Mein Bruder Karl

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gromski

Mitglied
Mein Bruder Karl

Bevor wir zur Party los sind, hat mein großer Bruder Karl seine Hose verloren. Er wettete gegen Harri, den alle nur Stardust Harri nennen. So ist mein Bruder nämlich. Obwohl er nie Geld hat, wettet er. Meine Mutter glaubt, er meine immer, es besser zu wissen und lasse es drauf ankommen. Dem Stardust Harri hat das natürlich gefallen. Er hat blöd gegrinst, als er sich das Ding über seine eigene Jeans zog. Selber schuld, Karrmann. Jetzt gehste halt nackt. Ich denke mir: Bestimmt hat mein Bruder Karl ihn absichtlich gewinnen lassen. Weil dass der Stardust Harri sich mit den Liedern von David Bowie gut auskennt, das weiß doch jeder Idiot. Mein Bruder Karl scheint einen Plan zu haben. So ist er. Und wie immer finden es später alle ziemlich gut, als er nur in Unterhose auf die Party kommt. Ich darf mit auf die Party und ich finde es auch ziemlich gut. Ich würde mich das niemals trauen.
Mein Bruder Karl ist ziemlich cool. Er hat vier Jahre vor mir Abitur gemacht und sogar eine Weile lang studiert. Aber er ist nicht so langweilig wie ich und hat es bald sein lassen. Im Gang veranstaltet er gleich nach Betreten ein Trara: Ey, Leute. Ist euch kalt oder ist das gar keine Bikini-Party, ruft er. Alle Leute lachen. Sie finden meinen Bruder Karl genau so cool wie ich.
Mein Vater sagt, Karl hätte das Zeug zu einem Wissenschaftler oder zu einem Ingenieur, wenn er sich nur nicht immer so die Nächte um die Ohren schlagen würde. Meine Mutter sagt, aus dem selben Grund, wie mein Bruder Karl immer glaube, es diesmal wirklich besser zu wissen, aus dem selben Grund trinke er auch und lasse es nicht bleiben. In dem Moment, da er das erste Bier in der Hand halte, habe er wohl so die Überzeugung, alles beachtlich im Griff zu haben. Und so ein Bisschen stimmt das vielleicht auch. Die Leute lachen ja immer über die Witze, die er macht oder die Geschichten die er erzählt. Keiner sagt ihm: Ey, Karl. Geh mal nachhause. Morgen hast du doch eine Prüfung. Aber mein Bruder Karl weiß genau, was er tut.
Das sagt auch Christina. Sie ist die Freundin von meinem Bruder Karl. Sie treffen wir auch auf der Party. Wie ich ist sie fürs Wochenende von der Ausbildung nachhause gekommen. Wir finden sie am hinteren Ende der Wohnung, in der Schlauchküche bei dem Tzatziki und dem Tiramisu. Er könne manchmal so nett lächeln, erklärt sie mir später, als wir mit Rücken gegen die Heizung sitzen und Karl im Nachbarraum eine seiner Geschichten erzählt. Da könne man gar nicht anders, als ihm den Spaß zu gönnen. Und er habe ja auch wirklich alles im Griff. Einmal habe er sogar eine Woche lang nichts getrunken. Einfach so. Das habe ihm gar keine Probleme gemacht. Seine wahre Liebe sei ja die Musik und nicht der Alkohol. Ich mag Christina ziemlich gern.
