Mario

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Sebahoma

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Wenn Mario noch beruflich in der Stadt zu tun hatte, begab er sich nur unter Menschen, wenn er es nicht vermeiden konnte. Daher ließ er sich das Frühstück auf sein Zimmer kommen: ein kleines Tablett mit einem Milchhörnchen, Zwieback und einer großen Tasse Cappuccino. Das kleine Zettelchen neben der Tasse ignorierte er zunächst. Mario fing mit dem Zwieback an, den er in den Cappuccino tunkte. Es schmeckte ihm sehr gut, obwohl der Cappuccino ein bisschen zu stark für seinen Geschmack war. Als er fertig war, nahm er das kleine Zettelchen in die Hand und las den Text darauf. Er steckte es ein, trank den Cappuccino aus und verließ das Zimmer.

Er fuhr mit einer vollen U-Bahn in Richtung Marktplatz. Um diese Uhrzeit herrschten hier Hektik und Drängelei. Mario bildete sich ein, schlecht Luft zu bekommen, es musste wohl sehr stickig hier sein. Viele der Leute hatten Tüten, Taschen und Körbe bei sich, sicherlich auf dem Weg zum wöchentlichen Einkauf. Er war aus einem anderen Grunde hier, aber das wusste niemand von diesen Menschen und auch er würde erst noch erfahren, was man ihm zu sagen hatte. Zusammen mit einem Pulk von Menschen stieg er vollkommen unauffällig aus. Ein Geschäftsmann auf dem Weg ins Büro, hätten die meisten Menschen wohl gedacht. Geschäftsmann? Eigentlich gar nicht so falsch. Er spazierte aus dem kleinen Bahnhof heraus und überquerte die Straße.

Er ging an einer Schule vorbei und sah Kinder dort spielen. Er hörte fröhliches Geschrei und ausgelassenes Gelächter, die Kinder hatten Pause und tollten über den Schulhof, ganz unbeschwert, als gäbe es keine Zeit. Wie schön konnte das Leben sein – aber nicht für ihn. Die Kinder hatten noch keine Ahnung, welche Seiten dieses Leben aufziehen konnte. Vor vielen Jahren hatte auch er so gespielt. Er erinnerte sich an diese Zeit, in der es noch so viel zu entdecken gab und die Welt noch voller aufregender Wunder und Späße steckte. Aber es musste ja alles anders kommen. Musste es wirklich? Schon immer hatte er sich überlegt, ob es so kommen musste. So oft hatte er doch versucht, etwas anders zu machen und war dann wieder auf die gleiche Spur gekommen. Es fühlte sich oft an, als sei seine Geschichte schon längst geschrieben und er führe sie nur noch aus, wie ein Schauspieler auf der Bühne. Nur der Sinn des ganzen Stücks hatte sich ihm noch nicht erschlossen.

Mit diesen Gedanken im Kopf kam er zum Anfang des Marktplatzes. Freitagvormittag, auch hier hunderte Menschen. Der Treffpunkt war genau gegenüber dieser Seite des Platzes, sodass er einmal durch die ganze Menge musste. Irgendjemand spielte eine fröhliche Musik, eine flotte Melodie, so passend zu diesem wunderschönen und sonnigen Frühlingsmorgen. Mario wurde warm ums Herz. Es war doch nicht etwa die leichte Musik, die einen harten Burschen wie Mario beeindruckte? Neben dem Musiker standen ein paar Jugendliche, die wohl nichts Besseres zu tun hatten als sich auf dem Marktplatz die Zeit zu vertreiben. Sie scherzten mit den Leuten, sprachen Mädchen an und taten alles, nur nichts Sinnvolles. Ihm war danach, sie zu ermahnen, sie sollten sich doch ordentliche Arbeit suchen und etwas Vernünftiges aus ihrem Leben machen. Er sie ermahnen? Da fiel ihm auf, wie lächerlich es wäre und er ließ davon ab.

Auch er hatte damals Wochen so verbracht, hatte einfach in den Tag hinein gelebt und gar nicht bemerkt, auf welchen falschen Weg er sich da begab. Aber dann hatte er es getan. An die alte Dame konnte er sich noch ganz genau erinnern. Und auch an sein Herz, das so laut schlug, als seine Hand in ihre Tasche griff. Ein hübsches Portemonnaie war das. Es schien ihm pure Ironie zu sein, dass es auch noch randvoll war, denn es ging ja gar nicht um das Geld. Es war nur eine Mutprobe, er wollte sie doch beeindrucken, sie, Chiara! Er hätte alles für sie getan.

