Mauersplitter

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Walther

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Mauersplitter


I - 1989

Als die Mauer zusammenbrach, brachen viele auf. Es ging in die damalige Übergangs-DDR mit dem Auftrag, Interessenten zum Thema „Wie mache ich mich selbständig“ zu schulen. Es gab so etwas wie einen nationalen Impetus, mit anzupacken. Erleichtert wurde das dadurch, dass man die Reisekosten konfinanziert bekam. Sonst gab’s nichts, und nicht nur ich fuhr trotzdem.

In Dessau haben wir damals in einem Wohnheim gehaust, in dem die Heizung durch das Öffnen von Fenstern geregelt wurde. Das Klo konnte man nur mit geschlossenen Augen und Nase betreten. An Duschen war nicht zu denken.

Beim Schnäuzen der Nase war das Taschentuch nach der ersten Nacht schwarz. Der Horizont war geldgrün und der Schwefelgeruch ungefilterter Braunkohleverbrennung allgegenwärtig.


II – 1990

Ich fahre im Auftrag der sächsischen Wirtschaftsförderung nach Riesa ins Stahlwerk. Die Straßen fordern den Ford Mondeo bis an die Grenzen seiner Stoßdämpfer. Einschlafen am Steuer ist nicht.

Trabbis all überall: Der Gestank der Zweitakter ist der klare Hinweis, wo man sich befindet, ebenso die anderen Verkehrszeichen. An einer Ampel biegt man rechts ab, auch wenn die Ampel rot ist. Der grüne Pfeil nachts rechts macht wenigstens da Hoffnung auf Besserung.

Die Besichtigung des Betriebs ist niederschmetternd. Mehr als 70% der Arbeitsplätze würden wegfallen, wenn es überhaupt eine Überlebenschance gab. Den Leitern der Werks PHG habe ich geraten, sich möglichst schnell mit einem Geschäftsplan und einer Ausgründung zu beschäftigen. So können sie wenigstens am beginnenden Bauboom teilhaben. Ihr Betrieb wird sie bald nicht mehr benötigen.


III – 1991

Ich fahre wieder einmal über Plauen nach Dresden. Der Flug ist zu teuer. Außerdem brauche ich das Auto, um nach Schwarzenberg zu fahren, der Vorlage für den Roman gleichen Namens von Stefan Heym. Den kennt heute keiner mehr, Schwarzenberg liegt im Windschatten des Erzgebirges, ohne Zukunft und Perspektive.

Ich fahre über Landstraßen durch das Vogtland, weil sich die einzig fertiggestellte Brücke der Hitlerautobahn nach Berln gerade im Neubau befindet. Stuttgart – Dresden dauert zwischen acht und neun Stunden. Wieviele der schwäbischen Leihbeamten und –manager in der Aufbauzeit ihr Leben auf diesen Straßen gelassen haben, weiß keiner. Auch ich habe ein halbes Dutzend Verkehrstote im direkten Umfeld. Der Aufbau ist auch eine blutige Angelegenheit, es fahren sich nach vorsichtigen Schätzungen einige Tausend in den Tod.


IV – 1993

In Dresden gewinnt die Hoffnung Oberhand: die Renovierung der Frauenkirche geht auf die Baustelle. Welch ein Wunder, welche weltweite Solidarität! Mit diesem einzigartigen Bauwerk bekommt der Aufbau Gestalt.

In einem wahnwitzigen Projekt werden zuerst die Reste, die noch stehen, gesichert, und dann werden die Schutthaufen sortiert und geordnet. Ich bin jedes Mal, wenn ich in Dresden war, hingegangen, um Kraft zu schöpfen. Hier wächst das, was möglich hätte sein können. Hier ist das Wunder der Wiedervereinigung fassbar.


V – 1995

Berlin, Marienburgerstraße: eine Rückkehr. Wer nach dem Krieg in Berlin geboren ist und wegzog, nach Frankfurt, nach Hamburg, in die verbliebenen großen Städte, der trug zeitlebens ein schlechtes Gewissen mit sich. Geradewegs wie die Eltern und Großeltern, die gingen, weil die Existenzangst sie trieb.

Die Häuser sind im Hochpatterre so feucht, dass man in diesen Wohnungen oft nicht mehr leben kann. Der Vater hatsich in das zweite und dritte OG eingekauft. Die Renovierung ist eine Pusselarbeit, die Kosten exorbitant, die Straßen eine Zumutung.

Aber Berlin, ja, das ist es. Da sieht man die Veränderung. Der Potsdamer Platz: die Baustelle Deutschland ist selten so fassbar. Und an ihm kann man heute noch Erfolg, Scheitern und Chuzpe nachfühlen.


VI – 1999

Mit Kollegen nach Dresden in einer geführten Reise, die Liebste will endlich wissen, was geschieht. Die Frauenkirche ist halbfertig. Wir besuchen die Orte, die man gesehen haben muss. Es ist viel geschehen.

Es fällt richtig auf, dass am Flughafen einiges vorangekommen ist. Der Verkehr ist verheerend, aber die Trabbis sind in der Unterzahl. Die Luft ist viel besser, die Hotels sind auf Weststandard.

Wer die Hauptstraßen verlässt, sieht jedoch, was alles noch gemacht werden muss, wieviel 40 Jahre DDR gekostet haben. Meißen ist beeindruckend und niederschmetternd zugleich.


VII – 2002

Die Fahrt geht wieder über Plauen, die Autobahnen sind neu gemacht, und das Fahren ist wie im Paradies. Ich will die alten Wege fahren, will selbst sehen und spüren, wo der Soli hingekommen ist,

Jetzt sind die Straßen besser als zwischen Karlsruhe und München. Wenigstens das haben wir hinbekommen.

Als ich bei Cottbus Richtung Berlin weiterfahre, spüre ich wieder das bekannte Klackedieklack der alten Betonplatten. Wie alt dieser Belag ist? Nicht überall ist der Fortschritt angekommen.

Als ich in Treptow ankomme, fahre ich durch eine Stadt, in der schon die Zeit nach der Renovierung angebrochen ist. Der Leerstand in der Innenstadt ist erschreckend, das aus einer Klinikfehlinvestition entstandene Altenheim der größte Arbeitgeber neben der Stadtverwaltung.

Auch wir haben einen Mezzogiorno. Und es wird noch schlimmer kommen, man kann es regelrecht riechen.