Nachdem Abitur hat mein Bruder Karl erst einen Monat lang in einer Fabrik am Fließband gearbeitet. Danach hat er Chemie studiert. Zuerst Zündkerzen sichtprüfen, hat er mir erzählt. Und dann bei den Prüfungen wie ne Kerze durchzünden. Ein Jahr lang hat er `s ausgehalten im Studium. Hat sogar Schach spielen können auf einem vorgestellten Periodensystem. Mit den Molekülen und so, das hat er auch ziemlich gut gekonnt. Aber dann hat `s ihm nicht mehr gefallen, im Labor zu stehen. Ist ja auch blöd, in so nem Kittel und mit so ner Skifahrer-Brille, hat er gesagt. Tagein tagaus dasselbe. Und hübsche Mädels suchst du in der Chemie auch umsonst. Daran muss ich am Ende des Abends denken, während Christina und ich ihn aus der Tür zu schubsen versuchen.
Christina ist hübsch. Das fand ich schon immer. Sie ist sehr still, und das mag ich gern. Wenn mein Bruder Karl seine Witze erzählt, dann sitzt sie immer still daneben, ein Bein über dem anderen. Für andere verschwindet sie neben meinem Bruder, aber nicht für mich. Oft streicht sie sich die Haare aus dem Gesicht und lächelt nur sehr unsicher, was mir dann auch gut gefällt. Mein Bruder Karl hat mir vor einigen Jahren mitgeteilt, er wisse, dass ich in Christina verliebt sei. Ich habe es abgestritten. Er hat mir dann einige seiner Bekannten vorgestellt. Mit einer habe ich sogar zu schlafen versucht. Aber es hat alles irgendwie nicht so gut geklappt. Ich habe ihn einfach nicht rein bekommen. Sie wollte mir helfen, und da ging das noch schlechter. Du bist süß, hat sie gesagt.
Manchmal lege ich die Kabel, wenn mein Bruder Karl und seine Band irgendwo einen Auftritt haben. Christina ist dann auch immer dabei. Mein Bruder Karl steht mit ihr an der Bar und trinkt ein Mineralwasser und raucht eine Zigarette. Stimm doch noch mal die Gitarre, sagt er zu mir. Christina fragt, ob ich auch etwas trinken mag. Mein Bruder Karl ist über 1,90 groß. Und sie ist sehr klein. Ich trinke auch ein Wasser. Ist das dein kleiner Bruder, fragen die Mädels an der Theke meinen Bruder Karl. Ja, sagt er. Er lernt Kaufmann in Würzburg. Ist sehr klug. Das hat er wohl von unserem Vater geerbt. Der ist ja süß, sagen die Mädels. Ja, sagt mein Bruder Karl. Und klug ist er auch. Er wird bestimmt einmal Geld haben.
Morgen ist Sonntag, versuche ich mich abzulenken, während mein Bruder unten am Fluss herumwürgt und ich mit Christina alleine auf einer Bank warte. Am Sonntag essen wir manchmal bei unserer Mutter. Sie fragt dann immer, ob er jetzt irgendwo arbeitet. Er sagt, dass nein. Aber er suche. Das sei so schwer, dass er nicht einmal richtig zum Gitarre Spielen komme. Christof, sein Schlagzeuger, hat mir gesagt, dass mein Bruder nur mal ein bisschen üben müsste, anstatt bis zwei auszuschlafen und sich abends dann wieder die Birne wegzuballern. Er habe Talent, mache aber nichts draus. Meine Mutter sagt: Such dir doch etwas zum Arbeiten. Dann hast du Geld und kannst deine Musik als Hobby weiter machen. Mein Bruder Karl hat Adorno gelesen, deshalb stößt ihm das Wort Hobby auf.
