondo, auch wieder da? Wen hast du uns denn da mitgebracht?“
Neben ihnen stand plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht eine Antilope. Marie konnte sich noch gut an diese Tiere erinnern, denn sie hatte sie erst am Nachmittag gemeinsam mit ihren Geschwistern im Zoo bewundert. Lange, leicht gezwirbelte Hörner ragten aus dem Kopf der Antilope. Irgendwie erinnerte sie Marie mit seinem braunen Fell und den dunklen Augen an ein Reh.
„Hallo“, sagte Bondo freundlich. „Das ist Marie, ich habe sie aus dem Zoo mitgebracht. Ich will ihr ein wenig von unserem herrlichen Land zeigen.“
„Na, dann viel Spaß, ich muss weiter. Die anderen warten auf mich.“ Die Antilope lief schnell davon und Marie traute ihren Augen kaum, als das Tier plötzlich über einen sehr hohen Busch sprang.
„Wow, wie macht er das denn?“, fragte Marie beeindruckt.
Bondo schüttelte den Kopf, so dass Marie aufpassen musste, nicht von seinem Rücken zu fallen.
„Der alte Angeber kann es wieder nicht lassen! Wusstest du, das manche Antilopen 2,50 Meter hoch springen können?“
Marie sah der Antilope hinterher bis sie schließlich in einer kleinen Staubwolke am Horizont verschwand.
„Ich habe Durst,“ sagte Bondo. „Lass´ uns zum kleinen See gehen. Da ist bestimmt wieder viel los. Du wirst staunen.“
Langsam trottete Bondo los und schon kurze Zeit später standen sie vor einem kleinen See, der wie aus dem Nichts aufgetaucht schien. Bondo ließ sich langsam nieder und Marie kletterte von seinem Rücken und sah sich um. Bondo hatte Recht gehabt. Im See tummelte sich gerade eine Herde Büffel. Als sie Marie sahen, kamen einige von ihnen langsam ans Ufer. Erschrocken sah Marie zu Bondo.
„Keine Sorge, das sind sehr friedliche Tiere. Sie werden nur aggressiv, wenn sie sich bedroht fühlen.“
„Hey, Bondo. Seid ihr auch gekommen, um euch zu suhlen?“ Ein Büffel war direkt neben Marie aus dem Wasser gestiegen. Irgendwie hatte Marie das Gefühl, als ob er grinste und sie anzwinkerte.
„Äh, nein danke“, sagte Marie. „Aber lass dich nicht stören!“
Der Büffel nickte, legte sich in den lehmigen Boden am Ufer und suhlte sich genüsslich von einer Seite auf die andere.
„Ahhh, das tut gut!“
„Aber warum machst du dich gleich wieder schmutzig, wo du doch gerade erst gebadet hast?“, fragte Marie verdattert.
„Das ist gut gegen Insekten, weißt du, sozusagen mein Schutzpanzer gegen diese kleinen Viecher.“ Immer mehr Büffel stiegen nun aus dem Wasser, nickten Marie freundlich zu und suhlten sich ausgiebig.
„Sie haben Recht“, rief Bondo. Er war in der Zwischenzeit auch ins Wasser gestiegen, stapfte nun gemütlich ans Ufer und tat es den Büffeln nach.
„Einen besseren Mückenschutz findest du nirgends. Solltest du auch mal ausprobieren.“
Marie zögerte kurz und sah hinunter zu ihrem blauen Rock. Direkt unter dem Saum, an ihrem Knie bemerkte sie einen kleinen roten Punkt, der schon die ganze Zeit juckte.
„Na, wenn das so ist!“
Mit einem lauten Platsch sprang Marie in den kleinen See. Das kühle Wasser war herrlich erfrischend und die Büffel machten ihr sogar höflich Platz. Sie schwamm ein paar Züge und kraulte schließlich zum Ufer. Dort ließ sie sich auf die feuchte Erde fallen und drehte sich lachend mal auf die eine, dann wieder auf die andere Seite. Es fühlte sich herrlich an. Wenn das ihre Geschwister sehen könnten! Die würden grün vor Neid! Ihre Mutter wäre wahrscheinlich nicht so begeistert, aber das war Marie egal. Schließlich musste sie sich ja gegen die Mücken wappnen, das musste auch ihre Mutter verstehen.
Bondo, dem der Schlamm mittlerweile auf der Haut getrocknet war, lachte.