VIII – 2006

Einig Fußballvaterland – ganz Deutschland in Schwarzrotgold. Jedes Tor ist ein nationales Erlebnis, das ganze Land ist im Freudentaumel.

Als ob sich 1954 wiederholte: ein Volk findet einen historischen Augenblick zusammen, es entsteht so etwas wie die Leichtigkeit des Seins. Alle Probleme verschwinden hinter dem friedlichen und freundlichen Fußballfest.

Dass wir den Titel nicht gewinnen, ist eine Nebensache. Weltmeister der Herzen sind wir. Und in Berlin, da schlägt unser aller Pulsschlag. Welch eine Abschiedsfeier für die Fußballhelden!


IX – 2008

Nach dem Sommermärchen 2007 folgt das Sommermärchen 2008. Und immer geht es voran.

Als ich 2008 nach Berlin fliege, sehe ich nichts mehr von der Mauer, aber den Lehrstand. Die Lesung findet in der Nähe des Alex statt, in einer Ladenzeile, die – mangels anderer Verwendung – Atelier and Atelier aneinanderreiht.

Irgendwie trostlos: Die Baustelle Deutschland ist inzwischen hinter schönen Fassaden versteckt, hinter denen das Land munter weiterbröckelt. Der kalte Hauch der Globalisierung dringt durch die Ritzen, der Wohlstand steht auf dem Prüfstand.

Die Lesung sit schön und befreiend. Aber wir sind froh, wieder im schönen Hotel im Westen der Stadt zu übernachten. Noch kann man sich, wenn man Geld hat, die Hülle Sicherheit kaufen. Was aber, wenn die Krise doch noch kommt?


X – 2009

Der Geier kreist. Was wird aus uns? Keiner weiß es. In der Not kommen die Realitäten wieder auf den Tisch. Berlin im Februar ist kalt, die Tagung merkwürdig unwirklich. Die Lähmung hat auch die IT-Branche erfaßt.

Die Mauer ist weg, wenigstens die, die wir sehen. Aber sonst geht sie nach wie vor durch dieses Land. Sie ist in uns. Wir fühlen es. Wir können es sehen.

Aufgeben gilt nicht. Es muß weitergehen. Und es geht weiter, auch wenn man es nicht glauben will.

In weiteren zehn Jahren werden wir erneut Bilanz ziehen. Vielleicht sind die Mauersplitter aus unseren Herzen und Köpfen verschwunden. Vielleicht haben sie sich auch nur verwachsen.
 

Walther

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Mauersplitter


I - 1989

Als die Mauer zusammenbricht, brechen viele auf. Es geht in die damalige Übergangs-DDR mit dem Auftrag, Interessenten zum Thema „Wie mache ich mich selbständig“ zu schulen. Uns treibt so etwas wie einen nationalen Impetus, mit anzupacken. Erleichtert wird das dadurch, dass man die Reisekosten kofinanziert bekommt. Sonst gibt’s nichts, und nicht nur ich fahre trotzdem.

In Dessau haben wir damals in einem Wohnheim gehaust, in dem die Heizung durch das Öffnen von Fenstern geregelt wird. Das Klo kann man nur mit geschlossenen Augen und Nase betreten. An Duschen ist nicht zu denken.

Beim Schnäuzen der Nase ist das Taschentuch nach der ersten Nacht schwarz. Der Horizont ist geldgrün und der Schwefelgeruch ungefilterter Braunkohleverbrennung allgegenwärtig.


II – 1990

Ich fahre im Auftrag der sächsischen Wirtschaftsförderung nach Riesa ins Stahlwerk. Die Straßen fordern den Ford Mondeo bis an die Grenzen seiner Stoßdämpfer. Einschlafen am Steuer ist nicht.

Trabbis all überall: Der Gestank der Zweitakter ist der klare Hinweis, wo man sich befindet, ebenso die anderen Verkehrszeichen. An einer Ampel biegt man rechts ab, auch wenn die Ampel rot ist. Der grüne Pfeil nachts rechts macht wenigstens da Hoffnung auf Besserung.

Die Besichtigung des Betriebs ist niederschmetternd. Mehr als 70% der Arbeitsplätze würden wegfallen, wenn es überhaupt eine Überlebenschance gab. Den Leitern der Werks PHG habe ich geraten, sich möglichst schnell mit einem Geschäftsplan und einer Ausgründung zu beschäftigen. So können sie wenigstens am beginnenden Bauboom teilhaben. Ihr Betrieb wird sie bald nicht mehr benötigen.


III – 1991

Ich fahre wieder einmal über Plauen nach Dresden. Der Flug ist zu teuer. Außerdem brauche ich das Auto, um nach Schwarzenberg zu fahren, der Vorlage für den Roman gleichen Namens von Stefan Heym. Den kennt heute keiner mehr, Schwarzenberg liegt im Windschatten des Erzgebirges, ohne Zukunft und Perspektive.

Ich fahre über Landstraßen durch das Vogtland, weil sich die einzig fertiggestellte Brücke der Hitlerautobahn nach Berln gerade im Neubau befindet. Stuttgart – Dresden dauert zwischen acht und neun Stunden. Wieviele der schwäbischen Leihbeamten und –manager in der Aufbauzeit ihr Leben auf diesen Straßen gelassen haben, weiß keiner. Auch ich habe ein halbes Dutzend Verkehrstote im direkten Umfeld. Der Aufbau ist auch eine blutige Angelegenheit, es fahren sich nach vorsichtigen Schätzungen einige Tausend in den Tod.


IV – 1993

In Dresden gewinnt die Hoffnung Oberhand: die Renovierung der Frauenkirche geht auf die Baustelle. Welch ein Wunder, welche weltweite Solidarität! Mit diesem einzigartigen Bauwerk bekommt der Aufbau Gestalt.

In einem wahnwitzigen Projekt werden zuerst die Reste, die noch stehen, gesichert, und dann werden die Schutthaufen sortiert und geordnet. Ich bin jedes Mal, wenn ich in Dresden war, hingegangen, um Kraft zu schöpfen. Hier wächst das, was möglich hätte sein können. Hier ist das Wunder der Wiedervereinigung fassbar.


V – 1995

Berlin, Marienburgerstraße: eine Rückkehr. Wer nach dem Krieg in Berlin geboren ist und wegzog, nach Frankfurt, nach Hamburg, in die verbliebenen großen Städte, der trug zeitlebens ein schlechtes Gewissen mit sich. Geradewegs wie die Eltern und Großeltern, die gingen, weil die Existenzangst sie trieb.

