Mein Name ist Nobody

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blaustrumpf

Mitglied
Mein Name ist Nobody


Wie der Westernheld kam ich eines Tages aus dem Nirgendwo. Aber über mich wird kein Film gedreht, keine Lieder singen meine Geschichte, in Romanen hinterlasse ich nur die Abdrücke meiner Finger. Mein Name ist Nobody.

Ich bin unsichtbar. Ich gehöre zu denen, die die Straßen füllen, die das Bild beleben, die die Menge ausmachen, in deren Mitte dir eine Einzige auffällt. Ich bin nicht die Einzige. Ich bin eine von vielen. Ich bin die, die dir den Platz im Bus oder der U-Bahn wegnimmt, die dich mit ihrem Gepäck anrempelt. Und nur dann falle ich dir auf, für einen Augenblick. Ich trinke zuviel, ich esse das Falsche, ich bin zu laut und bin nicht zu hören.

Aus der Abgeschiedenheit der Provinz zog ich in die Einsamkeit der Stadt. Ich bin in der Menge, die den Frauenschwof zu dem macht, was er ist. Ich fülle die Vernissage, die Lesung, die Party. Du siehst mich und nimmst mich gleichzeitig nicht wahr. Du schaust dich suchend um, deine Augen gleiten über mich, aber sie schweifen rastlos weiter, während mein Blick in atemloser Hast dem deinen nacheilt und dich doch nicht erreicht.

Ich entspreche keinem der üblichen Schönheitsideale. Ich bin nicht mehr jung, meine grauen Haare werden täglich mehr. Ich kleide mich mit mehr Rücksicht auf meine Bequemlichkeit als auf meinen Wunsch wahrgenommen zu werden. Mein Lächeln ist harmlos, unbeschwert, dass meine Zähne schief stehen. Ich bin nicht die, auf die du gewartet hast. Ich bin nicht die, die du suchst. Du siehst mich nicht, wenn du die bist, die ich suche.

Mich gibt es tausendfach. Wie alle bin ich einzig. Und aus uns vielen Farbtupfern macht dein Auge, das schon soviel gesehen hat, ein großes Grau. Dein Blick gleitet über mich, an mir vorbei auf seiner Suche. Das ist kein Vorwurf. Auch meine Augen würden nicht lange auf mir verweilen, und wenn, dann nur, weil sie, müde geworden, nach innen blicken, meinen Geist begleiten, der im Geschauten einen Ruhepunkt sucht.

Ich kenne das. Ich kenne dich. Du schaust so lange ins Nichts, bis ich, entzückt, endlich Aufmerksamkeit geweckt zu haben, eine Geste mache, die dich aus der Träumerei erneut zur Jagd ruft. Ich bin nicht die Beute. Ich bin der Wald.
 
M

Mara K.

Gast
hallo blaustrumpf,

du beschreibst hier eine kleine graue maus, welche glaubt nicht wichtig zu sein. jeder mensch ist einzigartig, jeder mensch hat seine strahlenden seiten und seine goldigen inneren werte. du schreibst du bist der wald. tja, was wäre ein jäger ohne wald !? ist es denn so toll, immer beute zu sein ? ich möchte nicht wissen, wieviele von den bizarren kunterbunten beutetieren sich manchmal danach sehnen einfach nur graue maus zu sein.
müssen wir alle in der größe 38 etc. leben um akzeptiert zu werden ? okay, größe 60 hat nur noch wenig reize, von der form her, aber auch eine lady in der größe 60 lebend kann ein so glockenhelles mitreißendes lachen und strahlende augen, gesichtszüge voller liebreiz ihr eigen nennen, dass sich manch ein schlankes beutetier davon eine scheibe abschneiden könnte.
erst neulich wurde mir versichert ( nenne auch rubenshüften mein eigen ;) )... dass mancher mitmensch sich nicht unbedingt gern an gertenschlank kuschelt.
möchte niemandem zu nahe treten bittschön.

abschließend, ... es wird ein mensch beschrieben mit ecken und kanten und das gefällt mir.

eine frage zu dem satz: ' Mein Lachen ist harmlos, unbeschwert, dass meine Zähne schief stehen ...'
ich habe das gefühl, nach stehen fehlt noch was, so in der richtung "...stehen, ist nicht verwunderlich." ...
kann mich auch irren.

habe es gern gelesen und es macht mich nachdenklich.
danke sehr. herzlich Mara K.
 

blaustrumpf

Mitglied
Hallo, Mara K.