Einmal habe ich mich mit Christina betrunken. Das war eher aus Zufall. Wir warteten in einer Kneipe. Mein Bruder sollte mit dem Zug kommen, er war in Berlin gewesen, bei Freunden. Dein Bruder Karl sieht sehr gut aus, sagte sie irgendwann. Weißt du das? Das kann schon sein, sagte ich. Kann ich nicht beurteilen. Später rutschten wir nur auf den Stühlen herum, mein Mund war trocken von dem vielen Bier. Er hat vor mir schon andere Freundinnen gehabt, sagte sie. Das kann schon sein, sagte ich wieder. Sie legte mir die Hand auf den Unterarm und lächelte traurig. Ihr seid schon vier Jahre lang zusammen, versuchte ich sie zu beruhigen, das ist doch etwas anderes. Da zuckte sie nur die Achseln und blieb traurig.
Scheiße, ist das kalt, ruft mein Bruder Karl, als wir ihn wieder auf dem Gehweg haben. Und klar. Er hat ja auch keine Hose an. Sei doch leiser, murmelt Christina. Die Leute schlafen.
Mein Bruder Karl hat mich früher mit dem Auto unserer Eltern auf dem Feld fahren lassen. Manchmal durfte ich mit ihm und seinen Freunden Fußball spielen. Wenn ich nach dem Wochenende zum Internat musste, hat er mich manchmal auf den Zug gebracht. Lern du nur schön, sagt er noch heute zu mir. Einmal habe ich mitbekommen, wie er weinte. Ich sollte Christina und ihn zum Essen holen, noch als mein Vater bei uns gewohnt hat. Fast wäre ich durch die Tür gestolpert, aber zum Glück hörte ich es noch rechtzeitig. Ich bin einfach nicht klug genug, wimmerte er. Doch, sagte sie. Für mich bist du genial. Aber er wimmerte weiter.
Wir schubsen ihn ins Bett und decken ihn zu. Danach gehen wir leise in die Küche hinunter. Ich stelle Brot hin und Ziegenkäse. Christina verträgt keine Laktose. Willst du einen Tee, frage ich. Sie schüttelt den Kopf. Leitungswasser? Ja, ein Glas Leitungswasser ist ok. Ob ich denn Tabak hätte. Nein, sage ich. Ich rauche doch nicht. Du bist süß, sagt Christina. Dann ist sie mit den Gedanken woanders. Da steht plötzlich mein Bruder in der Tür. „Das Bett ist ganz nass“, lallt er und blickt hilflos umher. Christina steht auf und nimmt ihn in den Arm. „Komm, ich bezieh es neu.“ Ich bleibe noch eine Weile allein in der Küche sitzen, draußen wird’s langsam wieder Morgen.
Am Abend bringt mein Bruder Karl mich mit dem Auto unserer Mutter auf den Zug. Er ist verkatert und muss viel husten von den Zigaretten. Lern schön, sagt er zu mir, als er sich verabschiedet. Und bockst mich in die Seite. Ich hätte gern, dass er mich umarmt. Aber wir umarmen uns nie. Was machst du unter der Woche, frage ich. Er lächelt. Lern du nur schön, sagt er. Dann fährt er davon.
 