Die Häuser sind im Hochpatterre so feucht, dass man in diesen Wohnungen oft nicht mehr leben kann. Der Vater hatsich in das zweite und dritte OG eingekauft. Die Renovierung ist eine Pusselarbeit, die Kosten exorbitant, die Straßen eine Zumutung.

Aber Berlin, ja, das ist es. Da sieht man die Veränderung. Der Potsdamer Platz: die Baustelle Deutschland ist selten so fassbar. Und an ihm kann man heute noch Erfolg, Scheitern und Chuzpe nachfühlen.


VI – 1999

Mit Kollegen nach Dresden in einer geführten Reise, die Liebste will endlich wissen, was geschieht. Die Frauenkirche ist halbfertig. Wir besuchen die Orte, die man gesehen haben muss. Es ist viel geschehen.

Es fällt richtig auf, dass am Flughafen einiges vorangekommen ist. Der Verkehr ist verheerend, aber die Trabbis sind in der Unterzahl. Die Luft ist viel besser, die Hotels sind auf Weststandard.

Wer die Hauptstraßen verlässt, sieht jedoch, was alles noch gemacht werden muss, wieviel 40 Jahre DDR gekostet haben. Meißen ist beeindruckend und niederschmetternd zugleich.


VII – 2002

Die Fahrt geht wieder über Plauen, die Autobahnen sind neu gemacht, und das Fahren ist wie im Paradies. Ich will die alten Wege fahren, will selbst sehen und spüren, wo der Soli hingekommen ist,

Jetzt sind die Straßen besser als zwischen Karlsruhe und München. Wenigstens das haben wir hinbekommen.

Als ich bei Cottbus Richtung Berlin weiterfahre, spüre ich wieder das bekannte Klackedieklack der alten Betonplatten. Wie alt dieser Belag ist? Nicht überall ist der Fortschritt angekommen.

Als ich in Treptow ankomme, fahre ich durch eine Stadt, in der schon die Zeit nach der Renovierung angebrochen ist. Der Leerstand in der Innenstadt ist erschreckend, das aus einer Klinikfehlinvestition entstandene Altenheim der größte Arbeitgeber neben der Stadtverwaltung.

Auch wir haben einen Mezzogiorno. Und es wird noch schlimmer kommen, man kann es regelrecht riechen.


VIII – 2006

Einig Fußballvaterland – ganz Deutschland in Schwarzrotgold. Jedes Tor ist ein nationales Erlebnis, das ganze Land ist im Freudentaumel.

Als ob sich 1954 wiederholte: ein Volk findet einen historischen Augenblick zusammen, es entsteht so etwas wie die Leichtigkeit des Seins. Alle Probleme verschwinden hinter dem friedlichen und freundlichen Fußballfest.

Dass wir den Titel nicht gewinnen, ist eine Nebensache. Weltmeister der Herzen sind wir. Und in Berlin, da schlägt unser aller Pulsschlag. Welch eine Abschiedsfeier für die Fußballhelden!


IX – 2008

Nach dem Sommermärchen 2007 folgt das Sommermärchen 2008. Und immer geht es voran.

Als ich 2008 nach Berlin fliege, sehe ich nichts mehr von der Mauer, aber den Lehrstand. Die Lesung findet in der Nähe des Alex statt, in einer Ladenzeile, die – mangels anderer Verwendung – Atelier and Atelier aneinanderreiht.

Irgendwie trostlos: Die Baustelle Deutschland ist inzwischen hinter schönen Fassaden versteckt, hinter denen das Land munter weiterbröckelt. Der kalte Hauch der Globalisierung dringt durch die Ritzen, der Wohlstand steht auf dem Prüfstand.

Die Lesung sit schön und befreiend. Aber wir sind froh, wieder im schönen Hotel im Westen der Stadt zu übernachten. Noch kann man sich, wenn man Geld hat, die Hülle Sicherheit kaufen. Was aber, wenn die Krise doch noch kommt?


X – 2009

Der Geier kreist. Was wird aus uns? Keiner weiß es. In der Not kommen die Realitäten wieder auf den Tisch. Berlin im Februar ist kalt, die Tagung merkwürdig unwirklich. Die Lähmung hat auch die IT-Branche erfaßt.

Die Mauer ist weg, wenigstens die, die wir sehen. Aber sonst geht sie nach wie vor durch dieses Land. Sie ist in uns. Wir fühlen es. Wir können es sehen.

Aufgeben gilt nicht. Es muß weitergehen. Und es geht weiter, auch wenn man es nicht glauben will.

In weiteren zehn Jahren werden wir erneut Bilanz ziehen. Vielleicht sind die Mauersplitter aus unseren Herzen und Köpfen verschwunden. Vielleicht haben sie sich auch nur verwachsen.
 

Walther

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Mauersplitter


I - 1990

Als die Mauer zusammenbricht, brechen viele auf. Es geht in die damalige Übergangs-DDR mit dem Auftrag, Interessenten zum Thema „Wie mache ich mich selbständig“ zu schulen. Uns treibt so etwas wie einen nationalen Impetus, mit anzupacken. Erleichtert wird das dadurch, dass man die Reisekosten kofinanziert bekommt. Sonst gibt’s nichts, und nicht nur ich fahre trotzdem.

In Dessau haben wir damals in einem Wohnheim gehaust, in dem die Heizung durch das Öffnen von Fenstern geregelt wird. Das Klo kann man nur mit geschlossenen Augen und Nase betreten. An Duschen ist nicht zu denken.

Beim Schnäuzen der Nase ist das Taschentuch nach der ersten Nacht schwarz. Der Horizont ist geldgrün und der Schwefelgeruch ungefilterter Braunkohleverbrennung allgegenwärtig.


II – 1991

Ich fahre im Auftrag der sächsischen Wirtschaftsförderung nach Riesa ins Stahlwerk. Die Straßen fordern den Ford Mondeo bis an die Grenzen seiner Stoßdämpfer. Einschlafen am Steuer ist nicht.

Trabbis all überall: Der Gestank der Zweitakter ist der klare Hinweis, wo man sich befindet, ebenso die anderen Verkehrszeichen. An einer Ampel biegt man rechts ab, auch wenn die Ampel rot ist. Der grüne Pfeil nachts rechts macht wenigstens da Hoffnung auf Besserung.