Herzlichen Dank, dass du dich so mit diesem kleinen Text beschäftigt hast. "Das Lächeln ist unbeschwert, obwohl die Zähne schief stehen", wäre eindeutiger. Aber leider wollte ich das nicht schreiben. "Unbeschwert ob der Tatsache, dass..." war mir zu gestelzt, die Verkürzung sorgte dann wohl für die Uneindeutigkeit.

Meine Protagonistin bedankt sich übrigens sehr für das Mitgefühl. Natürlich glaubt sie nicht von sich selbst, dass sie eine graue Maus ist. Sie empfindet nur, dass sie so erlebt wird. Hätte sie Kleidergröße 60, wäre sie tatsächlich auffallend, der Typ "Erdmutter" ist auch auf Frauenfesten mittlerweile eher selten geworden.

Mal schauen, vielleicht schicke ich sie in einem anderen Text in eine Umgebung, in der sie - eventuell sogar positiv - auffallen wird. Ich fürchte nur, dass diese Protagonistin dann zu den Ersten gehören wird, die "Wolf" rufen. Aber wer weiß, wo es mich morgen wohl hinschreibt.

Schöne Grüße von blaustrumpf
 
K

Klaus Ant

Gast
Liebe blaustrumpf,

mit soviel verve vorgetragene Minderwertigkeit ist nur noch kokett und verdient zur Königin der Metaphern gewählt zu werden. Anstatt von Terence Hill, wünschte ich Du würdest in Deine Tirade von Odysseus einführen lassen, der für die Literatur zweifelsohne den größeren Nobody gegeben hat und Deinem Text noch mehr Möglichkeiten geben würde: dann wären die, die auf Deinen Niemand schauen, Zyklopen und damit schwerstbehindert, was Deinem Protagonisten u.U. ein Trost sein könnte und Anlaß auf alles zu scheißen, was von diesen Krüppeln abgesondert wird.
Aber die Geschichte wolltest Du gar nicht schreiben oder?

Klaus
 

blaustrumpf

Mitglied
Hallo, Klaus Ant

Danke, dass du dich mit diesem Text beschäftigt hast, der ja nach der Leselupen-eigenen Halbwertzeit schon nicht mehr so ganz taufrisch ist.

Wie allerdings ein Protagonist auf einen Frauenschwof geraten könnte, da bedarf es in meinen Augen einer gewissen erklärenden Untermauerung. Dieser Text erzählt von einer Frau. Woran liegt es, dass dies für dich nicht so offensichtlich war?

Die Ausgangslage bei Terence Hill und nicht bei Odysseus zu "verorten", geschah allerdings mit Absicht. Es geht unter anderem auch um die Oberflächlichkeit der Vergnügungen. Da denke ich, dass der Spaßwestern mit ein paar stilisierten Ballereien die naheliegendere Assoziation ist als ein Sagenheld, der aus den blutigen Schlachten nicht mehr heim findet.

Die, bei denen die Protagonistin nicht den ersehnten Anklang findet, durch körperliche Unerfreulichkeiten zu entstellen, ist eine interessante Anregung. Aber du hast Recht: Ich erzähle nicht die Fabel von den sauren Trauben neu, sondern lasse ein so genanntes Mauerblümchen berichten.

Dankeschön, dass du ihr durch diesen Text hindurch deine Aufmerksamkeit gewidmet hast!

Schöne Grüße von blaustrumpf
 
K

Klaus Ant

Gast
Verehrter Blaustrumpf,

wie kommst Du darauf, daß ich Deinen Hauptdarsteller für einen Mann halten könnte?
Wo in Deinem Text geht es um oberflächliche Vergnügungen?