gromski

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Mein Bruder Karl

Bevor wir zur Party los sind, hat mein großer Bruder Karl seine Hose verloren. Er wettete gegen Harri, den alle nur Stardust Harri nennen. So ist mein Bruder nämlich. Obwohl er nie Geld hat, wettet er. Meine Mutter glaubt, er meine immer, es besser zu wissen und lasse es drauf ankommen. Dem Stardust Harri hat das natürlich gefallen. Er hat blöd gegrinst, als er sich das Ding über seine eigene Jeans zog. Selber schuld, Karrmann. Jetzt gehste halt nackt. Ich denke mir: Bestimmt hat mein Bruder Karl ihn absichtlich gewinnen lassen. Weil dass der Stardust Harri sich mit den Liedern von David Bowie gut auskennt, das weiß doch jeder Idiot. Mein Bruder Karl scheint einen Plan zu haben. So ist er. Und wie immer finden es später alle ziemlich gut, als er nur in Unterhose auf die Party kommt. Ich darf mit auf die Party und ich finde es auch ziemlich gut. Ich würde mich das niemals trauen.
Mein Bruder Karl ist ziemlich cool. Er hat vier Jahre vor mir Abitur gemacht und sogar eine Weile lang studiert. Aber er ist nicht so langweilig wie ich und hat es bald sein lassen. Im Gang veranstaltet er gleich nach Betreten ein Trara: Ey, Leute. Ist euch kalt oder ist das gar keine Bikini-Party, ruft er. Alle Leute lachen. Sie finden meinen Bruder Karl genau so cool wie ich.
Mein Vater sagt, Karl hätte das Zeug zu einem Wissenschaftler oder zu einem Ingenieur, wenn er sich nur nicht immer so die Nächte um die Ohren schlagen würde. Meine Mutter sagt, aus dem selben Grund, wie mein Bruder Karl immer glaube, es diesmal wirklich besser zu wissen, aus dem selben Grund trinke er auch und lasse es nicht bleiben. In dem Moment, da er das erste Bier in der Hand halte, habe er wohl so die Überzeugung, alles beachtlich im Griff zu haben. Und so ein Bisschen stimmt das vielleicht auch. Die Leute lachen ja immer über die Witze, die er macht oder die Geschichten die er erzählt. Keiner sagt ihm: Ey, Karl. Geh mal nachhause. Morgen hast du doch eine Prüfung. Aber mein Bruder Karl weiß genau, was er tut.
Das sagt auch Christina. Sie ist die Freundin von meinem Bruder Karl. Sie treffen wir auch auf der Party. Wie ich ist sie fürs Wochenende von der Ausbildung nachhause gekommen. Wir finden sie am hinteren Ende der Wohnung, in der Schlauchküche bei dem Tzatziki und dem Tiramisu. Er könne manchmal so nett lächeln, erklärt sie mir später, als wir mit Rücken gegen die Heizung sitzen und Karl im Nachbarraum eine seiner Geschichten erzählt. Da könne man gar nicht anders, als ihm den Spaß zu gönnen. Und er habe ja auch wirklich alles im Griff. Einmal habe er sogar eine Woche lang nichts getrunken. Einfach so. Das habe ihm gar keine Probleme gemacht. Seine wahre Liebe sei ja die Musik und nicht der Alkohol. Ich mag Christina ziemlich gern.
Nachdem Abitur hat mein Bruder Karl erst einen Monat lang in einer Fabrik am Fließband gearbeitet. Danach hat er Chemie studiert. Zuerst Zündkerzen sichtprüfen, hat er mir erzählt. Und dann bei den Prüfungen wie ne Kerze durchzünden. Ein Jahr lang hat er `s ausgehalten im Studium. Hat sogar Schach spielen können auf einem vorgestellten Periodensystem. Mit den Molekülen und so, das hat er auch ziemlich gut gekonnt. Aber dann hat `s ihm nicht mehr gefallen, im Labor zu stehen. Ist ja auch blöd, in so nem Kittel und mit so ner Skifahrer-Brille, hat er gesagt. Tagein tagaus dasselbe. Und hübsche Mädels suchst du in der Chemie auch umsonst. Daran muss ich am Ende des Abends denken, während Christina und ich ihn aus der Tür zu schubsen versuchen.
Christina ist hübsch. Das fand ich schon immer. Sie ist sehr still, und das mag ich gern. Wenn mein Bruder Karl seine Witze erzählt, dann sitzt sie immer still daneben, ein Bein über dem anderen. Für andere verschwindet sie neben meinem Bruder, aber nicht für mich. Oft streicht sie sich die Haare aus dem Gesicht und lächelt nur sehr unsicher, was mir dann auch gut gefällt. Mein Bruder Karl hat mir vor einigen Jahren mitgeteilt, er wisse, dass ich in Christina verliebt sei. Ich habe es abgestritten. Er hat mir dann einige seiner Bekannten vorgestellt. Mit einer habe ich sogar zu schlafen versucht. Aber es hat alles irgendwie nicht so gut geklappt. Ich habe ihn einfach nicht rein bekommen. Sie wollte mir helfen, und da ging das noch schlechter. Du bist süß, hat sie gesagt.
