Mein Baum

Seit meiner Kindheit kannte ich den Baum. Von meinem Großvater gepflanzt und liebevoll gepflegt, stand er hinter dem Haus, in einem alten Siedlungsgelände, mitten in der Großstadt. Groß und prächtig war er in den 80 Jahren seines Baumlebens geworden. In jedem Frühjahr war seine Krone so dicht mit weißen Blüten übersät, dass kein Stamm, Ast oder Zweig zu sehen war.

Wenn die Blüte vorbei war und der Wind durch den Wipfel blies, glaubte ich immer wieder, er würde es für mich allein noch einmal schneien lassen. Ich versuchte, die fallenden Blütenblätter zu fangen und war vor Freude ganz ausgelassen. Im Herbst trug er kleine harte Kochbirnen. Da er gut 30 Meter hoch war, konnten sie nicht gepflückt werden. Mit einem lauten Klack fielen sie herab und schlugen auf die Steine. Meine Mutter kochte sie in Zuckeressig ein. Davon konnte ich immer wieder naschen. Zurückdenkend spüre ich diesen köstlichen Geschmack noch auf meiner Zunge.

So vergingen viele Jahre, bis der große schöne Baum anfing, sich zu verändern. Er blühte kaum noch und warf bereits im Sommer sein Laub ab. Er war krank. Ein Baumdoktor wurde geholt. Er untersuchte den Stamm und die herabfallenden Blätter und stellte fest, dass der Baum Birnengitterrost hatte. Das ist ein Pilz, der auf einem Wacholder wächst. Im Frühjahr verteilten sich die Sporen in einem Umkreis von ca. einem Kilometer. Bekämpfen konnte und kann man diesen Schädling nur sehr schwer. Der Wacholder, dem der Pilz übrigens nicht schadet, müsste gefällt werden.

Um den Birnbaum zu retten, hätten alle Grundstücksbesitzer in einem Umkreis von einem Kilometer gebeten werden müssen, ihren Wachholder zu entfernen. Dazu hätte sich kein Nachbar bereit erklärt. Bei kleineren Bäumen ist es möglich, die Krone des Birnbaums mit einem Gegenmittel zu spritzen. Doch wie sollte dies bei einem 30 Meter hohen Baum geschehen? Hätte ich vielleicht Jahr für Jahr einen Hubschrauber bestellen sollen? So konnte nur zusehen, wie er langsam starb. Kahl und trocken streckte er in diesem Jahr seine Äste in den Himmel, es war kein Leben mehr in ihm.

Bei einem heftigen Gewittersturm mit Orkanböen brach ein dicker Ast ab und wirbelte auf das nahe Dach. Er schlug ein gewaltiges Loch in die Pfannen. Da es wie aus Eimern schüttete, waren die Überschwemmung und der Schaden auf dem Dachboden beträchtlich. Es standen dort Kartons, Kisten und ein alter Koffer, vollgepackt mit Erinnerungen. Alte Fotoalben, geliebte Kleider vergangener Jahre und Kinderbücher wurden durchnässt und waren zum Teil nicht mehr zu retten.

Damit war meine Entscheidung gefallen und das Schicksal des Birnbaums besiegelt. Trotzdem, der Entschluss fiel mir schwer. Doch im Herbst könnte der nächste Sturm ihn unkontrolliert fallen lassen. Dann wäre der Schaden am Haus oder auf den Nachbargrundstücken immens. Das ginge eventuell in die zigtausende. Da stand ich nun an seinem Stamm und sprach mit meinem Baum. Noch einmal strich ich über seine vermooste Rinde und bedankte mich bei ihm für die Freude, die er mir so viele Jahre geschenkt hatte.

Bei meiner Suche nach einem nahe wohnenden Baumfäller fand ich Thomas. Wir verabredeten uns. Der Baumfäller Thomas kam und betrachtete mit sorgenvollem Gesicht den Baumriesen. „Das wird nicht einfach“, erklärte er mir. Er ging um den Baum herum und schaute sich die weit ausladenden Äste an. „Der zuerst, der dahin, der muss abgeseilt werden“ murmelte er, während er mit den Armen fuchtelte und kreuz und quer in den Himmel zeigte.

Einige Tage später ging es dann tatsächlich los. Die Leiter wurde ausgefahren und die dicken Äste im Bereich der ersten 10 Meter Höhe fielen leicht. Nun kamen die nächsten 10 Meter. Obwohl der Himmel wolkenverhangen und die Temparaturen eher kühl waren, geriet Thomas ins Schwitzen. Er zog seine graue Jacke aus. Darunter trug er einen dicken gelben Pullover. Er wickelte sich einen Gurt und die Taille und band sich am Stamm fest. Es sah aus, als säße ein großer Kanarienvogel im Baum. Es wurde zunehmend schwieriger, Probleme traten auf, weil die Motorsäge streikte. Thomas musste sich vom Stamm losbinden, von der Leiter steigen, Benzin in die Säge füllen, einen Probelauf starten, wieder rauf auf die Leiter und wieder festbinden. Das war schweißtreibend. Deshalb löste Thomas den Gurt wieder, stieg von der Leiter und zog den dicken gelben Pullover aus. Darunter trug er ein olivfar-benes Hemd.