Die Besichtigung des Betriebs ist niederschmetternd. Mehr als 70% der Arbeitsplätze würden wegfallen, wenn es überhaupt eine Überlebenschance gab. Den Leitern der Werks PHG habe ich geraten, sich möglichst schnell mit einem Geschäftsplan und einer Ausgründung zu beschäftigen. So können sie wenigstens am beginnenden Bauboom teilhaben. Ihr Betrieb wird sie bald nicht mehr benötigen.


III – 1992

Ich fahre wieder einmal über Plauen nach Dresden. Der Flug ist zu teuer. Außerdem brauche ich das Auto, um nach Schwarzenberg zu fahren, der Vorlage für den Roman gleichen Namens von Stefan Heym. Den kennt heute keiner mehr, Schwarzenberg liegt im Windschatten des Erzgebirges, ohne Zukunft und Perspektive.

Ich fahre über Landstraßen durch das Vogtland, weil sich die einzig fertiggestellte Brücke der Hitlerautobahn nach Berln gerade im Neubau befindet. Stuttgart – Dresden dauert zwischen acht und neun Stunden. Wieviele der schwäbischen Leihbeamten und –manager in der Aufbauzeit ihr Leben auf diesen Straßen gelassen haben, weiß keiner. Auch ich habe ein halbes Dutzend Verkehrstote im direkten Umfeld. Der Aufbau ist auch eine blutige Angelegenheit, es fahren sich nach vorsichtigen Schätzungen einige Tausend in den Tod.


IV – 1993

In Dresden gewinnt die Hoffnung Oberhand: die Renovierung der Frauenkirche geht auf die Baustelle. Welch ein Wunder, welche weltweite Solidarität! Mit diesem einzigartigen Bauwerk bekommt der Aufbau Gestalt.

In einem wahnwitzigen Projekt werden zuerst die Reste, die noch stehen, gesichert, und dann werden die Schutthaufen sortiert und geordnet. Ich bin jedes Mal, wenn ich in Dresden war, hingegangen, um Kraft zu schöpfen. Hier wächst das, was möglich hätte sein können. Hier ist das Wunder der Wiedervereinigung fassbar.


V – 1995

Berlin, Marienburgerstraße: eine Rückkehr. Wer nach dem Krieg in Berlin geboren ist und wegzog, nach Frankfurt, nach Hamburg, in die verbliebenen großen Städte, der trug zeitlebens ein schlechtes Gewissen mit sich. Geradewegs wie die Eltern und Großeltern, die gingen, weil die Existenzangst sie trieb.

Die Häuser sind im Hochpatterre so feucht, dass man in diesen Wohnungen oft nicht mehr leben kann. Der Vater hatsich in das zweite und dritte OG eingekauft. Die Renovierung ist eine Pusselarbeit, die Kosten exorbitant, die Straßen eine Zumutung.

Aber Berlin, ja, das ist es. Da sieht man die Veränderung. Der Potsdamer Platz: die Baustelle Deutschland ist selten so fassbar. Und an ihm kann man heute noch Erfolg, Scheitern und Chuzpe nachfühlen.


VI – 1999

Mit Kollegen nach Dresden in einer geführten Reise, die Liebste will endlich wissen, was geschieht. Die Frauenkirche ist halbfertig. Wir besuchen die Orte, die man gesehen haben muss. Es ist viel geschehen.

Es fällt richtig auf, dass am Flughafen einiges vorangekommen ist. Der Verkehr ist verheerend, aber die Trabbis sind in der Unterzahl. Die Luft ist viel besser, die Hotels sind auf Weststandard.

Wer die Hauptstraßen verlässt, sieht jedoch, was alles noch gemacht werden muss, wieviel 40 Jahre DDR gekostet haben. Meißen ist beeindruckend und niederschmetternd zugleich.


VII – 2002

Die Fahrt geht wieder über Plauen, die Autobahnen sind neu gemacht, und das Fahren ist wie im Paradies. Ich will die alten Wege fahren, will selbst sehen und spüren, wo der Soli hingekommen ist,

Jetzt sind die Straßen besser als zwischen Karlsruhe und München. Wenigstens das haben wir hinbekommen.

Als ich bei Cottbus Richtung Berlin weiterfahre, spüre ich wieder das bekannte Klackedieklack der alten Betonplatten. Wie alt dieser Belag ist? Nicht überall ist der Fortschritt angekommen.

Als ich in Treptow ankomme, fahre ich durch eine Stadt, in der schon die Zeit nach der Renovierung angebrochen ist. Der Leerstand in der Innenstadt ist erschreckend, das aus einer Klinikfehlinvestition entstandene Altenheim der größte Arbeitgeber neben der Stadtverwaltung.

Auch wir haben einen Mezzogiorno. Und es wird noch schlimmer kommen, man kann es regelrecht riechen.


VIII – 2006

Einig Fußballvaterland – ganz Deutschland in Schwarzrotgold. Jedes Tor ist ein nationales Erlebnis, das ganze Land ist im Freudentaumel.

Als ob sich 1954 wiederholte: ein Volk findet einen historischen Augenblick zusammen, es entsteht so etwas wie die Leichtigkeit des Seins. Alle Probleme verschwinden hinter dem friedlichen und freundlichen Fußballfest.

Dass wir den Titel nicht gewinnen, ist eine Nebensache. Weltmeister der Herzen sind wir. Und in Berlin, da schlägt unser aller Pulsschlag. Welch eine Abschiedsfeier für die Fußballhelden!


IX – 2008

Nach dem Sommermärchen 2007 folgt das Sommermärchen 2008. Und immer geht es voran.

Als ich 2008 nach Berlin fliege, sehe ich nichts mehr von der Mauer, aber den Lehrstand. Die Lesung findet in der Nähe des Alex statt, in einer Ladenzeile, die – mangels anderer Verwendung – Atelier and Atelier aneinanderreiht.

Irgendwie trostlos: Die Baustelle Deutschland ist inzwischen hinter schönen Fassaden versteckt, hinter denen das Land munter weiterbröckelt. Der kalte Hauch der Globalisierung dringt durch die Ritzen, der Wohlstand steht auf dem Prüfstand.

Die Lesung sit schön und befreiend. Aber wir sind froh, wieder im schönen Hotel im Westen der Stadt zu übernachten. Noch kann man sich, wenn man Geld hat, die Hülle Sicherheit kaufen. Was aber, wenn die Krise doch noch kommt?


X – 2009

Der Geier kreist. Was wird aus uns? Keiner weiß es. In der Not kommen die Realitäten wieder auf den Tisch. Berlin im Februar ist kalt, die Tagung merkwürdig unwirklich. Die Lähmung hat auch die IT-Branche erfaßt.