Manchmal lege ich die Kabel, wenn mein Bruder Karl und seine Band irgendwo einen Auftritt haben. Christina ist dann auch immer dabei. Mein Bruder Karl steht mit ihr an der Bar und trinkt ein Mineralwasser und raucht eine Zigarette. Stimm doch noch mal die Gitarre, sagt er zu mir. Christina fragt, ob ich auch etwas trinken mag. Mein Bruder Karl ist über 1,90 groß. Und sie ist sehr klein. Ich trinke auch ein Wasser. Ist das dein kleiner Bruder, fragen die Mädels an der Theke meinen Bruder Karl. Ja, sagt er. Er lernt Kaufmann in Würzburg. Ist sehr klug. Das hat er wohl von unserem Vater geerbt. Der ist ja süß, sagen die Mädels. Ja, sagt mein Bruder Karl. Und klug ist er auch. Er wird bestimmt einmal Geld haben.
Morgen ist Sonntag, versuche ich mich abzulenken, während mein Bruder unten am Fluss herumwürgt und ich mit Christina alleine auf einer Bank warte. Am Sonntag essen wir manchmal bei unserer Mutter. Sie fragt dann immer, ob er jetzt irgendwo arbeitet. Er sagt, dass nein. Aber er suche. Das sei so schwer, dass er nicht einmal richtig zum Gitarre Spielen komme. Christof, sein Schlagzeuger, hat mir gesagt, dass mein Bruder nur mal ein bisschen üben müsste, anstatt bis zwei auszuschlafen und sich abends dann wieder die Birne wegzuballern. Er habe Talent, mache aber nichts draus. Meine Mutter sagt: Such dir doch etwas zum Arbeiten. Dann hast du Geld und kannst deine Musik als Hobby weiter machen. Mein Bruder Karl hat Adorno gelesen, deshalb stößt ihm das Wort Hobby auf.
Einmal habe ich mich mit Christina betrunken. Das war eher aus Zufall. Wir warteten in einer Kneipe. Mein Bruder sollte mit dem Zug kommen, er war in Berlin gewesen, bei Freunden. Dein Bruder Karl sieht sehr gut aus, sagte sie irgendwann. Weißt du das? Das kann schon sein, sagte ich. Kann ich nicht beurteilen. Später rutschten wir nur auf den Stühlen herum, mein Mund war trocken von dem vielen Bier. Er hat vor mir schon andere Freundinnen gehabt, sagte sie. Das kann schon sein, sagte ich wieder. Sie legte mir die Hand auf den Unterarm und lächelte traurig. Ihr seid schon vier Jahre lang zusammen, versuchte ich sie zu beruhigen, das ist doch etwas anderes. Da zuckte sie nur die Achseln und blieb traurig.
Scheiße, ist das kalt, ruft mein Bruder Karl, als wir ihn wieder auf dem Gehweg haben. Und klar. Er hat ja auch keine Hose an. Sei doch leiser, murmelt Christina. Die Leute schlafen.
Mein Bruder Karl hat mich früher mit dem Auto unserer Eltern auf dem Feld fahren lassen. Manchmal durfte ich mit ihm und seinen Freunden Fußball spielen. Wenn ich nach dem Wochenende zum Internat musste, hat er mich manchmal auf den Zug gebracht. Lern du nur schön, sagt er noch heute zu mir. Einmal habe ich mitbekommen, wie er weinte. Ich sollte Christina und ihn zum Essen holen, noch als mein Vater bei uns gewohnt hat. Fast wäre ich durch die Tür gestolpert, aber zum Glück hörte ich es noch rechtzeitig. Ich bin einfach nicht klug genug, wimmerte er. Doch, sagte sie. Für mich bist du genial. Aber er wimmerte weiter.
Wir schubsen ihn ins Bett und decken ihn zu. Danach gehen wir leise in die Küche hinunter. Ich stelle Brot hin und Ziegenkäse. Christina verträgt keine Laktose. Willst du einen Tee, frage ich. Sie schüttelt den Kopf. Leitungswasser? Ja, ein Glas Leitungswasser ist ok. Ob ich denn Tabak hätte. Nein, sage ich. Ich rauche doch nicht. Du bist süß, sagt Christina. Dann ist sie mit den Gedanken woanders. Da steht plötzlich mein Bruder in der Tür. „Das Bett ist ganz nass“, lallt er und blickt hilflos umher. Christina steht auf und nimmt ihn in den Arm. „Komm, ich bezieh es neu.“ Ich bleibe noch eine Weile allein in der Küche sitzen, draußen wird’s langsam wieder Morgen.
Am Abend bringt mein Bruder Karl mich mit dem Auto unserer Mutter auf den Zug. Er ist verkatert und muss viel husten von den Zigaretten. Lern schön, sagt er zu mir, als er sich verabschiedet. Und bockst mich in die Seite. Ich hätte gern, dass er mich umarmt. Aber wir umarmen uns nie. Was machst du unter der Woche, frage ich. Er lächelt. Lern du nur schön, sagt er. Dann fährt er davon.
 