Im nächsten Augenblick sauste plötzlich wie ein Blitz etwas an ihnen vorbei. So schnell konnte eigentlich nur ein Auto sein. Aber meilenweit war keine Straße zu sehen und Motorengeräusche konnte Marie auch nicht hören. Tsssu.. Wieder sauste etwas an ihnen vorbei.
„Hallo, Bondo. Keine Zeit heute – bin in Eile.“
Marie wirbelte herum und sah nur noch die Hinterläufe eines gefleckten Tieres.
„Was war das denn?“, frage sie perplex.
Bondo lachte. „Das, meine Liebe, war ein Gepard. Diese Tiere können bis zu 114 Kilometer pro Stunde laufen. Fast so schnell wie eure Autos. Da staunst du, was?“
„Und warum hatte er es so eilig?“, fragte Marie.
„Ich vermute mal, weil er hungrig ist. Sicher jagt er gerade seinem Abendessen hinterher.“
Marie musste lachen. Nur gut, dass sie ihrem Essen nicht nachjagen musste. Der Kühlschrank hielt ja zum Glück immer still.
„Also, ich könnte jetzt auch was vertragen“, sagte Bondo. Er trabte zu einer Reihe von Bäumen und Büschen, die in kräftigem Grün leuchteten.
„Wilft du auch waf?“, fragte er Marie kauend, während er sich mit seinem Rüssel büschelweise das Laub von den Bäumen riss und in sein Maul stopfte.
„Nein, danke“, rief Marie lachend. „Ich esse lieber später, wenn wir wieder im Zoo sind.“ Blätter waren nun wirklich nicht nach ihrem Geschmack. Sie sah Bondo zu, der anscheinend gar nicht mehr aufhören konnte, zu essen.
„Sag´ mal, wie viel frisst du eigentlich so am Tag?“
Bondo kaute, schluckte und überlegte. „Naja, so an die 300 Kilogramm Laub täglich werden es schon sein.“
„Was?? Und wie viel trinkst du?“
„Ich schätze mal, ungefähr 200 Liter! Naja, immerhin sind wir Elefanten ja auch die größten Landsäugetiere, die es auf der Welt gibt. “
Marie nickte. Davon hatte sie schon in der Schule gehört. Trotzdem konnte sie sich diese riesigen Mengen an Futter und Wasser kaum vorstellen. Außerdem spürte sie beim Anblick des fressenden Bondos allmählich auch wieder ihren Riesenhunger, den sie schon auf dem Spielplatz bekommen hatte. Ihr Magen knurrte so laut wie das Brüllen eines Löwen und Bondo sah sie erstaunt an.
„Oh“, sagte er schließlich, „ich glaube, wir sollten langsam wieder die Rückreise antreten. Was meinst du?“
„Aber nur, wenn du mir versprichst, mich bald noch mal mit hierher zu nehmen“, rief Marie.
„Na klar, wann immer du willst, komm einfach in den Zoo und besuche mich.“
Bondo ließ sich an Maries Seite nieder und flink kletterte sie auf seinen Rücken. Bondo dreht den Kopf und sah zu ihr hoch.
„Fertig? Eins, zwei, drei....“
Er schloss die Augen und Marie tat es ihm nach. Schon bald spürte sie, wie es immer kühler wurde um sie herum.

„Marie, aufwachen. Das Frühstück ist fertig. Komm´ schon, alle warten auf dich!“
Marie öffnete langsam die Augen. Ihr Vater stand an ihrem Bett und rüttelte sanft an ihrer Schulter.
„Komm schon, es gibt Rührei.“
Langsam setzte Marie sich auf und sah ihren Vater verdattert an.
„Wo ist der Elefant? Und wo sind die Antilopen?“
Ihr Vater lachte laut. „Ich hoffe, im Zoo. Da waren sie zumindest gestern noch, als wir dort waren.“
„Aber ihr hattet mich doch vergessen, und Bondo...“, stotterte Marie aufgeregt.
„Dich vergessen? Aber Süße, wir würden dich doch nie vergessen! Du hast mal wieder wild geträumt. Ich hoffe, es war ein schöner Traum.“ – Verdutzt sah Marie ihren Vater sekundenlang an. Doch dann strahlte sie über das ganze Gesicht. „Oh, ja“, sagte Marie, „es war ein wunderschöner Traum!“[/center][/center]
 



 
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