Ich lese von einer selbstbewußten Frau, die ihr Selbstvertrauen aus der Erkenntnis ihrer eigenen Durchschnittlichkeit bezieht. Durchschnittlichkeit als Normalität als geistige Gesundheit.
Wie komme ich auf diese Folge? - Aufgrund der in meinem ersten Kommentar bereits erwähnten verve des Vortrags. Sie rempelt mich an, sie nimmt mir den Platz weg, sie is(s)t zu laut - alles Aussagen, die sie nur aufgrund von Beobachtung des eigenen Agierens in der Welt treffen kann.
Wenn sie das alles erkannt hat, ist sie auch in der Lage mich wahrzunehmen, den sie des öfteren direkt anspricht "Du", "Dich". Wenn sie sowohl mich als auch sich selber wahrnehmen kann, kann sie auch entscheiden ob sie auffallen möchte oder nicht.
Der Niemand des Homer will nicht auffallen und blendet den Zyklopen.
Wenn Deine Figur auffallen wollte, könnte sie das, und (deswegen mußte ich an Homer denken) sie würde ihr Gegenüber auch 'blenden', wie man übertragen zu 'beeindrucken' sagt, aber eben aus genau
entgegengesetztem Motiv wie Odysseus.
Da sie sich frei entscheidet, sagen wir für das Understatement, könntest Du ihr und dem Leser z.B. den
Spass erlauben, die blinden, triebgesteuerten Gestalten um sie herum als Zyklopen wahrzunehmen.
Diese Vorstellung schoß mir während der Lektüre spontan durch den Kopf.
Dein Hauptdarsteller hat es zweifellos nicht nötig auf die Früchte von Herrn La Fontaine zu verzichten.

Grüße, Klaus

P.S.: Wo kommst Du her? Im Rheinischen schreibt man Schwoof mit zwei 'o'.
 

blaustrumpf

Mitglied
Hallo, Klaus Ant

Jaja, das Problem mit dem Genus und dem Sexus. Vielleicht dachte ich zu schlicht, als ich aus "...was Deinem Protagonisten u.U. ein Trost sein könnte", schloss, dass du von einem Mann redetest. Ich hoffe, du nimmst mein Wort dafür, wenn ich dir aus eigener Erfahrung versichere, dass ein Frauenschwof ein ebenso oberflächliches Vergnügen sein kann wie eine Party, ja selbst wie Lesungen oder Ausstellungseröffnungen.

Das faszinierende Problem der unterschiedlichen Blinkwinkel durchzieht unserer Textrezeptionen. In meinen Augen schildert die Protagonistin lediglich Momente, in denen sie das Gefühl hat, wahrgenommen zu werden. Es geht ihr mitnichten um die Frage, ob sie auffallen möchte. Deine Zeile "...ist sie auch in der Lage mich wahrzunehmen, den sie des öfteren direkt anspricht", gibt mir zwiespältige Gefühle. Natürlich ist das schön, wenn sich der Eindruck ergibt, eine Protagonistin spräche direkt aus dem Text zur lesenden Person. Aber es ist für mich völlig eindeutig, dass sie zu einer Frau spricht, die selbst allenfalls als imaginierte Leserin einer imaginären Erzählerin auftritt.

Dein Exkurs über Odysseus und Triebsteuerung in allen Ehren, aber wieso bestehst du auch im Schlusssatz immer noch darauf, dass es mein "Hauptdarsteller" sein muss. Es ist und bleibt eine Hauptdarstellerin. Und sie spricht zu einer Frau. Zu einer lesbischen Frau. Ob sich Leser von der (ebenfalls lesbischen) Hauptdarstellerin direkt angesprochen fühlen oder nicht, ist ein interessantes Gedankenspiel. Es hätte mich allerdings gefreut, wenn - gleichgültig, ob oder in welchem Maße es bei dir dieses Angesprochensein-Fühlen gibt - du der Protagonistin die Höflichkeit erwiesen hättest, wenn du schon von ihr sprichst, ihr ihre Identität als Frau zu belassen.

Schöne Grüße von blaustrumpf

P. S.: In Sachen Schwo(o)f - es gibt beide Schreibweisen. Auch im Rheinischen. ;)
 

Wendla

Mitglied
Hallo Blaustrumpf!

ich habe deinen Text mit grossem Interesse gelesen! Sehr eindrucksvoll, wie du das Gefühl beschreibst, dass mich jeden Morgen im Bus so beschleicht! Die Leute stehen dicht gedrängt, es gibt keine Individuen, alle sind nur irgendwie da. Ein beruhigendes Gefühl - manchmal - ab und zu doch eher beängstigend... . Zum Glück ist niemand nur Wald, sondern immer auch Beute!
Wendla
 
M

Miriam

Gast
Hi,

ich gebe Mara K. vollkommen recht. Nicht immer ist eine tolle aeussere Erscheinung ausschlaggebend. Es kommt sehr wohl auf die inneren Werte eines jeden Menschen an. Auch, wenn das jetzt vielleicht abgedroschen klingen mag.

Manchmal ist es sogar gut, "nur" eine graue Maus zu sein. Was wuerden Beruehmtheiten darum geben.:)

Die Hauptsache ist doch, dass man sich nicht selbst als graue Maus oder Nobody sieht. Einiges an Selbstbewusstsein sollte schon da sein.