gromski

Mitglied
Mein Bruder Karl

Bevor wir zur Party los sind, hat mein großer Bruder Karl seine Hose verloren. Er wettete gegen Harri, den alle nur Stardust Harri nennen. So ist mein Bruder nämlich. Obwohl er nie Geld hat, wettet er. Meine Mutter sagt, er lasse es immer drauf ankommen. Dem Stardust Harri hat das natürlich gefallen. Er hat blöd gegrinst, als er sich das Ding über seine eigene Jeans zog. Selber schuld, Karrmann. Jetzt gehste halt nackt. Ich denke mir: Bestimmt hat mein Bruder Karl ihn absichtlich gewinnen lassen. Weil dass der Stardust Harri sich mit den Liedern von David Bowie gut auskennt, das weiß doch jeder Idiot. Mein Bruder Karl scheint einen Plan zu haben. So ist er. Und wie immer finden es später alle ziemlich gut, als er nur in Unterhose auf die Party kommt. Ich darf mit auf die Party und ich finde es auch ziemlich gut. Ich würde mich das niemals trauen.
Mein Bruder Karl ist ziemlich cool. Er hat vier Jahre vor mir Abitur gemacht und sogar eine Weile lang studiert. Aber er ist nicht so langweilig wie ich und hat es bald sein lassen. Im Gang veranstaltet er gleich nach Betreten ein Trara: Ey, Leute. Ist euch kalt oder ist das gar keine Bikini-Party, ruft er. Alle Leute lachen. Sie finden meinen Bruder Karl genau so cool wie ich.
Mein Vater sagt, Karl hätte das Zeug zu einem Wissenschaftler oder zu einem Ingenieur, wenn er sich nur nicht immer so die Nächte um die Ohren schlagen würde. Meine Mutter sagt, aus dem selben Grund, wie mein Bruder Karl immer glaube, es diesmal wirklich besser zu wissen, aus dem selben Grund trinke er auch und lasse es nicht bleiben. In dem Moment, da er das erste Bier in der Hand halte, habe er wohl so die Überzeugung, alles beachtlich im Griff zu haben. Und so ein Bisschen stimmt das vielleicht auch. Die Leute lachen ja immer über die Witze, die er macht oder die Geschichten die er erzählt. Keiner sagt ihm: Ey, Karl. Geh mal nachhause. Morgen hast du doch eine Prüfung. Aber mein Bruder Karl weiß genau, was er tut.
Das sagt auch Christina. Sie ist die Freundin von meinem Bruder Karl. Sie treffen wir auch auf der Party. Wie ich ist sie fürs Wochenende von der Ausbildung nachhause gekommen. Wir finden sie am hinteren Ende der Wohnung, in der Schlauchküche bei dem Tzatziki und dem Tiramisu. Er könne manchmal so nett lächeln, erklärt sie mir später, als wir mit Rücken gegen die Heizung sitzen und Karl im Nachbarraum eine seiner Geschichten erzählt. Da könne man gar nicht anders, als ihm den Spaß zu gönnen. Und er habe ja auch wirklich alles im Griff. Einmal habe er sogar eine Woche lang nichts getrunken. Einfach so. Das habe ihm gar keine Probleme gemacht. Seine wahre Liebe sei ja die Musik und nicht der Alkohol. Ich mag Christina ziemlich gern.
