Martha

Kyra

Mitglied
Martha war schon über zwei Jahrzehnte nicht mehr in ihrer Heimatstadt gewesen, dem Ort, an dem sie mehr als fünfzig Jahre ihres Lebens zugebracht hatte. Sie sah aus dem Zugfenster. Gerade rollten sie über die alte Eisenbrücke, die den mächtigen Fluss überspannte, an dessen anderem Ufer der Bahnhof lag. Diese Brücke mochte inzwischen über hundert Jahre alt sein, ein Wahrzeichen der Stadt neben dem herausgeputzten Dom. Martha war auf dem Weg nach München. Sie hatte es sich so eingerichtet, dass ihr Anschlusszug erst in drei Stunden ging. In dieser Zeit wollte sie einen Ort aufsuchen, der einst, vor über einem halben Jahrhundert, ihr ganzes Leben verändert hatte. Nachdem sie ihr Gepäck in einem Schließfach verstaut hatte, stieg sie in ein Taxi und ließ sich durch die veränderte Stadt ein langes Stück Flussaufwärts fahren. Es gab viele neue Gebäude, manch vertraute Straße war kaum wieder zu erkennen. Ohne großes Interesse nahm Martha die Wandlungen zur Kenntnis; als ihr Blick zufällig den Rückspiegel streifte, musste sie über ihr faltiges Altfrauengesicht lächeln. Sie wurde einem Äffchen immer ähnlicher. Nie hatte sie verstanden, warum Frauen sich an ihre Jugend wie an eine Hoffnung klammern.
Im nächsten Monat würde sie siebenundsiebzig. Immer hatte sie sich gewünscht, in einer weniger trüben Jahreszeit Geburtstag zu haben, als im November mit seinen Friedhofstagen.
Heute war einer dieser Oktobertage mit mauergrauem Himmel, ganz anders als der strahlende Frühlingstag, an dem sie das letzte Mal vor über fünfzig Jahren an jenem Ort war.
Die Stadt war weiter gewachsen. Wo früher langweilige Rübenäcker sich den letzten Hochhäuser anschlossen, waren neue Siedlungen entstanden. Hier machte der Fluss eine Biegung. Das Taxi bog nach links ab, um sich wieder dem Wasser zu nähern. Der Park in der Flussschleife sah noch so aus, wie Martha ihn in Erinnerung hatte. Sie gab dem Taxifahrer Geld und bat ihn auf dem Parkplatz, zu warten.
Sie stieg aus und ging den verlassenen Weg zum Ufer. Im Sommer war es hier sicher voller Spaziergänger, genau wie damals. Als sie den Fluss erreicht hatte, wandte sie sich nach rechts, um seinem Lauf weiter aufwärts zu folgen. Es schien sich nichts verändert zu haben, außer dass der Weg jetzt gepflastert war. Linker Hand die steile Böschung, das Kiesbett und schließlich der Strom, der sich braun und träge darin zu wälzen schien, wie eine alte Frau auf ihrem Lager. Auf der anderen Seite des Uferweges, ein zertrampelter Grasstreifen, dann der Birkenwald. Alle fünfzig Meter eine Sitzbank. Martha versuchte sich zu erinnern. Hier ungefähr muss es gewesen sein. Merkwürdig, wie klar sie alles vor Augen hatte, aber es berührte sie nicht. Dieser Frühlingsabend. Sie war mit einer Freundin spazieren gegangen, dann hatten sie sich getrennt, weil Martha noch einen Augenblick alleine sein wollte, bevor sie sich auf den Heimweg machte. Sie hatte Kummer wegen eines Mannes, der sich in ihrem Gedächtnis heute nicht mehr klar von anderen Männern aus dieser Zeit unterscheiden ließ.
Damals hatte sie auf einer Bank gesessen, in Gedanken versunken. Sie hatte den Mann nicht bemerkt, der sich ihr genähert haben musste, während sie ins Wasser starrte. Erst als er ihren Arm packte, sprang sie mit einem Schrei auf. Sie konnte sich heute noch an den Geruch seiner Hand erinnern, die sich über ihren Mund legte. Sie roch nach Zigaretten und Minze, der Ehering schlug schmerzhaft gegen ihre Zähne.
