Mayas Reise

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Maya hatte diese Nacht längst vergessen. Kein Wunder, denn es war fast fünfzehn Jahre her, seit sie in den Stunden vor ihrem zehnten Geburtstag diesen merkwürdigen Besuch empfangen hatte. Aufgeregt schrieb sie damals am nächsten Tag alles ganz genau in ihr Tagebuch, aber dann folgten ihre Geburtstagsfeier, der nächste Urlaub, der Schulwechsel. Die erste Liebe, das Abitur, der Führerschein und das erste eigene Auto. Für sie alles Dinge von verschwindender Bedeutung und dennoch ließen all diese Erlebnisse die eine Nacht vergessen. Nie wieder hatte sie daran gedacht - bis zu dem Tag, als sie die Schränke im Kinderzimmer ihres Elternhauses ausräumte und unter alten Pullovern ihr Tagebuch fand.
Sie musste nicht ausziehen, ihre Eltern waren dagegen und für sie wäre es praktischer, weiterhin in dem Zimmer mit den schrägen Wänden wohnen zu bleiben. Wer jedoch bewohnt mit fast 25 Jahren, als Medizinstudentin im sechsten Semester noch sein Kinderzimmer, unterm Dach der Eltern? Sie wollte nicht so eine sein. Also hatte sie in der Nähe der Uni, zum nächsten Monatsersten, ein WG-Zimmer gemietet. Ziemlich gleichgültig wählte sie Kleidungsstücke aus, die in den Pappkartons landeten, einige Bücher, auf die sie nicht verzichten wollte und ein paar Haushaltsgegenstände für den Anfang. Nichts war ihr wirklich wichtig. Alles was zählte, war ihr Medizinstudium. In der Universität lebte sie, dort wusste sie, warum sie existierte und sie fieberte dem Tag entgegen, an dem sie endlich den Eid des Hippokrates schwören würde. Natürlich wusste sie, dass dieses Ritual nicht mehr üblich war. Aber dieser uralte Eid hatte es ihr angetan und sie würde ihn auf jeden Fall still für sich ablegen. Mit Leib und vor allem Seele würde sie in wenigen Jahren Ärztin sein. Vieles in ihrem Leben war und ist ihr egal, aber die Tatsache, dass sie Medizinerin werden würde, stand schon zu Kindertagen für sie fest. Warum das so war und ist, konnte sie nie erklären. Weshalb auch? Sie musste nicht hinterfragen, was vorbestimmt war.
Als sie plötzlich das alte zerflederte Büchlein in der Hand hielt, musste sie unwillkürlich lächeln.
„Mein liebes Tagebuch“, murmelte sie den Satz, mit dem damals jeder Eintrag begann. Versonnen ließ sich Maya auf ihr Bett fallen und fing langsam an, durch die Seiten zu blättern. Ihre Haut begann zu kribbeln, als sie bei dem Tag angelangte, an dem sie von ihrem nächtlichen Besuch schrieb. Sie erinnerte sich noch immer nicht an das Geschehen und dennoch fühlte sie eine merkwürdige Hitze in sich aufsteigen.
„Liebes Tagebuch, letzte Nacht ist etwas Komisches passiert. Mama und Papa waren nicht zu Hause, sie hatten schon wieder Theaterkarten, obwohl es der Abend vor meinem 10. Geburtstag war. Ich konnte nicht schlafen und plötzlich stand diese wundervolle Frau an meinem Bett. Ihr Gesicht habe ich nicht erkannt, aber sie war richtig schön und sehr sanft. Ihre Stimme war ein süßes Flüstern, als sie mir ein Geheimnis verraten hat. Ich darf es niemanden erzählen, aber ich glaube es ist in Ordnung, wenn es hier steht. Du verpetzt mich ja nicht. Sie hat gesagt, ich darf sie nicht vergessen und sie kommt noch einmal zurück. In der Nacht, bevor ich 25 Jahre alt werde, besucht sie mich wieder und dann zeigt sie mir meinen Weg. Ich habe mich nicht gefürchtet, aber komisch war es schon. Sie war auf einmal weg, hat mir nur noch gesagt, dass ich in fünfzehn Jahren auf der Wiese im Garten auf sie warten soll …“
Maya schüttelte sich und trotzdem blieb die Gänsehaut auf ihrem Rücken. Krampfhaft versuchte sie, sich an damals zu erinnern. Hatte sie die Frau wirklich gesehen oder war es ein Traum, den sie als Kind so beeindruckend empfand, um ihn aufzuschreiben? Erinnerungsfetzen wirbelten durch ihren Kopf, alles fühlte sich merkwürdig an und das Prickeln auf ihrer Haut hörte nicht auf.
Vehement riss sie sich von den Seiten los und lachte halblaut, als sie vom Bett aufstand und das Buch zu der Wäsche in die Kiste warf. Gleichwohl ließ ihr das Gelesene keine Ruhe mehr. Es gibt ja manchmal Dinge … Übermorgen ist ihr 25. Geburtstag, also wäre morgen die Nacht davor. Sollte sie sich einfach - rein zufällig - auf die Wiese legen? Sie lag oft dort, zählte die Sterne und träumte, warum nicht auch morgen? Immer wieder belächelte sie still die Idee und trotzdem hatte sich der Gedanke, dass es falsch sein könnte, es nicht zu tun, festgehakt wie eine Kletterpflanze.
Sie musste es einfach wagen. Noch immer war ihr nicht eingefallen, was es wirklich mit dem Tagebucheintrag auf sich hatte, aber das merkwürdige Gefühl, welches sie schon beim Lesen empfunden hatte, war nicht wieder verschwunden. Je näher der Abend rückte, umso stärker spürte sie es auf der Haut und in ihrem Gedanken. Einem Nervenbündel gleich, ging sie mit unsicheren Schritten zur Wiese hinter dem Haus. Zum Glück war sie auch in dieser Nacht allein, genauso wie damals. Zur eigenen Besänftigung trug sie das alte Tagebuch mit sich. Da mit Sicherheit nichts passieren würde, könnte sie in Ruhe weitere Einträge lesen.
Der Abend war warm, ein leichter Wind, ließ die Blätter der Bäume rascheln und die Atmosphäre knisterte, wie kurz vor einem Gewitter. Maya schaute sich um, ehe sie sich auf die mitgebrachte Decke setzte, musste schon wieder lachen, bemerkte aber auch irritiert, dass die eigenen Laute leicht hysterisch klangen. Was ging mit ihr vor? Sie, die immer alles genau und wissenschaftlich begründete und so lange nach akademischen Antworten suchte, bis keine Frage offen blieb, wartete hier tatsächlich auf …? Auf wen wartete sie eigentlich? Die Spannung wurde unerträglich, ihr wurde schwindelig, der Kopf begann spontan stark zu schmerzen und der Wind wurde urplötzlich zum Sturm. Verwirrt, entkräftet und beunruhigt, ließ sie sich auf den Rücken fallen. Das Letzte was sie bewusst wahrnahm, war die große, unheimlich helle Scheibe des Mondes, direkt über ihr.