Nachdem Abitur hat mein Bruder Karl erst einen Monat lang in einer Fabrik am Fließband gearbeitet. Danach hat er Chemie studiert. Zuerst Zündkerzen sichtprüfen, hat er mir erzählt. Und dann bei den Prüfungen wie ne Kerze durchzünden. Ein Jahr lang hat er `s ausgehalten im Studium. Hat sogar Schach spielen können auf einem vorgestellten Periodensystem. Mit den Molekülen und so, das hat er auch ziemlich gut gekonnt. Aber dann hat `s ihm nicht mehr gefallen, im Labor zu stehen. Ist ja auch blöd, in so nem Kittel und mit so ner Skifahrer-Brille, hat er gesagt. Tagein tagaus dasselbe. Und hübsche Mädels suchst du in der Chemie auch umsonst. Daran muss ich am Ende des Abends denken, während Christina und ich ihn aus der Tür zu schubsen versuchen.
Christina ist hübsch. Das fand ich schon immer. Sie ist sehr still, und das mag ich gern. Wenn mein Bruder Karl seine Witze erzählt, dann sitzt sie immer still daneben, ein Bein über dem anderen. Für andere verschwindet sie neben meinem Bruder, aber nicht für mich. Oft streicht sie sich die Haare aus dem Gesicht und lächelt nur sehr unsicher, was mir dann auch gut gefällt. Mein Bruder Karl hat mir vor einigen Jahren mitgeteilt, er wisse, dass ich in Christina verliebt sei. Ich habe es abgestritten. Er hat mir dann einige seiner Bekannten vorgestellt. Mit einer habe ich sogar zu schlafen versucht. Aber es hat alles irgendwie nicht so gut geklappt. Ich habe ihn einfach nicht rein bekommen. Sie wollte mir helfen, und da ging das noch schlechter. Du bist süß, hat sie gesagt.
Manchmal lege ich die Kabel, wenn mein Bruder Karl und seine Band irgendwo einen Auftritt haben. Christina ist dann auch immer dabei. Mein Bruder Karl steht mit ihr an der Bar und trinkt ein Mineralwasser und raucht eine Zigarette. Stimm doch noch mal die Gitarre, sagt er zu mir. Christina fragt, ob ich auch etwas trinken mag. Mein Bruder Karl ist über 1,90 groß. Und sie ist sehr klein. Ich trinke auch ein Wasser. Ist das dein kleiner Bruder, fragen die Mädels an der Theke meinen Bruder Karl. Ja, sagt er. Er lernt Kaufmann in Würzburg. Ist sehr klug. Das hat er wohl von unserem Vater geerbt. Der ist ja süß, sagen die Mädels. Ja, sagt mein Bruder Karl. Und klug ist er auch. Er wird bestimmt einmal Geld haben.
Morgen ist Sonntag, versuche ich mich abzulenken, während mein Bruder unten am Fluss herumwürgt und ich mit Christina alleine auf einer Bank warte. Am Sonntag essen wir manchmal bei unserer Mutter. Sie fragt dann immer, ob er jetzt irgendwo arbeitet. Er sagt, dass nein. Aber er suche. Das sei so schwer, dass er nicht einmal richtig zum Gitarre Spielen komme. Christof, sein Schlagzeuger, hat mir gesagt, dass mein Bruder nur mal ein bisschen üben müsste, anstatt bis zwei auszuschlafen und sich abends dann wieder die Birne wegzuballern. Er habe Talent, mache aber nichts draus. Meine Mutter sagt: Such dir doch etwas zum Arbeiten. Dann hast du Geld und kannst deine Musik als Hobby weiter machen. Mein Bruder Karl hat Adorno gelesen, deshalb stößt ihm das Wort Hobby auf.
