Mary und Robert

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Die große Liebe begann in der ersten Klasse. Zumindest von Roberts Seite aus. Mary bemerkte schon damals, wie seine Blicke zu ihr wanderten und manchmal lächelte er sie schüchtern an. Ebenso merkte Mary schon recht früh, dass sie sich nicht viel aus Robert machte, doch sie hielt es nicht für angebracht, ihm das offen zu sagen. Schließlich wusste man nie, wozu man ihn noch brauchen konnte.
Als beide in die Pubertät kamen, spürte Mary, dass Roberts Zuneigung noch intensiver wurde und gleichzeitig entdeckte sie, wie viel Spaß es ihr machte, mit seinen Gefühlen zu spielen. Wenn sie ihn scharf zurechtwies, weil er ihrer Meinung nach zum Beispiel Unsinn im Unterricht erzählt hatte ("Wie kommst du nur auf so etwas? Du musst doch wissen, dass das ganz anders ist als du erklärt hast. Geht das nicht in deinen Kopf rein?"), ließ Robert den Kopf hängen und Mary freute sich diebisch darüber, dass sie die Macht hatte, ihn zu verletzen.
Als beide das Abitur in der Tasche hatten, war es immer noch nicht zu einem Austausch von Zärtlichkeiten zwischen beiden gekommen. Doch Mary hatte bereits ihre Entjungferung mit einem anderen Jungen hinter sich, aus dem sie sich zwar genauso wenig wie aus Robert machte, den sie aber einfach hübsch fand. Doch die ganze Sache war ernüchternd und enttäuschend gewesen. Der Junge hatte keine Ahnung gehabt und das ganze erste Mal war einfach nur von Schmerz und Blut begleitet. Danach hatte Mary von Sex die Nase voll und konzentrierte sich wieder darauf, Robert zu piesacken, mit dem sie gewiss nie Sex haben würde.

Beide fingen an zu studieren, rein zufällig in derselben Stadt. Und da lag es auf der Hand, eine gemeinsame Wohnung zu suchen, um Geld zu sparen. Insgesamt wohnten sie fünf Jahre in dieser Wohnung und auch in dieser Zeit änderte sich ihr Verhältnis zueinander nicht. Robert liebte Mary und sie liebte ihn nicht. Und es kam noch nicht einmal zu einem Kuss zwischen ihnen.
Beide fanden in der gleichen Stadt, in der sie studiert hatten, eine Arbeitsstelle und entschieden sich dafür, weiterhin zusammen zu wohnen.
Als Robert fragte, ob sie ihn heiraten wollte, lachte Mary. "Ich will aber keinen Sex", sagte sie.
"Das ist mir egal. Ich habe bis jetzt ohne Sex mit dir gelebt und kann es weiterhin."
Mary sagte ja.
"Warum hast du ihn geheiratet?" fragte eine Freundin Mary auf der Hochzeit. "Du liebst ihn doch gar nicht."
"Ich habe mich an ihn gewöhnt", antwortete Mary.
 

Willibald

Mitglied
Das ist ein angenehm nüchtern lakonischer Text, der unaufgeregt mit dem Pathosversprechen großer Liebe umgeht, indem er die Temperatur herunterfährt undschlussendlich keineswegs ein Drama oder eine Tragödie oder ein Langweilerdings präsentiert.

Intressant.

ww
 
Willibalds Beurteilung schließe ich mich ausdrücklich an, werte Delfine. Ein solcher Abriss mit einem unkonventionellen Schluss lese auch ich lieber als Breitgewalztes, allzu Vorhersehbares. Da du an anderer Stelle deine Beschäftigung mit theoretischen Grundlagen erwähnt hast: Dieses Ergebnis spricht für sich. Weiter so.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 
Da will ich mal ein kleines Schlückchen Wasser in den Wein gießen.

Schön lakonisch - ja schon. Aber ist der Text auch stimmig? Ein Mann, der die ganze Kindheit und Jugend hindurch sich von ein und derselben Frau hinhalten lässt?

Gut, als eine literarische Demonstration wäre auch das völlig in Ordnung. Es ist nicht so, dass ich einen runden Schluss, eine Erklärung, eine Pointe oder dergleichen brauche. Wenn, ja wenn nur erkennbar wäre was da eigentlich demonstriert werden soll, und wenn es nur ein neues Rätsel wäre, welches aufscheint.

Es ist nicht so, dass ich den Text nicht gerne gelesen hätte. Aber ich frage mich, warum?
 