Die Mauer ist weg, wenigstens die, die wir sehen. Aber sonst geht sie nach wie vor durch dieses Land. Sie ist in uns. Wir fühlen es. Wir können es sehen.

Aufgeben gilt nicht. Es muß weitergehen. Und es geht weiter, auch wenn man es nicht glauben will.

In weiteren zehn Jahren werden wir erneut Bilanz ziehen. Vielleicht sind die Mauersplitter aus unseren Herzen und Köpfen verschwunden. Vielleicht haben sie sich auch nur verwachsen.
 
S

suzah

Gast
hallo Walther,

das ist ja alles recht interessant, aber - wie in der vorgabe zu lesen - ist das limit für diese schreibaufgabe 250 wörter, schade. dein text ist gut 4x so viel!!

es gibt einige kleine tippfehler (die habe ich aber nicht gezählt).

grüße suzah
 

Walther

Mitglied
Hallo Suzah,

es gibt Texte, die gehen nicht kürzer. Dieser hat hier seinen thematisch richtigen Platz.

Mir geht es nicht darum, Berücksichtigung bei der Ausschreibung zu finden. Hier ist ein interessiertes Publikum, dem evtl. dieser Aspekt der Wiedervereinigung und des Mauerfalls etwas gibt.

Vielen Dank für Deinen Eintrag.

Gruß W.
 

Walther

Mitglied
Mauersplitter


I - 1990

Als die Mauer zusammenbricht, brechen viele auf. Es geht in die damalige Übergangs-DDR mit dem Auftrag, Interessenten zum Thema „Wie mache ich mich selbständig“ zu schulen. Uns treibt so etwas wie einen nationalen Impetus, mit anzupacken. Erleichtert wird das dadurch, dass man die Reisekosten kofinanziert bekommt. Sonst gibt’s nichts, und nicht nur ich fahre trotzdem.

In Dessau hausen wir damals in einem Wohnheim, in dem die Heizung durch das Öffnen von Fenstern geregelt wird. Das Klo kann man nur mit geschlossenen Augen und Nase betreten. An Duschen ist nicht zu denken.

Beim Schnäuzen der Nase ist das Taschentuch nach der ersten Nacht schwarz. Der Horizont ist fahl gelbgrün und der Schwefelgeruch ungefilterter Braunkohleverbrennung allgegenwärtig.


II – 1991

Ich fahre im Auftrag der sächsischen Wirtschaftsförderung nach Riesa ins Stahlwerk. Die Straßen fordern den Ford Mondeo bis an die Grenzen seiner Stoßdämpfer. Einschlafen am Steuer ist nicht.

Trabbis all überall: Der Gestank der Zweitakter ist der klare Hinweis, wo man sich befindet, ebenso die anderen Verkehrszeichen. An einer Ampel biegt man rechts ab, auch wenn die Ampel rot ist. Der grüne Pfeil nachts rechts macht wenigstens da Hoffnung auf Besserung.

Die Besichtigung des Betriebs ist niederschmetternd. Mehr als 70% der Arbeitsplätze werden wegfallen, wenn es überhaupt eine Überlebenschance gibt.. Den Leitern der Werks PHG habe ich geraten, sich möglichst schnell mit einem Geschäftsplan und einer Ausgründung zu beschäftigen. So können sie wenigstens am beginnenden Bauboom teilhaben. Ihr Betrieb wird sie bald nicht mehr benötigen.


III – 1992

Ich fahre wieder einmal über Plauen nach Dresden. Der Flug ist zu teuer. Außerdem brauche ich das Auto, um nach Schwarzenberg zu fahren, der Vorlage für den Roman gleichen Namens von Stefan Heym. Den kennt heute keiner mehr, Schwarzenberg liegt im Windschatten des Erzgebirges, ohne Zukunft und Perspektive.

Ich fahre über Landstraßen durch das Vogtland, weil sich die einzig fertig gestellte Brücke der Hitlerautobahn nach Berlin gerade im Neubau befindet. Stuttgart – Dresden dauert zwischen acht und neun Stunden. Wie viele der schwäbischen Leihbeamten und –manager in der Aufbauzeit ihr Leben auf diesen Straßen gelassen haben, weiß keiner. Auch ich habe ein halbes Dutzend Verkehrstote im direkten Umfeld. Der Aufbau ist auch eine blutige Angelegenheit, es fahren sich nach vorsichtigen Schätzungen einige Tausend in den Tod.


IV – 1993

In Dresden gewinnt die Hoffnung Oberhand: die Renovierung der Frauenkirche geht auf die Baustelle. Welch ein Wunder, welche weltweite Solidarität! Mit diesem einzigartigen Bauwerk bekommt der Aufbau Gestalt.

In einem wahnwitzigen Projekt werden zuerst die Reste, die noch stehen, gesichert, und dann werden die Schutthaufen sortiert und geordnet. Ich bin jedes Mal, wenn ich in Dresden war, hingegangen, um Kraft zu schöpfen. Hier wächst das, was möglich hätte sein können. Hier ist das Wunder der Wiedervereinigung fassbar.


V – 1995

Berlin, Marienburgerstraße: eine Rückkehr. Wer nach dem Krieg in Berlin geboren ist und wegzog, nach Frankfurt, nach Hamburg, in die verbliebenen großen Städte, der trug zeitlebens ein schlechtes Gewissen mit sich. Geradewegs wie die Eltern und Großeltern, die gingen, weil die Existenzangst sie trieb.

Die Häuser sind im Hochpatterre so feucht, dass man in diesen Wohnungen oft nicht mehr leben kann. Der Vater hat sich in das zweite und dritte OG eingekauft. Die Renovierung ist eine Pusselarbeit, die Kosten exorbitant, die Straßen eine Zumutung.

Aber Berlin, ja, das ist es. Da sieht man die Veränderung. Der Potsdamer Platz: die Baustelle Deutschland ist selten so fassbar. Und an ihm kann man heute noch Erfolg, Scheitern und Chuzpe nachfühlen.


VI – 1999

Mit Kollegen nach Dresden in einer geführten Reise, die Liebste will endlich wissen, was geschieht. Die Frauenkirche ist halbfertig. Wir besuchen die Orte, die man gesehen haben muss. Es ist viel geschehen.

Es fällt richtig auf, dass am Flughafen einiges vorangekommen ist. Der Verkehr ist verheerend, aber die Trabbis sind in der Unterzahl. Die Luft ist viel besser, die Hotels sind auf Weststandard.