Einmal habe ich mich mit Christina betrunken. Das war eher aus Zufall. Wir warteten in einer Kneipe. Mein Bruder sollte mit dem Zug kommen, er war in Berlin gewesen, bei Freunden. Dein Bruder Karl sieht sehr gut aus, sagte sie irgendwann. Weißt du das? Das kann schon sein, sagte ich. Kann ich nicht beurteilen. Später rutschten wir nur auf den Stühlen herum, mein Mund war trocken von dem vielen Bier. Er hat vor mir schon andere Freundinnen gehabt, sagte sie. Das kann schon sein, sagte ich wieder. Sie legte mir die Hand auf den Unterarm und lächelte traurig. Ihr seid schon vier Jahre lang zusammen, versuchte ich sie zu beruhigen, das ist doch etwas anderes. Da zuckte sie nur die Achseln und blieb traurig.
Scheiße, ist das kalt, ruft mein Bruder Karl, als wir ihn wieder auf dem Gehweg haben. Und klar. Er hat ja auch keine Hose an. Sei doch leiser, murmelt Christina. Die Leute schlafen.
Mein Bruder Karl hat mich früher mit dem Auto unserer Eltern auf dem Feld fahren lassen. Manchmal durfte ich mit ihm und seinen Freunden Fußball spielen. Wenn ich nach dem Wochenende zum Internat musste, hat er mich manchmal auf den Zug gebracht. Lern du nur schön, sagt er noch heute zu mir. Einmal habe ich mitbekommen, wie er weinte. Ich sollte Christina und ihn zum Essen holen, noch als mein Vater bei uns gewohnt hat. Fast wäre ich durch die Tür gestolpert, aber zum Glück hörte ich es noch rechtzeitig. Ich bin einfach nicht klug genug, wimmerte er. Doch, sagte sie. Für mich bist du genial. Aber er wimmerte weiter.
Wir schubsen ihn ins Bett und decken ihn zu. Danach gehen wir leise in die Küche hinunter. Ich stelle Brot hin und Ziegenkäse. Christina verträgt keine Laktose. Willst du einen Tee, frage ich. Sie schüttelt den Kopf. Leitungswasser? Ja, ein Glas Leitungswasser ist ok. Ob ich denn Tabak hätte. Nein, sage ich. Ich rauche doch nicht. Du bist süß, sagt Christina. Dann ist sie mit den Gedanken woanders. Da steht plötzlich mein Bruder in der Tür. „Das Bett ist ganz nass“, lallt er und blickt hilflos umher. Christina steht auf und nimmt ihn in den Arm. „Komm, ich bezieh es neu.“ Ich bleibe noch eine Weile allein in der Küche sitzen, draußen wird’s langsam wieder Morgen.
Am Abend bringt mein Bruder Karl mich mit dem Auto unserer Mutter auf den Zug. Er ist verkatert und muss viel husten von den Zigaretten. Lern schön, sagt er zu mir, als er sich verabschiedet. Und bockst mich in die Seite. Ich hätte gern, dass er mich umarmt. Aber wir umarmen uns nie. Was machst du unter der Woche, frage ich. Er lächelt. Lern du nur schön, sagt er. Dann fährt er davon.
 

petrasmiles

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Hallo Gromski,

normalerweise mag ich diese ruhigen, an Tatsachenberichte erinnernden Geschichten und Du schreibst auch sehr gut.

Aber mir fehlt hier irgendwas.
In dieser Länge und Ausführlichkeit würde ich eine Pointe erwarten, die dem Text Struktur gibt, oder aber der Text müsste verdichteter sein, um ein Schlaglicht auf eine bestimmte Konstellation zu werfen, die dann so ohne Höhepunkt stehen bleiben kann.

Wenn dies ein Stück aus einem Roman wäre, in dem es ein Davor und ein Danach gibt, dann hätte ich nix zu meckern.

Liebe Grüße
Petra
 



 
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