Stöhnend wälzte sich Maya auf dem Lager, fühlte eine nie gekannte Hitze in ihrem Körper und als sie die Augen öffnete, sah sie zuerst die helle Sonne. Der Mond war gewichen und auch die Wiese war verschwunden. Stattdessen lag sie auf einer einfachen, halb verrotteten Holzpritsche, deren Bretter sich unangenehm in ihren Rücken bohrten. Unerträglicher Durst ließ sie heiser wimmern, bis sich ein außergewöhnlich hellblaues Augenpaar über ihr Gesicht schob.
„Du darfst nicht klagen, sonst nehme sie dich mit. Bleib still liegen, ich bin gleich zurück.“ Die Worte waren so eindringlich mit einer einnehmenden tiefen Stimme gesprochen, dass sie ihnen unwillkürlich Folge leistete und schwieg. Wer war dieser junge Mann mit den unnatürlichen Augen und wie war sie hierher geraten? Ganz langsam und äußerst schwerfällig strömten die Erinnerungen in ihr Gehirn. Sie musste ohnmächtig geworden sein, als sie auf der Wiese lag, was nicht die Frage beantwortete, was sie hier in der Sonne auf dieser ungemütlichen Liege tat. Als sie sich aufsetzen wollte, wurde sie mit sanftem Druck zurück auf die Pritsche geschoben.
„Bleib liegen! Am besten, stell dich tot. Sie nehmen dich sonst mit, glaub mir. Wir müssen bis zum Abend warten, dann erst ist die Gefahr vorbei.“ Immer wieder schaute sich der junge Mann um und seine Stimme war nur ein warmes Flüstern. „Hier, trink das und dann bleib still!“
Er reichte Maya einen derben Holzbecher in dem sich kühles Wasser befand. Mit einem Zug leerte sie diesen und gab ihn zurück. Langsam wurden ihre Gedanken klarer und vorsichtig versuchte sie, sich umzuschauen. Sie erkannte die Landschaft nicht, wurde aber zwangsläufig an das Mittelalter-Fest erinnert, zu dem sie in jedem Sommer mit Freunden ging. Alte morsche Hütten, viele grobe Leinenzelte und unzählige Feuerstellen konnte sie erkennen und als ihr Blick an ihrem Begleiter hängenblieb, sah sie auch an ihm diese typisch rauen, erdfarbenen Kleider.
„Wer bist du?“
„Kilian und jetzt sei endlich ruhig. Du ahnst nicht, in welcher Gefahr du schwebst!“, antwortete er schnell und ziemlich rüde, stand auf und verschwand im naheliegenden Wald.
Maya hörte fremde Geräusche und Stimmen, die sie nicht verstand, ließ in einem merkwürdigen Dämmerzustand Zeit vergehen und schlief immer wieder erschöpft ein. Jedes Mal, wenn sie erwachte, sehnte sie sich Kilian zurück, hatte sie doch das Gefühl, nur er würde ihre Fragen beantworten können. Als er in der Abenddämmerung endlich auftauchte, fühlte sie sich glücklich. Sie hatte den Eindruck, ihn schon immer zu kennen und suchte nach Spuren, die ihren Verdacht bestätigen würden. Er war groß, hatte blonde strohige Haare, die mit einem Band im Nacken zusammengewunden waren. Alles an ihm war ihr vertraut, ganz besonders seine Augen und dennoch wusste sie, dass sie ihn noch nie in ihrem Leben gesehen hatte.
„Erklär mir, wo ich bin?“, forderte sie Kilian mit wachsamer Stimme auf. Längst hatte sich das Gefühl festgesetzt, dass nichts mehr in ihrem Leben war, wie noch am gestrigen Abend.
Der Mann, mit dem wilden Geruch nach Feuer, Wald und Leben schob ihr ein warmes Fladenbrot in die Hand und reichte dazu erneut diesen Holzbecher mit Wasser.
„Iss und dann sag du mir zuerst, woher du kommst und warum du so eigenartige Kleidung trägst.“ Maya schaute an sich herab und empfand ihr helles Sommerkleid überhaupt nicht eigenartig. Bevor sie protestieren konnte, wurde sie jedoch von dem herrlichen Duft des warmen Brotes abgelenkt, so dass sie mit dem ersten Bissen ihre Erwiderung herunterschluckte.
Es war ausnahmslos ruhig geworden im Lager, es brannte nur noch eine Feuerstelle in ihrer Nähe und da sich der Tag dem Ende zuneigte, wurde es zunehmend dunkel und kühl. Maya, die eine Weile der Stille lauschte und die unbekannten Gerüche und die natürlichen aber dennoch fremden Geräusche des Waldes aufsog, setzte erneut zu ihrer Frage an.