Erneut kletterte er hinauf in die obere Spitze des Baumes. Die Äste konnten nun aber nicht mehr einfach nur auf den Hof fallen, sie mussten mit einem Tampen umwickelt werden. Unten stand ein Helfer mit dem dicken Tampen in den Händen. Auf Zuruf zog er. Der dicke Ast fiel. Da die Äste nicht alle in eine Richtung wuchsen, wurde die Ziehrichtung immer wieder geändert. So fielen die Äste immer in die gewünschte Richtung. Der Hofplatz war übersät mit Ästen, Sägespänen und trockenem Reisig.

Dann sollte der Stamm Stück für Stück abgetragen werden. Thomas setzte die Säge an. Das Geräusch war fürchterlich. Der Baum fing an zu kreischen als hätte er Schmerzen. Auch Bäume und Pflanzen kennen dies. Das ist durch wissenschaftliche Untersuchungen erwiesen.

Der olivgrüne Thomas im Baum, erkennbar nur als Beule am Stamm, denn er hatte ja fast die Farbe der Rinde, band sich wieder los und kletterte die Leiter hinab. Ich fragte ihn, ob im Stamm noch Leben sei, es hätte sich angehört, als würde der Baum wimmern oder schreien.

„Nein“, sagte Thomas, „mein Sägeblatt ist stumpf. Ich muss ein neues aufziehen. Der Baum ist tot. Er spürt nichts mehr“. Trotz der kühlen Witterung stand ihm der Schweiß auf der Stirn und ich überlegte schon, was er wohl nun noch ausziehen würde und welche Farbe wohl das nächste Hemd hätte. Er zog sich nicht aus, behielt das Olivfarbene an und wischte sich nur mit dem Ärmel den Schweiß aus den Augen. Wieder stieg er auf die Leiter. Er kletterte am Stamm hoch, die Reststücke der gefallenen Äste nutzte er als Trittstufen und band sich fest. Mit beiden Händen schnitt er über seinem Kopf einen Keil aus dem Stamm.

Der Helfer mit dem Tampen in der Hand zog mit aller Kraft, der Stamm wollte nicht fallen. Thomas wollte helfen. Losbinden, am Stamm hinabklettern, die Leiter hinab, umfasste auch er den Tampen und gemeinsam zogen die zwei am Stamm. Das angesägte Stück wollte nicht fallen. Schnell lief ich zum netten Nachbarn von gegenüber. Der kam. Nun zogen sie zu dritt am Tampen. Hau ruck und noch mal auf Kommando. Dann kippte der Stamm fast im Zeitlupentempo. Er fiel und schlug ein großes Loch in die Erde.

Genau an diesem Platz stand an fast allen Tagen immer mein Auto. Nur dieses Mal nicht. Welch ein Gewicht und Kraft steckte noch immer in dem abgestorbenen Birnbaum. Mein Auto hätte der fallende Baumstamm total zermalmt. Es wäre schrottreif gewesen.

Doch der Reststamm, noch etwa drei Meter hoch, widersetzte sich dann allen Sägeversuchen. Ein Keil musste her, um den Stamm am gesägten Schnitt im Holz zu spalten. Zwei gezielte Hiebe mit einem Vorschlaghammer und der Hammerstiel zerbrach. Das Werkzeug taugt heutzutage aber auch rein gar nichts mehr.

Inzwischen kam die Elster, die den Wipfel des Baumes wohl jahrelang als Rastplatz genutzt hatte. Sie setzte sich auf einen der Gartenstühle und beschimpfte uns aus voller Kehle. Tschäck-tschäck-tschäk – Tschäck-tschäck-tschäk. Doch davon wuchs der Baum nicht wieder. So flog sie laut meckernd davon. Ich verstand sie gut, denn auch ich hätte das ehemalige Prachtexemplar von Baum gerne erhalten.

Der Baum aber wehrte sich nicht länger und nun ging alles ganz schnell.

Der restliche Stamm fiel und wurde zerlegt. Die zersägten Baumscheiben in Kaminholzgröße geschnitten, wurden gestapelt und werden im Winter ein schönes wärmendes Feuer geben. Es ist gutes hartes Holz. So wird der Baum mir ein letztes Mal Freude bereiten, wenn er mich wärmt. Im flackernden Schein der Flammen werde ich träumen und meinem Birnbaum nochmals danken.
 



 
Oben Unten