Wer die Hauptstraßen verlässt, sieht jedoch, was alles noch gemacht werden muss, wie viel 40 Jahre DDR gekostet haben. Meißen ist beeindruckend und niederschmetternd zugleich.


VII – 2002

Die Fahrt geht wieder über Plauen, die Autobahnen sind neu gemacht, und das Fahren ist wie im Paradies. Ich will die alten Wege fahren, will selbst sehen und spüren, wo der Soli hingekommen ist.

Jetzt sind die Straßen besser als zwischen Karlsruhe und München. Wenigstens das haben wir hinbekommen.

Als ich bei Cottbus Richtung Berlin weiterfahre, spüre ich wieder das bekannte Klackedieklack der alten Betonplatten. Wie alt dieser Belag ist? Nicht überall ist der Fortschritt angekommen.

Als ich in Treptow ankomme, fahre ich durch eine Stadt, in der schon die Zeit nach der Renovierung angebrochen ist. Der Leerstand in der Innenstadt ist erschreckend, das aus einer Klinikfehlinvestition entstandene Altenheim der größte Arbeitgeber neben der Stadtverwaltung.

Auch wir haben einen Mezzogiorno. Und es wird noch schlimmer kommen, man kann es regelrecht riechen.


VIII – 2006

Einig Fußballvaterland – ganz Deutschland in Schwarzrotgold. Jedes Tor ist ein nationales Erlebnis, das ganze Land ist im Freudentaumel.

Als ob sich 1954 wiederholte: ein Volk findet einen historischen Augenblick zusammen, es entsteht so etwas wie die Leichtigkeit des Seins. Alle Probleme verschwinden hinter dem friedlichen und freundlichen Fußballfest.

Dass wir den Titel nicht gewinnen, ist eine Nebensache. Weltmeister der Herzen sind wir. Und in Berlin, da schlägt unser aller Pulsschlag: welch eine Abschiedsfeier für die Fußballhelden!


IX – 2008

Nach dem Sommermärchen 2007 folgt das Sommermärchen 2008. Und immer geht es voran.

Als ich 2008 nach Berlin fliege, sehe ich nichts mehr von der Mauer, aber den Lehrstand. Die Lesung findet in der Nähe des Alex statt, in einer Ladenzeile, die – mangels anderer Verwendung – Atelier and Atelier aneinanderreiht.

Irgendwie trostlos: Die Baustelle Deutschland ist inzwischen hinter schönen Fassaden versteckt, hinter denen das Land munter weiterbröckelt. Der kalte Hauch der Globalisierung dringt durch die Ritzen, der Wohlstand steht auf dem Prüfstand.

Die Lesung ist schön und befreiend. Aber wir sind froh, wieder im schönen Hotel im Westen der Stadt zu übernachten. Noch kann man sich, wenn man Geld hat, die Hülle Sicherheit kaufen. Was aber, wenn die Krise doch noch kommt?


X – 2009

Der Geier kreist. Was wird aus uns? Keiner weiß das. In der Not kommen die Realitäten wieder auf den Tisch. Berlin im Februar ist kalt, die Tagung merkwürdig unwirklich. Die Lähmung hat auch die IT-Branche erfasst.

Die Mauer ist weg, wenigstens die, die wir sehen. Man kann ihre Rest besichtigen. Als ich davorstehe, habe ich diesen Flashback ins Jahr 1972. Mit der Abitursklasse war ich nach Berlin gefahren. Auf der luftigen Stahlrohrkonstruktion konnten wir in den Westteil sehen. Es war März, und der Wind pfiff uns kühl und heftig um die Nase.

Auch die Kontrollen und die unmächtige Wut über die Behandlung beim Übertritt am Bahnhof Friedrichsstraße. Die Gefühle waren da in der Erinnerung, aber irgendwie schienen sie aus einem anderen Leben.

Ja, die manifeste, die körperliche, Mauer ist weg, aber sonst geht sie nach wie vor durch dieses Land. Sie ist in uns. Fest gemauert, gut fundamentiert. Es wird nach wie vor an ihr gebaut und ständig ausgebessert. Wir fühlen es. Wir können es sehen.

Aufgeben gilt nicht, sage ich zu mir. Es muss weitergehen. Und es geht weiter, auch wenn man es nicht glauben will.

In weiteren zehn Jahren werden wir erneut Bilanz ziehen. Vielleicht sind die Mauersplitter aus unseren Herzen und Köpfen verschwunden. Vielleicht haben sie sich auch nur verwachsen.
 

Zeder

Administrator
Teammitglied
Hallo Walther,

ich habe den Text zunächst hierher verschoben, da er die Kriterien der Schreibaufgabe leider nicht erfüllt.

Grüße von Zeder
 

revilo

Mitglied
Hallo Walther,
ich bin geborener Wessi und gekorener Ossi.Deine Schilderung ist ungeheuer authentisch. Für einen, der seit 15 Jahren im Osten lebt, ist Dein Text Wort für Wort nachvollziehbar.Klasse! LG revilo
 

Walther

Mitglied
Hi Oliver,

danke für das Kompliment. Der Text war schon dabei, in der Versenkung zu entschwinden.

In der Tat ist die Betrachtung der Übergangszeit nicht unwichtig für das Verständnis des Wie und des Warum. Ich hätte noch ergänzen können, daß es von mir einen ca. 10seitigen Brief an den damaligen Staatsminister im Bundeskanzleramt gab, der das Thema Existenzgründung und Baufinanzierung mit Steuergeldern bearbeitete, und einen weiteren, der davor warnte, daß die Treuhand die VEB Reste an westdeutsche Wettbwerber veräußerte. Diese Briefe und Papiere stammen aus den Jahren 1990 und 1991.

Das habe ich mir erspart. Der Kommentar muß dazu genügen.

Letztlich ist viel geschaffen und viel versäumt worden. Schlecht vorbereitete Premieren - wofür haben wir eigentlich fast 40 Jahre in Bonn ein Gesamtdeutsches Ministerium gehabt, wenn es null Plan für den Übergang gab, noch überhaupt eine Einschätzung über den Zustand der DDR-Staatswirtschaft - haben diese Konsequenzen zur voraussehbaren Folge.

Genug des Klagens. Gemeinsam sind wir stärker. Vielleicht begreifen wir das irgendwann wirklich.

Erst dann ist auch die Mauer endlich und endgültig gefallen.

Grüßend W.
 