Der Duft von den Ständen kam in seine Nase und lenkte ihn für einen Moment ab. Lebensmittel, Kräuter, Gewürze. Was diese Welt nicht alles an Leckereien bot – wenn man sie nur genießen konnte! Aber seit damals nach diesem kleinen Diebstahl konnte er es nicht mehr. Die Polizei verdächtigte ihn, sehr viel Geld auf unerlaubte Weise in seinen Besitz gebracht zu haben. Mario wusste nicht, was er tun sollte und war froh, dass sein Onkel ihm half. Dieser kannte den Polizeihauptmann sehr gut und legte bei ihm ein gutes Wort ein. Nur eine Kleinigkeit musste er dafür tun. Hatte Chiara eigentlich gewusst, dass es so kommen würde, als sie seinen Mut herausforderte? Oder war diese Tat die Kleinigkeit, die sie seinem Onkel liefern musste? Und für welches Vergehen? Bei Mario folgte dann eine Kleinigkeit der anderen, die Kleinigkeiten wurden größer, er geriet immer tiefer in die Hände seines Onkels und irgendwann hatte er eine Waffe in der Hand. Sein Onkel war der Meinung, dass es hie oder da Menschen gab, die die Welt nicht brauchte. Mario erledigte dies für ihn, dezent und zuverlässig. Dafür gab es natürlich ein bisschen Kleingeld, das mit den Kleinigkeiten wuchs. Dies wiederum erlaubte ihm dann doch ein paar schöne Momente, sehr viele sogar, ja, es gab Zeiten, da war sein Leben sehr angenehm. Ein großes Haus direkt am Meer, Reisen um die ganze Welt, Partys, Autos, Frauen. Diese Aufträge zwischendurch störten zwar, aber letztlich tat auch er nur seine Arbeit, so wie die Händler auf einem Wochenmarkt.

Jetzt war er an dem Treffpunkt angekommen, der auf dem Zettel gestanden hatte. Hier, am Brunnen in der Mitte des Marktes, wo Einzelne im Meer von Hunderten untergingen, hier sollte er neue Anweisungen bekommen. Er musste einen Moment verschnaufen, denn sein Herz raste. Eigentlich war er doch immer sehr sportlich gewesen. Mario zündete sich trotzdem eine Zigarette an. Er beobachtete Pärchen, die sich am Brunnen amüsierten und beneidete sie.

Mal sehen, welchen Job sein Onkel ihm dieses Mal auftragen würde. Sein Onkel. Er konnte ihn nicht leiden. Seit damals wollte er ihm entkommen, aber er hatte ihn immer in der Hand. Eines Tages, das hatte er sich schon lange geschworen, würde sein Onkel einen bleiernen Gruß von ihm bekommen. Heimlich, ganz vorsichtig hatte Mario bereits Erkundigungen eingeholt, wo sich sein Onkel oft aufzuhalten pflegte und wer auf Marios Seite wäre, wenn sein Onkel plötzlich verschwinden würde. Eines Tages. Erst einmal musste er weiter mitspielen.

Mario sah sich um. Die Sonne prallte auf seinen Kopf. Er bemerkte, dass er stark schwitzte. Der Morgen war warm, aber war er wirklich so heiß? Ihm fielen drei alte Männer auf, die sich unterhielten, Boccia spielten und einen Kaffee tranken. Er hätte sich am liebsten dazu gesetzt – aber er durfte nicht. Immer hatte er davon geträumt, unbesorgt als unbelasteter Bürger zu leben. Aber er hatte einsehen müssen, dass sein Onkel andere Pläne mit ihm hatte. Oder war er selbst schuld? Hätte er an irgendeiner Stelle anders handeln müssen? Oder war sein Leben wirklich zu diesem Dasein vorausbestimmt gewesen? Bohrende Fragen. Wenn Mario darüber nachdachte, fand er nie eine Antwort. Doch was war das? Jetzt, als er wieder einmal darüber grübelte, kam ihm sein Leben sehr sinnvoll vor. Zum ersten Mal sah Mario ganz klar, dass sein Leben so sein musste. Gleichzeitig wurde ihm schwindlig, er fühlte sich müde und wollte schlafen. Oh, Schreck! Die stickige Luft in der U-Bahn, sein rasendes Herz auf dem Marktplatz. Mario erinnerte sich an den kräftigen Geschmack des Cappuccino und wusste, was passiert war. Wohl ein paar Erkundigungen zu viel. Was für ein Gefühl, gar kein Schmerz, einfach nur diese unglaubliche Erleichterung, dass ihm sein Leben wenigstens für ein paar Sekunden und wenn es auch die letzten waren, so sinnvoll erschien. Hieß es nicht, dass man in diesem Moment sein Leben noch einmal sieht? Aber war nicht sein Weg hierher wie ein Gang durch sein Leben gewesen? War er überhaupt diesen Weg gegangen oder glaubte er es nur und war tatsächlich noch immer im Hotel? Egal. Mario setzte sich an den Brunnen. Er wollte nur noch einmal diese Gerüche des Marktes einatmen, die Geräusche hören, die Leute, das Plätschern des Brunnens, spüren, wie schön das Leben sein konnte, jetzt, da sein Onkel ihn nicht mehr festhalten und er sein Leben endlich genießen konnte. Dann legte er sich sanft auf den Boden.
 



 
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