Gruss
 

strumpfkuh

Mitglied
Liebe Blaustrumpf,
dein Text regt zum Nachdenken an. Ob Frau oder Mann, ob Homo- oder Heterosexueller, warum fällt ein Mensch einem anderen auf? Unter anderen Bedingungen oder einfach nur an einem anderen Tag würde der gleiche Mensch für diesen anderen vielleicht auch nur ein Nobody sein, wer weiß? Sicher ist jeder einzigartig, aber genauso ist jeder ein Nobody! Ist es nicht so? Manchesmal ist man schließlich ganz froh darum, in der Masse verschwinden zu können. Ein anderes Mal legt man ein Balzverhalten an den Tag, dass jeder Gockel neidig werden würde, nur um einem anderem aufzufallen. Tja, und oft sind mir tatsächlich diejenigen sympathischer, die erst auf den zweiten Blick aus der grauen Masse hervorstechen.
LG
Doro
 

wondering

Mitglied
Hallo blaustrumpf,

auffällig ist..
eine sehr sensible Beobachtungsgabe...
und vor allem damit schreibt man so tolle Texte...voilá

wie so oft begeistert von Sprache und Inhalt

wondering
 
S

Sandra

Gast
Irgendwie kann ich die Leute verstehen, die sagen: Hey in jedem steckt etwas Besonderes und die inneren Werte zählen..., aber - sein wir doch bitte ehrlich - das ist einfach nicht wahr!
Wir reden uns das ein, damit auch wir an etwas Besonderem in uns glauben können und vielleicht oder mit Sicherheit gibt es da einen Farbtupfer, der uns von dem Anderen unterscheidet, aber glücklich sind die, die jemanden haben, den es überhaupt interessiert. Für die meisten Menschen auf dieser Welt sind wir Nobodys in den Augen von Nobodys - das ist nicht schön, aber das Leben.

Ein klasse Text mit einer ehrlichen Sprache und einem beobachtenden Geist, der diese Geschichte schrieb.

Sandra
 
P

Papyrus

Gast
.................

Danke Sandra für deinen kommentar,
dass du so schön polarisierst oder wie man das nennt.

und blaustrumpf, auch dir dank.

in "Elisa" sagte einst Vanessa Paradis:

"Ich verletze immer die Menschen, die es am wenigsten verdienen. Klar, weil es die einzigen sind, die sich für mich interessieren."

Die Leute, die wissen, das wir da sind, sind die einzigen, die für uns existieren. Wen sollte man da sonst verletzen oder ehren?

Blaustrumpf, du beschreibst das "Suchen" sehr gut,
dieses sinnlose Streben nach Liebe, Zärtlichkeit,
als ob einer (Beute) es weniger verdiente als ein anderer,
beobachtet zu werden.

Alles ist wert geliebt zu werden,
sonst wäre es nicht da.

tiere sind wir
oder überhaupt Kinder immerdar
 

Echoloch

Mitglied
Ich persönlich ...

... lese Texte (insbesondere experimentelle) immer als Momentaufnahme, ich glaube eher an die Aspekte in jedem von uns als an Wahrheiten oder Gerechtigkeiten. In diesem Fall erkenne ich in der Tat (schließe mich da Wondering an) ein sehr sensibel beschriebenes Gefühl, das meiner Ansicht nach die meisten von uns manchmal ereilt. Es gibt nur wenige Menschen, die so offensichtlich ins Auge fallen, dass sie sich immer beobachtet fühlen. Ein Großteil der anderen kennt glaube ich diese gelegentliche Einsamkeit, in der man sich übersehen, nicht wahrgenommen, gar nicht existent fühlt. Nur wenige (so hoffe ich), sind dauerhaft von diesem Gefühl ergriffen (nun fange ich doch an mit den Lebens-Schemata ...).
Will sagen: Ich finde den Text sehr schön & flüssig, dieses eine Gefühl ist perfekt dargestellt, und nur an wenigen Stellen störte mich etwas. Ich finde es wunderbar, dass der Text nicht den Anspruch erhebt, von dieser Stimmung ausgehend eine weiterführende Geschichte zu erzählen, denn so wird die Empfindung besser transportiert.