Carlo Ihde

Mitglied
Ich mag deinen Text sehr. Am meisten hast du mich gepackt durch die Anspielung auf Stefan Heyms Roman "Schwarzenberg", den zumindest ich sehr wohl kenne und damals am Stück gelesen habe. Der Roman war voller Hoffnung und Versuchen plebiszitärer Gestaltung von Gesellschaft. Das wurde im Schatten der Geschichte aber alles zerschlagen. Ging's nicht den Menschen im Osten ähnlich? DDR aufgelöst und damit ganz viel Hoffnung, und dann alles demontiert, der Osten mit langersehnten Westprodukten vollgestopft, mit den Titten aus BlitzIllu und Beate Uhse Shops im Kopf kalt gestellt.

Naja, ich geb dir auf jeden Fall 9 Punkte, weil du hiermit in mir bestimmte Denkprozesse anregst, die wichtig für mich sind.

Grüße
 

revilo

Mitglied
Hallo Walter,
ich freue mich, dass ich dazu beitragen konnte, den wirklich guten Text aus der Versenkung zu holen.. Ich habe mich gewundert, dass er bislang weitestgehend unbeachtet blieb.Es ist für mich eine ungeheure Leistung,einen so wichtigen Zeitabschnitt so verdichtet aufs´Papier zu bannen. Hast Du daran gedacht,einmal ein erweitertes Werk - vielleicht gar ein Buch-
über Deine Erinnerungen zu schreiben ? Ich wäre der erste Leser.......... LG revilo
 

FrankK

Mitglied
Hallo Walther

Dein Text hat mich mehr als nur berührt.
Er hat Erinnerungen geweckt. Tief innen.

Vielleicht sehe ich es zu skeptisch, aber ich fürchte, der endgültige Mauerabriss wird erst in den Generationen nach uns vollzogen werden können.

Ansonsten kann ich Deinen Worten nur zustimmen:
Aufgeben gilt nicht. Es muss weitergehen.


Viele Grüße
Frank
 
S

suzah

Gast
hallo walther,

es wurde schon mal vorgeschlagen, diese längeren texte, die deshalb nicht in die auswahl paßten, u.a. auch der text von frankk, in einem buch zu veröffentlichen. ich denke, das wäre doch ein gutes zeitdokument.

lg suzah
 

Walther

Mitglied
Mauersplitter


I - 1990

Als die Mauer zusammenbricht, brechen viele auf. Es geht in die damalige Übergangs-DDR mit dem Auftrag, Interessenten zum Thema „Wie mache ich mich selbständig“ zu schulen. Uns treibt so etwas wie einen nationalen Impetus, mit anzupacken. Erleichtert wird das dadurch, dass man die Reisekosten kofinanziert bekommt. Sonst gibt’s nichts, und nicht nur ich fahre trotzdem.

In Dessau hausen wir in einem Wohnheim, in dem die Heizung durch das Öffnen von Fenstern geregelt wird. Das Klo kann man nur mit geschlossenen Augen und zugekniffener Nase betreten. An Duschen ist nicht zu denken.

Beim Schnäuzen der Nase ist das Taschentuch nach der ersten Nacht schwarz. Der Horizont ist fahl gelbgrün und der Schwefelgeruch ungefilterter Braunkohleverbrennung allgegenwärtig.


II – 1991

Ich fahre im Auftrag der sächsischen Wirtschaftsförderung nach Riesa ins Stahlwerk. Die Straßen fordern den Ford Mondeo bis an die Grenzen seiner Stoßdämpfer. Einschlafen am Steuer ist nicht.

Trabbis all überall: Der Gestank der Zweitakter ist der klare Hinweis, wo man sich befindet, ebenso die anderen Verkehrszeichen. An einer Ampel biegt man rechts ab, auch wenn die Ampel rot ist. Der grüne Pfeil nacht rechts macht wenigstens da Hoffnung auf Besserung.

Die Besichtigung des Betriebs ist niederschmetternd. Mehr als 70% der Arbeitsplätze werden wegfallen, wenn es überhaupt eine Überlebenschance gibt. Den Leitern der Werks PHG habe ich geraten, sich möglichst schnell mit einem Geschäftsplan und einer Ausgründung zu beschäftigen. So können sie wenigstens am beginnenden Bauboom teilhaben. Ihr Betrieb wird sie bald nicht mehr benötigen.


III – 1992

Ich fahre wieder einmal über Plauen nach Dresden. Der Flug ist zu teuer. Außerdem brauche ich das Auto, um nach Schwarzenberg zu kommen, der Vorlage für den Roman gleichen Namens von Stefan Heym. Den kennt heute keiner mehr, Schwarzenberg liegt im Windschatten des Erzgebirges, ohne Zukunft und Perspektive.

Ich fahre über Landstraßen durch das Vogtland, weil sich die einzig fertig gestellte Brücke der Hitlerautobahn nach Berlin gerade im Neubau befindet. Stuttgart – Dresden dauert zwischen acht und neun Stunden. Wie viele der schwäbischen Leihbeamten und –manager in der Aufbauzeit ihr Leben auf diesen Straßen gelassen haben, weiß keiner. Auch ich habe ein halbes Dutzend Verkehrstote im direkten Umfeld. Der Aufbau ist auch eine blutige Angelegenheit, es fahren sich nach vorsichtigen Schätzungen einige Tausend in den Tod.


IV – 1993

In Dresden gewinnt die Hoffnung Oberhand: die Renovierung der Frauenkirche geht auf die Baustelle. Welch ein Wunder, welche weltweite Solidarität! Mit diesem einzigartigen Bauwerk bekommt der Aufbau Gestalt.

In einem wahnwitzigen Projekt werden zuerst die Reste, die noch stehen, gesichert, und dann werden die Schutthaufen sortiert und geordnet. Ich bin jedes Mal, wenn ich in Dresden war, hingegangen, um Kraft zu schöpfen. Hier wächst das, was möglich hätte sein können. Hier ist das Wunder der Wiedervereinigung fassbar.


V – 1995

Berlin, Marienburgerstraße: eine Rückkehr. Wer nach dem Krieg in Berlin geboren ist und weggezogen, nach Frankfurt, nach Hamburg, in die verbliebenen großen Städte, der trägt zeitlebens ein schlechtes Gewissen mit sich. Geradewegs wie die Eltern und Großeltern, die gingen, weil die Existenzangst sie trieb.