„Kilian, wo bin ich hier und wie bin ich hergekommen?“ Sie suchte seine Augen in der Dunkelheit, fand sie und versank in ihnen auf der Jagd nach der Wahrheit. Sein Gesicht zuckte leicht im Feuerschein, dann räusperte er sich und nahm einen Schluck aus ihrem offensichtlich gemeinsamen Becher.
„Du weißt gar nichts, oder?“, fragte er vorsichtig. Maya schüttelte schnell den Kopf. „Nur, dass ich Maya heiße, auf der Wiese meiner Eltern eingeschlafen bin und sich alles sehr merkwürdig anfühlt.“
Schwer seufzend ließ sich Kilian auf dem Boden nieder, und begann zu erzählen.
„Du warst heute Morgen auf einmal hier, kamst aus dem Wald geschwankt und ich dachte sofort, du bist eine von den Leidenden. Hier tobt eine furchtbare Krankheit, die meisten von uns sterben daran und unser Dorf ist dem Ende geweiht. Niemand ist mehr hier. Heute haben sie die letzten Kranken abtransportiert, bringen sie in die Wälder zum Sterben, damit sie die Seuche nicht weiter verbreiten können. Ich habe sofort gesehen, dass du nicht befallen bist und habe dich darum geschützt. Es wird niemand mehr zurückkommen, jetzt bist du also sicher.“ Ergeben und traurig schaut er in den Wald, in dem vor Stunden seine Kameraden verschwunden waren.
„Wovon redest du? Welche Krankheit und wo sind wir hier? Und sag mir, welches Datum ist heute?“, fragte Maya zunehmend verunsichert und griff hilfesuchend nach der warmen Hand Kilians. Dieser zog sie nicht zurück, legte stattdessen auch die andere schützend auf ihre Schultern.
„Maya, ich vermute, du bist eine Zeitreisende. Ich habe schon einmal so jemanden kennenglernt, aber diese Frau damals war plötzlich wieder fort. Ich kann dir nicht erklären, wie das passiert, aber es hat einen Sinn, das weiß ich. Wir schreiben den 27. Juli 1714. Glaub mir, du bist nicht zufällig hier bei mir. Ich habe auf dich gewartet.“
Maya empfand bei Kilians Worten eine tiefe Ruhe, fast ein Glücksgefühl. Verwundert stellte sie fest, dass sie ihrem Naturell entsprechend schreiend aufspringen müsste, in Tränen ausbrechen und jeden Versuch unternehmen sollte, dieses Schauspiel hier so schnell wie möglich zu beenden. Stattdessen fühlte sie diese Hochstimmung, diese nicht zu erklärende Erregung. Wie selbstverständlich schmiegte sie sich an Kilians Brust, spürte eine nie gekannte Geborgenheit und stellte fast nebensächlich eine weitere Frage.
„Warum bist du noch hier? Bist du nicht krank?“
Sanft strich er über ihren Rücken. „Nein, ich bin nicht erkrankt. Ich war bis gestern in der Lehre bei einem Medizinmann. Aber dieser ist nun weitergezogen und hat mir sein Erbe hinterlassen. Er meint, ich sei soweit und brauche seinen Unterricht nicht mehr. Morgen in der Frühe werde ich ebenfalls losziehen und meine Aufgaben suchen.“
„Und du hast wirklich auf mich gewartet?“
„Ja, jeden Tag, den ich bewusst erlebt habe. Eine Frau, die zu meinen Vorfahren gehört, hat mir gesagt, dass du eines Tages kommen und mich begleiten wirst.“
Maya erschauerte als sie fragte: „Hat diese Frau weiße Kleider getragen?“ Ein Frösteln überzog ihre Haut, als Kilian bedächtig nickte.
„Wirst du mit mir gehen?“ Seine Frage war leise und sanft und fast nicht zu hören.
Maya dachte an ihr Medizinstudium, an ihre Eltern, an ihr Zuhause, an ihre Zeit und dennoch wusste sie, dass es nur eine Antwort gab.
„Natürlich!“, war alles, was sie sagte.
Kilian breitete eine grobe Decke aus, die ebenso roch, wie er. Danach sicherte er das Feuer, füllte den Becher erneut mit Wasser, legte sich nieder und zog Maya dicht in seine Arme. Diese schmiegte sich an seine Brust, spürte seinen Körper an ihrem Körper, atmete tief seinen Duft ein und wusste, sie hatte alles gefunden, wonach sie nie gesucht hat.