Die berühmten Details:
Besonders schön finde ich: "Aus der Abgeschiedenheit der Provinz zog ich in die Einsamkeit der Stadt." und die beiden letzten Sätze.
Etwas unglücklich bin ich über die singenden Lieder. Lieder singen einfach nicht. Aber das hast Du wohl bewusst so geschrieben?
Über den bereits bemängelten Satz "Mein Lächeln ist harmlos, unbeschwert, dass meine Zähne schief stehen." bin ich auch gestolpert. Vielleicht fällt Dir doch noch etwas sprachlich Schöneres ein?
Wirklich störend fand ich den Satz: "Das ist kein Vorwurf." Dieser unterbrach als Einziger den Fluss. Hier wurde die Gefühlsbeschreibung plötzlich auf eine argumentative Ebene gehievt, die ihr meiner Ansicht nach nicht gut steht.

Nun schöne Grüße für eine Woche voller Aufmerksamkeiten von Echoloch
 

visco

Mitglied
Hallo blaustrumpf,

mein Kompliment. Mit »Mein Name ist Nobody« ist Dir ein feinfühliger Text mit starker Wirkung gelungen! Der lakonische Tonfall, die stimmigen Bilder und die treffenden, nüchternen Beschreibungen, das alles fügt sich nahtlos zu einem schlüssigen Machwerk zusammen, das einfach überzeugt und trotz weniger Worte einen tiefen Einblick in die Gefühlswelt Deiner Protagonistin gewährt.

An der sprachlichen Umsetzung ist grundsätzlich nichts auszusetzen. Ich würde Dir gerne nur ein paar Vorschläge machen:

Mein Name ist Nobody


Wie der [gleichnamige / oder "Wie ein"] Westernheld kam ich eines Tages aus dem Nirgendwo. Aber über mich wird kein Film gedreht, keine Lieder [strike]singen[/strike] erzählen meine Geschichte [oder: "keine Lieder werden über mich gesungen"], in Romanen hinterlasse ich nur die Abdrücke meiner Finger. Mein Name ist Nobody.

Ich bin unsichtbar. Ich gehöre zu denen, die die Straßen füllen, die das Bild beleben, die die Menge ausmachen, in deren Mitte dir eine Einzige auffällt. Ich bin nicht diese Einzige. Ich bin eine von vielen. Ich bin die, die dir den Platz im Bus oder der U-Bahn wegnimmt, die dich mit ihrem Gepäck anrempelt. Und nur dann falle ich dir auf, [nur] für einen Augenblick. Ich trinke zuviel, ich esse das Falsche, ich bin zu laut und [strike]bin[/strike] doch nicht zu hören.

Aus der Abgeschiedenheit der Provinz zog ich in die Einsamkeit der Stadt. Ich bin in der Menge, die den Frauenschwof zu dem macht, was er ist. Ich fülle die Vernissage, die Lesung, die Party. Du siehst mich [strike]und nimmst mich gleichzeitig nicht wahr[/strike] , ohne mich wahrzunehmen. Du schaust dich suchend um, deine Augen [strike]gleiten[/strike] schweifen über mich [hinweg], [strike]aber sie schweifen rastlos weiter,[/strike] während mein Blick in atemloser Hast dem deinen nacheilt und dich doch nicht erreicht.

Ich entspreche keinem der üblichen Schönheitsideale. Ich bin nicht mehr jung, meine grauen Haare werden täglich mehr. Ich kleide mich mit mehr Rücksicht auf meine Bequemlichkeit als auf [strike]meinen Wunsch wahrgenommen zu werden[/strike] Chic [oder: "Bei meiner Kleidung achte ich weniger auf die Optik. Sie muss bequem sein."]. Mein Lächeln ist harmlos, [trotz schiefer Zähne] unbeschwert[strike], dass meine Zähne schief stehen[/strike]. Ich bin nicht die, auf die du gewartet hast. Ich bin nicht die, die du suchst. Du siehst mich nicht, wenn du die bist, die ich suche. [oder: "Und wenn du die bist, die ich suche, dann siehst du mich nicht."]

Mich gibt es tausendfach. Wie alle bin ich einzig. Und aus uns vielen Farbtupfern macht dein Auge, das schon soviel gesehen hat, ein großes Grau. Dein Blick gleitet über mich [hinweg], an mir vorbei auf seiner Suche. [strike]Das ist kein Vorwurf.[/strike] Auch meine Augen würden nicht lange auf mir verweilen, und wenn, dann nur, weil sie, müde geworden, nach innen blicken, meinen Geist begleiten, der im Geschauten einen Ruhepunkt sucht.