Die Häuser sind im Hochparterre so feucht, dass man in diesen Wohnungen oft nicht mehr leben kann. Der Vater hat sich in das zweite und dritte OG eingekauft. Die Renovierung ist eine Pusselarbeit, die Kosten exorbitant, die Straßen eine Zumutung.

Aber Berlin, ja, das ist es. Da sieht man die Veränderung. Der Potsdamer Platz: die Baustelle Deutschland ist selten so fassbar. Und an ihm kann man heute noch Erfolg, Scheitern und Chuzpe nachfühlen.


VI – 1999

Mit Kollegen nach Dresden in einer geführten Reise, die Liebste will endlich wissen, was geschieht. Die Frauenkirche ist halbfertig. Wir besuchen die Orte, die man gesehen haben muss. Es ist viel geschehen.

Es fällt richtig auf, dass am Flughafen einiges vorangekommen ist. Der Verkehr ist verheerend, aber die Trabbis sind in der Unterzahl. Die Luft ist viel besser, die Hotels sind auf Weststandard.

Wer die Hauptstraßen verlässt, sieht jedoch, was alles noch gemacht werden muss, wie viel 40 Jahre DDR gekostet haben. Meißen ist beeindruckend und niederschmetternd zugleich.


VII – 2002

Die Fahrt geht wieder über Plauen, die Autobahnen sind neu gemacht, und das Fahren ist wie im Paradies. Ich will die alten Wege fahren, will selbst sehen und spüren, wo der Soli hingekommen ist.

Jetzt sind die Straßen besser als zwischen Karlsruhe und München. Wenigstens das haben wir hinbekommen.

Als ich bei Cottbus Richtung Berlin weiterfahre, spüre ich wieder das bekannte Klackedieklack der alten Betonplatten. Wie alt dieser Belag ist? Nicht überall ist der Fortschritt angekommen.

Als ich in Treptow ankomme, fahre ich durch eine Stadt, in der schon die Zeit nach der Renovierung angebrochen ist. Der Leerstand in der Innenstadt ist erschreckend, das aus einer Klinikfehlinvestition entstandene Altenheim der größte Arbeitgeber neben der Stadtverwaltung.

Auch wir haben ein Mezzogiorno. Und es wird noch schlimmer kommen, man kann es regelrecht riechen.


VIII – 2006

Einig Fußballvaterland – ganz Deutschland in Schwarzrotgold. Jedes Tor ist ein nationales Erlebnis, das ganze Land ist im Freudentaumel.

Als ob sich 1954 wiederholte: ein Volk findet einen historischen Augenblick zusammen, es entsteht so etwas wie die Leichtigkeit des Seins. Alle Probleme verschwinden hinter dem friedlichen und freundlichen Fußballfest.

Dass wir den Titel nicht gewinnen, ist eine Nebensache. Weltmeister der Herzen sind wir. Und in Berlin, da schlägt unser aller Pulsschlag: welch eine Abschiedsfeier für die Fußballhelden!


IX – 2008

Nach dem Sommermärchen 2007 folgt das Sommermärchen 2008. Und immer geht es voran.

Als ich 2008 nach Berlin fliege, sehe ich nichts mehr von der Mauer, aber den Lehrstand. Die Lesung findet in der Nähe des Alex statt, in einer Ladenzeile, die – mangels anderer Verwendung – Atelier an Atelier aneinanderreiht.

Irgendwie trostlos: Die Baustelle Deutschland ist inzwischen hinter schönen Fassaden versteckt, hinter denen das Land munter weiterbröckelt. Der kalte Hauch der Globalisierung dringt durch die Ritzen, der Wohlstand steht auf dem Prüfstand.

Die Lesung ist schön und befreiend. Aber wir sind froh, wieder im schönen Hotel im Westen der Stadt zu übernachten. Noch kann man sich, wenn man Geld hat, die Hülle Sicherheit kaufen. Was aber, wenn die Krise doch noch kommt?


X – 2009

Der Geier kreist. Was wird aus uns? Keiner weiß das. In der Not kommen die Realitäten wieder auf den Tisch. Berlin im Februar ist kalt, die Tagung merkwürdig unwirklich. Die Lähmung hat auch die IT-Branche erfasst.

Die Mauer ist weg, wenigstens die, die wir sehen. Man kann ihre Reste besichtigen. Als ich davorstehe, habe ich diesen Flashback ins Jahr 1972. Mit der Abitursklasse war ich nach Berlin gefahren. Auf der luftigen Stahlrohrkonstruktion konnten wir in den Westteil sehen. Es war März, und der Wind pfiff uns kühl und heftig um die Nase.

Auch die Kontrollen und die ohnmächtige Wut über die Behandlung beim Übertritt am Bahnhof Friedrichsstraße. Die Gefühle waren da in der Erinnerung, aber irgendwie schienen sie aus einem anderen Leben.

Ja, die manifeste, die körperliche, Mauer ist weg, aber sonst geht sie nach wie vor durch dieses Land. Sie ist in uns. Fest gemauert, gut fundamentiert. Es wird nach wie vor an ihr gebaut und ständig ausgebessert. Wir fühlen es. Wir können es sehen.

Aufgeben gilt nicht, sage ich zu mir. Es muss weitergehen. Und es geht weiter, auch wenn man es nicht glauben will.

In weiteren zehn Jahren werden wir erneut Bilanz ziehen. Vielleicht sind die Mauersplitter aus unseren Herzen und Köpfen verschwunden. Vielleicht haben sie sich auch nur verwachsen.
 

Walther

Mitglied
Hi Carlo,

danke für Deine lieben Worte. Ich habe versucht, meine Erlebnisse nüchtern zu protokollieren. Mehr kann ich nicht leisten, noch nicht.

Hi Oliver,

es geht um Verstehen und Respekt. Aber wann geht es eigentlich beim Versuch zu verstehen, darum eigentlich nicht?

Hi Frank,

danke für Dein ausführliches Lektorat, das ich komplett umgesetzt habe. Was wäre die Lupe ohne Kollegen wie Dich? Sie wäre ein Ort des Abladens und nicht des Textarbeitens. Danke, in jeder Hinsicht. Auch für Dein Mutmachen.

Lieber Gruß Euch allen.

W.
 

Walther

Mitglied
Hallo Suzah,

in der Tat waren in diesem Forum bemerkenswerte Einträge. Ob meiner dazugehört, kann ich nicht beurteilen. Wenn sich jemand für ein Buchprojekt einsetzt, werde ich ihn unterstützen.

LG W.
 



 
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