Willibald

Mitglied
[Gemeinschaft]

Wir sind fünf Freunde, wir sind einmal hintereinander aus einem Haus gekommen, zuerst kam der eine und stellte sich neben das Tor, dann kam oder vielmehr glitt so leicht wie ein Quecksilberkügelchen gleitet der zweite aus dem Tor und stellt sich unweit vom ersten auf, dann der dritte, dann der vierte, dann der fünfte. Schließlich standen wir alle in einer Reihe. Die Leute wurden auf uns aufmerksam, zeigten auf uns und sagten: Die fünf sind jetzt aus diesem Haus gekommen. Seitdem leben wir zusammen, es wäre ein friedliches Leben wenn sich nicht immerfort ein sechster einmischen würde. Er tut uns nichts, aber es ist uns lästig, das ist genug getan; warum drängt er sich ein, wo man ihn nicht haben will. Wir kennen ihn nicht und wollen ihn nicht bei uns aufnehmen. Wir fünf haben zwar früher einander auch nicht gekannt und wenn man will, kennen wir einander auch jetzt nicht, aber was bei uns fünf möglich ist und geduldet wird ist bei jenem sechsten nicht möglich und wird nicht geduldet. Außerdem sind wir fünf und wir wollen nicht sechs sein. Und was soll überhaupt dieses fortwährende Beisammensein für einen Sinn haben, auch bei uns fünf hat es keinen Sinn, aber nun sind wir schon beisammen und bleiben es, aber eine neue Vereinigung wollen wir nicht, eben auf Grund unserer Erfahrungen. Wie soll man aber das alles dem sechsten beibringen, lange Erklärungen würden schon fast eine Aufnahme in unsern Kreis bedeuten, wir erklären lieber nichts und nehmen ihn nicht auf. Mag er noch so sehr die Lippen aufwerfen, wir stoßen ihn mit dem Elbogen weg, aber mögen wir ihn noch so sehr wegstoßen, er kommt wieder.

Kafka, Franz: Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa
Hm, nochmal Wasser in den Wein?
Es ist nicht so, dass ich den Text nicht gerne gelesen hätte. Aber ich frage mich, warum?
Was für einen Grund könnte das haben?
 
Hallo Binsenbrecher,

erstmal vielen Dank für deine Beschäftigung mit meinem Text.

Schön lakonisch - ja schon. Aber ist der Text auch stimmig? Ein Mann, der die ganze Kindheit und Jugend hindurch sich von ein und derselben Frau hinhalten lässt?
Du glaubst, das gibt es nicht?

Gut, als eine literarische Demonstration wäre auch das völlig in Ordnung. Es ist nicht so, dass ich einen runden Schluss, eine Erklärung, eine Pointe oder dergleichen brauche. Wenn, ja wenn nur erkennbar wäre was da eigentlich demonstriert werden soll, und wenn es nur ein neues Rätsel wäre, welches aufscheint.
Ich finde eigentlich, es ist offensichtlich, was in der Geschichte über die Zeit mit den beiden passiert ....:)allerdings weiß ich nicht, was du mit "demonstriert werden soll" meinst, denn ich wollte nichts demonstrieren, sondern nur etwas erzählen.

LG SilberneDelfine
 

Silbenstaub

Mitglied
Hallo SilberneDelfine,
ich habe deinen Text nicht gerne gelesen. Während in dem oben erwähnten Kästner-Gedicht eine erloschene Liebe gezeigt wird, lese ich hier von psychischen Auffälligkeiten. Mary, emotionslos, ziellos, mit einem Hang zum Sadismus. Robert, zu „viel liebend“, in einer morbiden Abhängigkeit zu Mary.
Diese Konstellation zum Thema zu machen, ist durchaus reizvoll, aber für mein Empfinden schreit sie nahezu nach Hintergründen und nach einer näheren Charakterisierung der Protagonisten.
Auch finde ich Beschreibungen wie „die große Liebe“, „Sex haben“, „das Verhältnis änderte sich“ zu abstrakt für einen Prosatext.
Um noch einmal auf den Kästner zurückzukommen, bei ihm heißt es in der letzten Strophe:
„Sie gingen ins kleinste Café am Ort
und rührten in ihren Tassen.
Am Abend saßen sie immer noch dort.
Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.“

Hier entstehen Bilder für mich.
Vielleicht wäre es eine Idee, eine breiter angelegte Geschichte daraus zu entwickeln, das Thema ist ja spannend, oder, wenn es dann diese Kurzform sein soll, radikal zu zertrümmern, denn so viel Hoffnungslosigkeit hat keine Form, keine Struktur und letztlich auch keine Sprache.
Viele Grüße
Silbenstaub
 
Hallo Silbenstaub,

danke für deinen Kommentar.
Eines vorweg: Den Text von Kästner kannte ich gar nicht, deswegen besteht von meiner Seite aus eigentlich keine Assoziation dazu, auch wenn ich es interessant finde, dass Willibald die Geschichte von Kästner erwähnte.

Nun zu deiner Kritik:
Der Text sollte eben kurz sein (ich übe mich zurzeit in Kurzprosa) und eben gerade keine längeren Erklärungen liefern. Er ist genauso gewollt wie er dasteht.

lese ich hier von psychischen Auffälligkeiten. Mary, emotionslos, ziellos, mit einem Hang zum Sadismus. Robert, zu „viel liebend“, in einer morbiden Abhängigkeit zu Mary.
Diese Konstellation zum Thema zu machen, ist durchaus reizvoll, aber für mein Empfinden schreit sie nahezu nach Hintergründen und nach einer näheren Charakterisierung der Protagonisten.
Auch finde ich Beschreibungen wie „die große Liebe“, „Sex haben“, „das Verhältnis änderte sich“ zu abstrakt für einen Prosatext
In einem Kurzprosatext wird extrem verdichtet (in diesem hier wird die Zeit verdichtet) geschrieben. Es ist kein Prosa, sondern ein Kurzprosa-Text. Der Leser kann seine eigenen Schlüsse ziehen. Du hast jetzt einen anderen Schluss gezogen als die anderen Kommentatoren, was ich enorm interessant finde.

