Mein Urgroßvater

4,00 Stern(e) 3 Bewertungen

Andi

Mitglied
Mein Urgroßvater
Wie gern hätte ich ihn kennen gelernt! Ich glaube, ich hätte ihn gemocht. Er stammte aus einfachen Verhältnissen. Seine Eltern konnten es sich nicht leisten, ihn zu einer höheren Schule gehen zu lassen. Doch was für eine Persönlichkeit! Mein Urgroßvater war ein freier Mann. Er liebte feines Essen, edle Weine, das Meer, Geschichten und Musik. Vor allem aber liebte er Gesellschaft. Je mehr Menschen er um sich scharte, umso besser. Seine eigene Familie bestand aus zehn Personen. Er lebte nicht nur mit seiner Frau und seiner unverheirateten Schwester zusammen, sondern hatte außerdem sechs Söhne und eine Tochter. Doch sein Bedarf an menschlicher Nähe war damit bei weitem nicht gedeckt. Besonders Fremde zogen ihn an, weckten seine Neugier. Vorurteile kannte er nicht. Auf dem einzigen Foto, das ich von ihm besitze, strahlen die dunklen Augen des großen, schlanken Mannes vor Lebenslust. Lachfältchen zieren Mund- sowie Augenwinkel, eine dunkle Mähne üppiger Locken schmückt sein Haupt. Sein Charme soll unwiderstehlich gewesen sein. Dies alles ist vielleicht nichts Ungewöhnliches. Erstaunlicherweise aber gelang es meinem Urgroßvater, alle diese Eigenschaften und Leidenschaften auf glücklichste mit seinem Beruf zu vereinen. Dieser mit der Gunst der Götter so großzügig bedachte Mensch war nämlich von Beruf Hotelier. Sein Hotel lag in Wilhelmshaven. Das prächtige Bauwerk mit Türmchen und Erkern galt als erstes Haus am Platze. Jedes Mal, wenn der deutsche Kaiser vor dem ersten Weltkrieg die Flotte inspizierte, nahm er mit Vergnügen bei meinem Großvater Quartier. Natürlich war das Hotel viel bescheidener als große Häuser in Berlin, Paris oder Wien. Aber Stammgäste genossen die entspannte, fast familiäre Atmosphäre, die gediegene Einrichtung, die vorzügliche Küche mit täglich frischem Fisch direkt aus der Nordsee und die exzellenten Weine. Mein Uropa repräsentierte das Hotel. Er ließ es sich nicht nehmen, jeden Gast zu begrüßen und zu verabschieden. Außerdem kümmerte er sich um den Einkauf. Meine Urgroßmutter wachte über den Betriebsablauf. Sie leitete die Tätigkeit der Zimmermädchen, Kellner und Köche. Klein, rundlich, jedoch quicklebendig hatte sie ihre Augen und Ohren überall. Ihr entging nichts. Von morgens bis abends mit dem Hotel beschäftigt, blieb den Großeltern kaum noch Zeit oder Energie für die Erziehung ihrer Kinder. Die Kinder liefen einfach so mit. Manchmal mussten sie aushelfen, aber im Großen und Ganzen genossen sie ihr freies Leben. Von ihrem Vater hatten sie eine Yacht geschenkt bekommen, mit der vor allem mein Großvater, seine Brüder und deren Freundinnen auf dem Jadebusen oder zu einer der ostfriesischen Inseln segelten. Hatten sie schulfrei, kamen sie oft erst nach Tagen zurück, denn sie konnten an Bord kochen und schlafen. Keiner kontrollierte, was sie dort sonst noch so trieben.
Mein Urgroßvater stand jeden Morgen um sechs Uhr auf. Dann ging er - außer im Winter - in der Nordsee baden. Nach dem Frühstück begab er sich in seinen Rosengarten. In dieser Zeit räumten die Kellner die Frühstückstische ab und schoben sie zu einer großen Tafel zusammen. Mittags residierte mein Urgroßvater am Kopfende der table d’hôte, unterhielt die Gäste und achtete zugleich darauf, dass sie gut versorgt wurden. Er soll ein brillanter Geschichtenerzähler gewesen sein. Zu jener Zeit hatte ein Hotelier offenbar ähnliche Verpflichtungen wie heutzutage der Kapitän eines Kreuzfahrtschiffes beim Galadiner. Nicht weit von ihrem Mann arbeitete meine Urgroßmutter. Im Erdgeschoss des Hauses lagen die Küche und der Haupteingang. Von dort führte ein breiter, marmorner Treppenaufgang in die erste Etage, wo sich der Speisesaal befand. Am Ende dieses Treppenaufgangs hatte sie sich eine kleine Rezeption eingerichtet. Dort saß sie, stickte, schrieb Rechnungen, führte die Bücher, händigte Zimmerschlüssel aus, gab Auskunft oder guten Rat. Die Gäste mussten, egal, wohin sie wollten, auf ihr Zimmer, ins Restaurant oder nach draußen, immer an ihr vorbei, das Hotelpersonal ebenso. Während der Hauptmahlzeiten kontrollierte sie die an ihr vorbei flitzenden Tabletts der Ober: War alles tadellos angerichtet? Außerdem spitzte sie die Ohren, um sich den Kommentar der Gäste zum Essen nicht entgehen zu lassen. Äußerte ein Gast seinen Unmut darüber, dass ihm das Essen immer noch nicht serviert worden war, dann eilte meine Urgroßmutter - klapp, klapp, klapp - in ihren Holzpantinen die Marmortreppe hinunter zur Küche. Dort mahnte sie den Chefkoch zur Eile. Der nahm ein Kilo Butter und warf es in die Glut. Die hoch schlagenden Flammen beschleunigten den Kochvorgang. Die Speisen wurden nämlich auf einem mit Holz betriebenen Herd zubereitet, dessen Temperatur nicht so ohne weiteres, wie bei einem modernen Gas- oder Elektroherd reguliert werden konnte.