Ich kenne das. Ich kenne dich. Du schaust so lange ins Nichts, bis ich, entzückt, endlich Aufmerksamkeit geweckt zu haben, eine Geste mache, die dich aus der Träumerei erneut zur Jagd ruft. Ich bin nicht die Beute. Ich bin der Wald.
Die letzten beiden Sätze sind der Hammer! Ehrlich. Superklasse!

Warum hast Du den Text eigentlich unter "Experimentelles" eingestellt? Hat das einen bestimmten Grund?

Lieben Gruß,
[ 6]visco
 

george

Mitglied
Dieser Text gehört zum Besten, was ich seit Langem hier las. Ohne Pathos, lakonisch, subtil in der Sprache, wahrhaftig wie ein Dokumentarfilm in Schwarz/Weiß, mitleidslos, pragmatisch in der Aussage.

Die letzten beiden Sätze sind genial.
Gruß
Jürgen
 

KESCH

Mitglied
Hallo, blaustrumpf!

Das gefällt mir! Das ist fast so gut wie perfekt! Ein wahrer Spiegel für "Otto Normalverbraucher" in alltäglicher Umgebung. Schätze, so fühlen sich die meisten, ob Männlein oder Weiblein. Selbst die, die Aufsehen erregen, dürften sich angesprochen fühlen, weil diese eben auch die subjektive Meinung aus ihrer Sicht vertreten, nicht genügend aufzufallen. Man hat schließlich immer etwas an sich selbst zu bemäkeln. Jeder vertritt grundsätzlich die Ansicht, der andere hat etwas, was man selbst nicht hat, weshalb man mit sich selbst und der Wirkung auf andere unzufrieden sein muß, eben ein Nobody in dieser Kategorie.

Das einzige, was ich am Text noch ergänzen würde, wäre der absolute Schlußsatz, und zwar: "Ich bin Nobody."
 

KESCH

Mitglied
Hallo, blaustrumpf!

Das gefällt mir! Das ist fast so gut wie perfekt!

Ein wahrer Spiegel für "Otto Normalverbraucher" in alltäglicher Umgebung. Schätze, so fühlen sich die meisten, ob Männlein oder Weiblein. Selbst die, die Aufsehen erregen, dürften sich angesprochen fühlen, weil diese eben auch die subjektive Meinung aus ihrer Sicht vertreten, nicht genügend aufzufallen. Man hat schließlich immer etwas an sich selbst zu bemäkeln. Jeder vertritt grundsätzlich die Ansicht, der andere hat etwas, was man selbst nicht hat, weshalb man mit sich selbst und der Wirkung auf andere unzufrieden sein muß, eben ein Nobody in dieser Kategorie.

Das einzige, was ich am Text noch ergänzen würde, wäre der absolute Schlußsatz, und zwar:
"Ich bin Nobody."
 

blaustrumpf

Mitglied
Hallo, KESCH

Danke für deine Beschäftigung mit diesem Text, dein Lob und deinen Rat.

Ich muss zugeben, dass mir der aktuelle Schlusssatz meines Textes doch besser gefällt, als das Fazit, das du vorschlägst. Meine Protagonistin hat ja nicht das Gefühl (ein) Nobody zu sein. Wenn du dich an den Film mit Terence Hill und Henry Fonda erinnerst, wirst du dich vielleicht daran erinnern, dass auch der, der behauptet "Mein Name ist Nobody" alles andere ist als eben ein Nobody.

Wenn ich also deinem Vorschlag folge, gerät - zumindest in meinen Augen - der Text aus dem Gleichgewicht, weil die Eingangsbehauptung ("Wie der Westernheld") nicht mehr stimmt. Für mich sind hier emotionale Balance sowie Gleichgewicht zwischen Assoziationen und "Geschildertem" neben dem Formalkram (Rechtschreibung, Zeichensetzung, Grammatik) eben auch wichtig.

In meinen Augen passt die resignative Aussage "Ich bin Nobody" nicht zum Stimmungsgehalt des Textes. Meine Protagonistin ist nicht zufrieden damit, immer nur Wald und nie Wild zu sein. Vielleicht wäre es besser für sie, wenn sie eine Försterin und keine Jägerin begehrte. Aber anscheinend ist sie noch nicht so weit, sich oder ihr Begehren umzustellen. Vielleicht wird das auch nie etwas.

Ich danke dir also noch einmal für deinen abändernden Vorschlag, setze ihn aber nicht um.

Schöne Grüße von blaustrumpf
 



 
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