Martha sah sein Gesicht über sich, noch heute erstaunte es sie, wie gewöhnlich es gewesen war. Nicht brutal, nicht hässlich, seriös, ein Männergesicht, das zum Filialleiter eines Supermarkte, einem jungen Pfarrer gepasst hätte. Der Mann zerrte sie ins Gebüsch, sie hatte sich zuerst gewehrt, ließ es dann aber mit sich geschehen. Sie hatte die Augen geschlossen und sich vorgestellt, sie sei eine Puppe. Eine reglose Puppe ohne Gefühl. Sie hatte die Augen erst wieder geöffnet, als sie merkte, dass niemand mehr da war. Was dann folgte, waren die üblichen Befragungen, Bilder die ihr von der Polizei vorgelegt wurden, die Anzeige die zu nichts führte. Dieses Erlebnis hatte ihr ganzes Leben verändert.
Martha setzte sich wie damals auf eine Bank und sah auf den Strom, der für sie ein Sinnbild der Gleichgültigkeit geworden war. Sie dachte an die lange Zeit des Hasses, an die Psychologen, die Selbsthilfegruppen und die verschlissenen Freundschaften. Der Hass hatte über zehn Jahre gedauert, sie träumte davon, Rache zu nehmen. Ihre Phantasien ließen keine Grausamkeit aus, die sie diesem Mann antun wollte. Sie veränderte sich. Ihre Männerbekanntschaften waren nur noch von kurzer Dauer. Als sie auf die vierzig zuging, hatte der Hass seine lodernden Flammen verloren und war zu einem unangenehmen Glühen verkümmert. Auch diese Glut erlosch nach einigen Jahren. Zurück blieb in Marthas Herz das dornige Gestrüpp des Nichtverzeihens. Dies machte sie unzugänglich für andere, auch sie selber verlor bald das Interesse an ihren unwegsamen Gefühlen. Da sie aus dem Alter war, in dem Männer sich ungeachtet aller Schwierigkeiten in eine Frau verlieben, blieb sie alleine.
Sie blieb weiter in der Stadt, ging aber nie wieder die Wege am Fluss entlang.
Beruflich war sie erfolgreich, auch wenn sie keine nahen Freunde hatte, lebte sie ein geselliges Leben. Heute saß Martha wieder hier, eine alte Frau deren verdorrtes Herz bald zu Staub zerfallen würde.
Nichtverzeihen. Keiner der dies nicht kannte, würde verstehen, wie sie sich nach dem lebendigen Hass der ersten Jahre sehnte.
Ein alter Mann, der sich beim Gehen schwer auf seinen Stock stützte, ließ sich auf dem anderen Ende der Bank nieder. Martha sah gleichgültig zu ihm hinüber. Ihr stockte der Atem. Martha sah noch einmal genauer hin, dies war der Mann. Auf der Bank direkt neben ihr saß der Mann, der damals ihren Körper benutzt und ihre Seele zermalmt hatte. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, vielleicht war sie ja verrückt, aber sie war sich sicher, hier neben ihr saß der Mann, der in nur zehn Minuten einen tiefen Schatten auf ihr Leben geworfen hatte und sie in düsterem Zwielicht zurückließ. Sein Gesicht war wie ihres gealtert. Noch immer sah er so belanglos und unauffällig aus wie damals. Martha starrte auf die Hände, die den Griff des Stockes umfasst hielten; knochig und fleckig waren sie inzwischen geworden. Aber es waren dieselben Hände. Als der Alte mit einem freundlichen Lächeln zu ihr herübernickte, hätte Martha fast aufgeschrieen - wie damals vor fünfzig Jahren. Sie saßen eine Weile schweigend nebeneinander, beide beobachteten ein schwer beladenes Frachtschiff, das langsam stromauf fuhr. Etwas später hörten sie die Wellen ans Ufer klatschen. Mit einem leisen Gruß stand der alte Mann auf und ging schwerfällig weiter.