Nach dem Essen führte mein Urgroßvater die Gäste in seinen Rosengarten oder zeigte ihnen den Hafen. Am Abend wurden die Tische auf den ganzen Speisesaal verteilt. Mein Urgroßvater aß mit seiner Familie. Erst nach dem Essen gesellte er sich wieder zu seinen Gästen. Legere gekleidet zog er, mit einem Weinglas in der Hand von Tisch zu Tisch. Hier fragte er nach dem werten Befinden, dort plauderte er ein wenig. Zu späterer Stunde sang er mit seiner vollen, warmen Stimme Kunstlieder, wobei ihn seine Frau am Flügel begleitete.
Für die Gäste, die keinen Wein tranken, gab es einen Tresen, an dem Bier vom Fass ausgeschenkt wurde. Die Schwester meines Urgroßvaters, genannt `Tant Sofie´ trank gern am Abend ein Gläschen Bier. Da dieses nicht berechnet zu werden brauchte, holten es ihre Neffen einfach vom Tresen und brachten es ihr. Von ihrem Stammplatz an der Rezeption aus hörte meine Urgroßmutter eines Abends, wie einer ihrer Söhne nach dem anderen vom Schankkellner „ein Glas Bier für Tant Sofie“ verlangte. Das kam ihr verdächtig vor. Gerade noch rechtzeitig schritt sie ein, um ein Trinkgelage der Jungen zu verhindern.
Mein Urgroßvater importierte seine Weine aus Frankreich, wobei ihn später einer seiner Söhne unterstützte. Eines Tages wurden mehrere Kisten weißen Bordeauxs geliefert. Der Urgroßvater verkostete den Wein und reichte seinem Sohn das Glas mit der Bemerkung: „Schmeckt nach `m Proppen!“ Einig darin, dass sie den Wein den Hotelgästen nicht zumuten konnten, beschlossen sie, ihn der Kirche als Messwein zu stiften. Da sie die Kirche nur selten betraten, schon gar nicht am Abendmahl teilnahmen, glaubten sie, sich des bitteren Tropfens auf diese Weise endgültig entledigt zu haben. Die Tochter meiner Urgroßeltern, Lise, hatte leider nicht das angenehme Äußere ihres Vaters geerbt. Außerdem musste sie sich ständig gegen ihre sechs Brüder behaupten, die sie liebten, aber auch hänselten. „Lise, Lise, keiner will se, kam der Koch und nahm se doch!“ stichelten sie. Tatsächlich schreckten die Männer vor der für die damalige Zeit emanzipierten jungen Dame zurück, die vor dem anderen Geschlecht nicht den geringsten Respekt hatte. Die Söhne verließen nach und nach ihr Elternhaus. Mein Großvater arbeitete als Schiffsarzt auf hoher See, ein Bruder hatte eine Weinhandlung in Bordaux eröffnet, ein anderer eine Kaffeeplantage in Brasilien. Doch alle kehrten so oft wie möglich zu ihren Eltern und zu ihrer unverheirateten Schwester in das Hotel zurück, um es sich dort gut gehen zu lassen. Als nach vielen Jahren wieder einmal die ganze Familie zu Weihnachten in Wilhelmshaven versammelt war, stürmte Lise herein und brüllte: „Ich hab’ einen, ich hab’ einen!“ Verdattert fragten sie ihre Brüder: „Wen oder was für einen hast du denn?“ „Einen Mann!“ schrie Lise begeistert. Der Mann stellte sich nicht als Koch, sondern als Sohn des Pfarrers heraus. Da die sonst in der Welt verstreute Familie gerade anwesend war, und Lise sich ihren Fang schleunigst sichern wollte, beschloss man, noch in den gleichen Weihnachtsferien die Verlobung zu feiern. Der Pfarrer und sein Sohn waren einverstanden. Der Verlobungsempfang fand in der Wohnung des Pfarrers statt. Mein Urgroßvater stand neben seinem Sohn, dem Weinhändler. Nachdem sie mit einem Glas Weißwein auf das Glück der Verlobten angestoßen hatten, zwinkerten sie sich zu. „Schmeckt immer noch nach ´m Proppen.“ raunte der Sohn seinem Vater ins Ohr.
Noch jahrelang musste mein Urgroßvater für seine milde Gabe an die Kirche büßen. Immer dann nämlich, wenn er bei den Schwiegereltern seiner Tochter ein Glas Weißwein angeboten bekam.
 

huwawa

Mitglied
hallo andi

eine hübsche geschichte, die du ohne ausschweifendes pathos, aber doch detailgenau, mit kurzen prägnanten sätzen erzählst.

etwas ist mir aufgefallen:
Auf dem einzigen Foto, [red](was)[/red] [blue]das[/blue] ich von ihm besitze,..

liebe grüße
huwawa
 

Andi

Mitglied
Hallo huwawa,
danke für deinen freundlichen Beitrag und die kleine Korrektur, die ich prompt ausgeführt habe.
Liebe Grüße, Andi
 



 
Oben Unten