LG SilberneDelfine
 
Ich muss noch etwas erwähnen:

denn so viel Hoffnungslosigkeit hat keine Form, keine Struktur und letztlich auch keine Sprache
Wieso Hoffnungslosigkeit? Die beiden heiraten doch sogar. Robert bekommt seine Mary, und beide sind damit zufrieden. Ich sehe da keine Hoffnungslosigkeit.

Und:

lese ich hier von psychischen Auffälligkeiten. Mary, emotionslos, ziellos, mit einem Hang zum Sadismus. Robert, zu „viel liebend“, in einer morbiden Abhängigkeit zu Mary
Ich finde es erfreulich erstaunlich, was alles in diesen kurzen Text hinein interpretiert werden kann. Ich selbst hätte Mary nicht mal als sadistisch empfunden. Eher als "liebesfaul" und asexuell.

LG SilberneDelfine
 

Willibald

Mitglied
So wird der Kästnervergleich verständlicher:

Erich Kästner

Sachliche Romanze

Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.

Sie waren traurig, betrugen sich heiter,
versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wußten nicht weiter.
Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.

Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
Er sagte, es wäre schon Viertel nach Vier
und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.
Nebenan übte ein Mensch Klavier.

Sie gingen ins kleinste Café am Ort
und rührten in ihren Tassen.
Am Abend saßen sie immer noch dort.
Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.

Sachlich-nüchterner Ton, Romance sehr einseitig beim Mann, Anbetung von ferne, Anbetung aus der Nähe - ohne Erfüllung. Keine katastophale Stimmung mit Pathos ...

greetse
ww
 
Exzellent, das Kästner-Gedicht, und neu für mich. Abgesehen vom Unterschied zwischen Prosa und Lyrik ist da noch ein fundamentaler: Kästner stellt den Moment der Bestürzung dar, der eine Art Bilanz aus Vorangegangenem bildet, das nicht Gegenstand des Textes ist. Delfines Kurzprosatext, den ich weiterhin für durchaus gelungen halte, ist dagegen eine Art Flug über einen langen Zeitraum mit ein bisschen Vogelperspektive. Vergleichen kann man das nur, um die Differenz der Methoden aufzuzeigen, nicht um Mängel im Detail festzustellen.

Schönen Morgengruß
Arno Abendschön
 

Silbenstaub

Mitglied
Hallo SilberneDelfine,
zu deinen Anmerkungen:
Die Zeit in einem Kurzprosatext zu verdichten, finde ich extrem schwierig. Hier überzeugt es mich nicht.
Hoffnung würde für mich entstehen, wenn sie nicht heiraten würden, wenn Robert sich aus der Abhängigkeit lösen und Mary Licht in ihr Dasein bringen könnte.
Solche Konstellationen sind aber meistens sehr zählebig. Aber sind sie zufrieden mit ihrem Arrangement? Für mich ist es Ausdruck von Hoffnungslosigkeit.
Wenn es Mary Spaß macht, mit Roberts Gefühlen zu spielen, und sich darüber freut, dass sie die Macht hat, ihn zu verletzen, dann sehe ich da schon sadistische Tendenzen.
Und die Asexualtität der Mary ist für mich ein Symptom ihrer allgemeinen Lustlosigkeit.
Beste Grüße
Silbenstaub
 

Willibald

Mitglied
Ok, verstehe, an und in der (kurzen) Geschichte wird Hoffnung, Hochgefühl, Leidenschaft und damit Etwas vermisst, was den Leser emotional befriedigt und erhebt.

greetse
ww
 

Silbenstaub

Mitglied
Bei einem Prosatext möchte ich in erster Linie auf der emotionalen Ebene angesprochen werden, wobei nicht unbedingt positive Gefühle ausgelöst werden müssen.
Letztlich hat es hier ja doch geklappt.
Aber mir fehlen hier der Hintergrund, die nähere Charakterisierung der Protagonisten. Da, wo es für mich spannend werden könnte, kommt nichts mehr.
Und sprachlich gefällt mir der Text eben auch nicht besonders, wie ich schon an Beispielen aufgezeigt hatte.
Natürlich ist das mein subjektiver Eindruck.
Beste Grüße
Silbenstaub
 

Willibald

Mitglied
Die Aussparung von Emotion bei den Protagonisten und in der Sprache des Erzählers scheint mir besonders wirkungsvoll zu sein. Daher auch die gewisse Vergleichbarkeit mit der Erloschenheit und Kühle im Kästner-Gedicht.

greetse

ww
 



 
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