Anzeige in der „Westerwälder Zeitung“
Seit der Nacht vor ihrem 25. Geburtstag, wird die Medizinstudentin Maya Burckhardt aus Montabach vermisst. Zuletzt wurde sie an besagtem Abend des 26.07.2014 in Begleitung einer weißgekleideten Person in unmittelbarer Nähe ihres Elternhauses gesehen.
Sachdienliche Hinweise bitte in der nächstliegenden Polizeistation erbeten.
 
A

aligaga

Gast
Hallo @Fliegengitter,

leider hast du dich bisher ausschließlich um deine eigenen Hervorbringungen gekümmert; die Beiträge anderer sind dir offenbar gleichgültig.

Wenn du Kommentare zu deinen Texten haben möchtest, solltest du ab und zu auch die anderer Teilnehmer würdigen oder kritisieren. Sonst wird's nichts!

Gruß

aligaga
 
Hallo aligaga,
nein - die Werke der anderen sind mir nicht egal und nein - ich versuche mich hier nicht zu profilieren.
Ich bin hier noch nicht lange angemeldet und möchte keine unqualifizierten Kommentare abgeben. Darum bin ich bis jetzt immer noch mit Lesen beschäftigt.
Viele Grüße
Fliegengitter
 
G

Gelöschtes Mitglied 17359

Gast
Hallo Fliegengitter!
Eine verwirrende Geschichte. Märchen? Sience fiction?
Für mich bleiben viele Fragen offen. Die Leichtigkeit, mit der sich Maja mit der absurden Situation abfindet, überzeugt mich nicht so ganz.

Gruß, Hyazinthe
 



 
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