Martha fühlte, wie das Entsetzen verschwand und dem schon fast vergessenen Gefühl des Hasses Platz machte. Sie sah dem Alten hinterher und stellte fest, dass sie heute wohl stärker wäre, als er. Langsam erwachte die Lust an Rache wieder in ihr. Ihr Herz dehnte sich, als die ersten Flammen aufloderten. Ein rasendes Feuer verzehrte das verdorrte Gestrüpp des Nichtverzeihens.
Behände stand sie auf und folgte dem Mann. Martha ging zügig und war bald dicht hinter ihm. Als sie am Wegesrand einen Stein von passender Größe sah, hob sie ihn auf.
Jetzt ging Martha dicht hinter dem Alten und hielt die Hand mit dem Stein leicht erhoben.
Der Mann merkte bald, dass er verfolgt wurde - verfolgt von einer elegant gekleideten alten Dame mit einem Stein in der Hand. Er versuchte schneller zu gehen, aber seine kranken Beine ließen ihn im Stich, seine Bewegungen wurden ruckhaft, sein Gehstock schwang immer weiter aus, als wolle er ohne ihn fliehen.
Während sie sich dem Weg näherten, der Martha zu ihrem Taxi zurückgebracht hätte, genoss sie, mit einem Anflug von mitleidigem Spott, die Angst des Alten. Sie betrachtete den Greisenkopf vor sich, das dünne, gelbliche Haar war über die blasse Kopfhaut gekämmt, den Hemdkragen, der ihm wohl mal gepasst hatte, war jetzt zu weit für den faltigen Hals. Nachdenklich wog sie den Stein in ihrer Hand. Würde ein Schlag genügen? Oder würde sie diesen zerbrechlich wirkenden Schädel erst mit mehreren Hieben zertrümmern können?
Martha war es gleichgültig, ob man sie wegen Mordes Anklagen würde. Vielleicht würde sie auch keiner verdächtigen, in einer Stunde würde sie wieder im Zug nach München sitzen. Die Sorge gefasst zu werden, spielte in ihren Überlegungen keine wichtige Rolle. Sie musste sich entscheiden, hier vor ihr war der Zerstörer ihres Lebens. Wollte sie ihn jetzt töten oder nicht?
Sie kamen der Abzweigung immer näher. Martha versuchte sich die Befriedigung vorzustellen, diesen Kopf zerschmettert am Boden zu sehen. Sie wusste genau, sie konnte es tun, ihr Hass war jetzt wieder stark genug.
Als die Wegkreuzung schließlich kam, warf Martha den Stein einmal spielerisch in die Luft, betrachtete ihn kurz, dann schleuderte sie ihn mit aller Kraft in den Fluss.
Ihr Blick folgte seinem Flug. Sie beobachtet die Stelle, an der er versank, bis der letzte Wasserkreis verschwunden war. Der Alte war weitergehumpelt. Während Martha zu dem Parkplatz abbog, sah sie noch einmal hinter ihm her. In diesen Moment drehte der Mann sich auch um, sie sahen sich in die Augen. Zu ihrer Verwunderung erkannte Martha ihn nicht mehr.
Einen Augenblick glaubte sie verwirrt, er sei ein Fremder.
Aber als sie wieder ins Taxi stieg und zum Bahnhof zurückfuhr, war sie sich wieder ganz sicher, dass es wirklich der Mann gewesen war, der sie vor fünfzig Jahren zu einer Puppe gemacht hatte.
Als Martha später im Zug nach München saß und er abermals über die Eisenbrücke rumpelte, sah Martha voller Liebe in das träge Wasser des Flusses.
 
L

leonie

Gast
hallo kyra

Toll geschrieben, vor allem der Schluss, wo die Frau ihre Hass besiegt gefällt mir sehr.
liebe grüße leonie
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
eine

sehr gut geschriebene, anrührende geschichte. wie immer verzeihe ich ob der guten lektüre die kleinen fehlerchen. einige wendungen sind brillant formuliert. ich glaube aber, ich hätte gern gelesen, daß sie ihm den stein ins kreuz geschmissen hat. nee, nee, das is nur so n dummes gefühl. du hast deine sache gut gemacht! ganz lieb grüßt
 



 
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